Diesmal war es schmerzlos, in den Strom der Zeit einzutauchen. Caspar spürte weder ein Ziehen im Magen, noch die vertraute Übelkeit. Es war eher, als würde er unter Wasser dahin gleiten, in einem stillen See mit Körpertemperatur, in dem er atmen konnte. Alles war golden, allerdings durchzogen Schattierungen das Licht, so, wie Sonnenstrahlen unter eine Wasseroberfläche drangen. Mal war das Licht er gelblich, mal beinahe orange, mit allen Farbtönen von Kronblumen zu Mandarine, von Sonnenlicht zu Kupfer, von Zitronen zu der Farbe von Katzenaugen.
Es war hier auch nicht still. Es ertönte ein fernes Rauschen, unbestimmt. Es könnte Meeresrauschen sein oder eine Melodie, doch es war immer ein wenig anders, ein wenig zu fremdartig, um es genau fassen zu können.
Caspar trieb schwerelos durch den Strom. Seine Gedanken waren träge und erschöpft. Für viele Atemzüge hielt er einfach die Augen offen. Oder hatte er sie geschlossen? Es war schwer zu sagen.
Hier existierte keine Zeit. Nicht so, wie sie für alle anderen existierte jedenfalls. Und so verstrichen nur Atemzüge und Gedanken, bis Caspar sich daran erinnerte, dass sie wieder aus dem Strom heraus mussten.
Er war noch nie wirklich gesprungen, kannte die Zeitreisen nur aus den Erzählungen seines Vaters. Dennoch wusste er, dass man sich auf den Ort und die Zeit konzentrieren musste, die man erreichen wollte.
Ihm fiel nur ein Ort ein. Also konzentrierte er sich darauf, so stark, dass sein Kopf zu schmerzen begann.
Jemand klopfte ihm auf die Schulter: „Cas. Cas, alles gut?“
Er öffnete die Augen und starrte in Janes breites, besorgtes Gesicht. Einen Moment war er verwirrt, denn Jane war kein Mädchen mehr. Sie war jetzt auf Augenhöhe, ihr Gesicht war länglicher geworden, doch es bestand kein Zweifel daran, dass es sie war.
Er blinzelte und sah sich um. Sie waren bereits gelandet, ohne, dass er es mitbekommen hatte.
Jane grinste: „Du bist gut!“
„Danke“, sagte Caspar noch ganz verwirrt. Er merkte, dass er auf dem Boden hockte und Jane neben ihm kniete. Langsam stand er auf und musste feststellen, dass seine Beine und Arme sehr viel länger geworden waren. Als er auf den Boden sah, überkam ihn leichter Schwindel. Auch Jane war jetzt wieder ein ganzes Stück entfernt.
Er drehte sich um und entdeckte Liam, der sich umsah, und ebenso Daria, die noch bewusstlos auf dem Boden lag.
Etwas ungeschickt stelzte Caspar zu seinem Vater: „Geht es dir gut?“
Er war erschrocken, als er die tiefen Falten und die grauen Haare seines Vaters sah. Zuvor waren sie nicht so extrem gewesen.
Caspar schluckte. Wie lange hatten sie sich im Strom der Zeit aufgehalten?
„Alles gut“, sagte Liam und musterte Caspar neugierig: „Bist du gesprungen?“
Caspar nickte und spielte nervös an seinen Fingern. Sogar seine Hände hatten sich verändert und waren kräftiger, jedenfalls die Rechte. Die Linke sah, wenn das möglich war, noch verkrüppelter aus.
„Nicht schlecht“, sagte Liam zerstreut und ging zu Daria, um ihre Vitalfunktionen zu überprüfen. Caspar stand ein paar Schritte hinter seinem Vater und knetete seine Finger. Die Wunde an Liams Seite war mit getrocknetem Blut verklebt, aber offenbar geheilt. Nur manchmal sah Caspar, wie Liam bei einer Bewegung das Gesicht verzog.
Schließlich ließ Liam von Daria ab: „Es geht ihr gut, soweit. Sie sollte bald aufwachen.“
Caspar stieß die Luft aus. Er hatte nicht einmal gemerkt, dass er sie angehalten hatte. Irritiert bemerkte er, dass er jetzt auf seinen Vater herab sah. Er überragte Liam um einen halben Kopf.
„Derjenige, der durch die Zeit springt, altert immer am Schnellsten“, erklärte Liam, ohne dass Caspar eine Frage stellen musste. Sein Vater ließ sich mit einem Seufzen auf einem der weißen Findlinge nieder: „Ich bin froh, dass du uns hierhin gebracht hast.“
Sie waren zurück im Karbon. Ihre kleine Hütte aus Palmwedeln und Ästen stand noch auf dem Felsen, der von den warmen Quellen umgeben war. Als Liam seine Maske aufsetzte, zog auch Caspar seinen Holzaffen heraus und streifte ihn über sein Gesicht. Die Maske war ihm so vertraut, dass er sie kaum noch spürte. Das ging so weit, dass er sich müde die Affenstirn rieb und erst nach einer ganzen Weile merkte, dass seine Finger seine Stirn nicht berührten.
Er setzte sich zu seinem Vater. Jane blieb stehen. Nach dem Kampf war die Friedlichkeit hier beinahe unwirklich. Die drei Papilionis saßen nebeneinander und schwiegen einträchtig, bis sich Daria wenig später regte.
„Wo sind wir?“, fragte sie. Liam, der seine Maske wieder abgezogen hatte, half ihr, sich langsam aufzusetzen.
„Wir sind im Karbon“, erklärte er ruhig. Daria sah sich um. Ihr Blick blieb für einen Moment an Caspar und Jane hängen.
„Was ist geschehen?“, fragte sie.
„Wir haben das Nest der Blatta angegriffen.“
„Das weiß ich noch“, sagte Daria und stand langsam auf: „Sie hatten uns umkreist, und wir sind durch die Tür, oder? Trotz der Falle, weil wir im Inneren sicher gewesen wären.“
„Genau“, sagte Liam: „Du wurdest am Kopf getroffen. Ich habe dich auf's Dach getragen.“
Daria bemerkte das trockene Blut an seiner Seite und berührte die Stelle: „Oh Gott, Liam, geht es dir gut?“
„Ja“, sagte er und drückte ihre Hand weg: „Es war eigentlich nur ein Kratzer. Naja, und eine gebrochene Rippe, aber da kann man wenig tun.“
Daria nickte, dann sagte sie: „Es war eine blöde Idee.“
„Sie sind intelligenter geworden“, bestätigte Liam: „Aber das konnten wir nicht wissen.“
Er half Daria, sich auf die Steine zu setzen. Aber schon beim Zusehen schien die Frau neue Kraft zu gewinnen. Sie setzte ihre eigene Maske nicht auf, sondern musterte Caspar von Kopf bis Fuß.
„Du bist groß geworden!“
Caspar trat unruhig von einem Fuß auf den anderen.
„Komm, zieh die Maske ab! Lass dich ansehen!“, sagte Daria.
Nervös befolgte Caspar den Befehl und wand sich unter Darias prüfendem Blick. Sie grinste stolz wie eine Mutter: „Du siehst gut aus. Liam, du musst ihm zeigen, wie man sich rasiert!“
Jetzt musste Caspar doch lächeln. Er hatte sich auf seinen ersten Bart gefreut. Es überraschte ihn nur, wie schnell das alles über ihn kam.
Jetzt betrachtete Daria auch Jane und zog sie sogar begeistert in eine Umarmung: „So eine wunderschöne, junge Frau.“
Caspars Stolz wurde ein wenig gedämpft. Obwohl Jane zweifelsfrei eine junge Frau war, konnte man sie kaum schön nennen. Sie war zu kräftig, zu männlich, mit ihrer dunklen Haut und den verfilzten Haaren wirkte sie zu dreckig. Ihm fiel auf, dass ihre Haare nicht länger waren als vor dem Zeitsprung. Wuchsen unterschiedliche Teile ihres Körpers etwa nicht im Zeitstrom? Auch seine Fingernägel waren nicht so lang, wie sie es nach vielen Jahren ohne Schneiden sein müssten. In gewisser Weise war das sehr praktisch.
Er fragte Liam danach, während sie ihre alte Hütte untersuchten, um herauszufinden, in welcher Zeit sie genau gelandet waren.
„Es ist so, dass alles, was einmal geschnitten wurde, nicht weiter wächst“, erklärte Liam: „Überhaupt nicht.“
„Wow“, sagte Caspar und fuhr sich durch die Haare: „Ich sitze mit dieser Frisur fest?“
Liam lachte und nickte: „Frag mich mal. Das Einzige, was noch wächst, wird dein Bart sein. Und … gewisse andere Stellen.“
Caspar wurde auf der Stelle rot. Sein Vater klopfte ihm auf den Rücken: „Damit musst du leben. Aber ich rate dir, überlege dir gut, was du rasiert und was nicht, ja?“
Caspar nickte und kaute auf seiner Unterlippe. War das Karbon schon immer so warm gewesen?
Sie richteten sich wieder ein. Caspar war zu einem Zeitpunkt gesprungen, wo sie etwa zwei Wochen hier gelebt hatten. Sie trafen nicht auf ihre früheren Ichs, was Liam ihnen zu erklären versuchte. Da sie außerhalb der Zeit standen, blieben sie nicht in der Zeit, wenn sie in den Zeitstrom sprangen. Caspar stellte es sich so vor, dass alles gespeichert wurde, nur eben nicht die Papilionis. Allerdings alles, was sie getan hatten, was jetzt von Vorteil für sie war, denn sie hatten Unterschlupf und eine Eidechsenzucht.
Auch der Zeitkern wartete in der Hütte wie ein Hündchen und piepte freudig, als Liam ihn aufnahm.
Es war verlockend, einfach wieder hier einzuziehen, nur eben ohne Dakuri und Lydia. Einige Tage lang taten die Papilionis, als wäre genau das ihr Plan. Caspar ging Schwimmen, half Daria beim Zubereiten der Mahlzeiten, während Jane mit Liam jagte, und verbrachte einige sehr peinliche Stunden mit Liam, der ihm einiges über Bienen und Blumen zu erklären hatte.
Doch sie wussten, dass es nicht für immer sein konnte. Die Blatta überrannten alle Zeiten, und die Aufgabe der Papilionis war es, sie aufzuhalten.
Liam unterrichtete Caspar und Jane gezielt für diese Aufgabe, jeden Abend, wenn sie um ein kleines Feuer saßen und mit ihrem Fleisch kämpften, das so zäh war, dass es einen eigenen Willen zu haben schien.
„Sind eigentlich alle Blatta … verkrüppelt?“, fragte Caspar. Er hatte Schwierigkeit, das Wort tatsächlich zu benutzen.
Sein Vater nickte: „Das hat tatsächlich einen Grund.“
Caspar und Jane setzten sich auf.
Liam schluckte einen Bissen Fleisch herunter: „Wenn wir durch die Zeit reisen, altern unsere Körper proportional zu der Zeitspanne, die wir im Strom verbringen. Aber die Blatta sind nicht dafür adaptiert. Ihre Körper altern anders, jedes Körperteil für sich, jede Zelle für sich. Deswegen kommen ihre seltsamen Formen zustande.“
„Und Arachnid und die anderen? Ich glaube nicht, dass sich das mit Altern erklären lässt!“, fragte Caspar nach.
Liam saugte an seiner Oberlippe: „Das wissen wir auch nicht so genau. Ich vermute, dass sie eine Art Energieschlag erfahren, wenn sie einen Papilionis töten und dessen Kraft aufnehmen.“
„Und das deformiert sie“, fügte Daria hinzu.
„Gerechte Strafe“, knurrte Jane grimmig.
„Aber wie funktioniert das? Ich meine, was verbindet sie mit der Energie der Papilionis?“, fragte Caspar.
Liam legte den Kopf leicht schief: „Lass es mich so sagen: Sie verletzten uns. Das schafft eine Verbindung. In den nächsten Stunden – nicht in der richtigen Zeit, sondern Memento-Stunden – kann einer von drei Fällen eintreten: Wenn der Papilionis überlebt, geschieht nichts. Irgendwann löst sich die Verbindung auf. Wenn der Blatta getötet wird, ist es egal, ob der Papilionis stirbt. Aber wenn der Papilionis direkt an den Wunden des Blatta stirbt, besteht die Verbindung noch.“
„Und dann entsteht ein Super-Blatta?“, fragte Caspar.
„Wenn du sie so nennen willst ...“, sagte Liam.
Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
„Wann gehen wir zurück?“, fragte Daria zwei Tage später, als die Sonne gerade über der stillen Welt unterging. In Momenten wie diesen vermisste Caspar das Gezwitscher von Vögeln.
Liam seufzte: „Bald. Ich denke, die Kinder sind bereit.“
Caspar nickte leicht, in dem Wissen, dass Niemand zu ihm herüber sah. Er saß ein Stück außerhalb der kleinen Hütte. Sie waren bereit.
„Wir werden aber keine Nester mehr angreifen“, sagte Liam.
Caspar hörte Daria lachen. Es klang nicht zu 100 Prozent fröhlich.
„Nein, wirklich nicht“, sagte die Frau.
„Wir müssen wohl einen Guerilla-Krieg beginnen“, seufzte Liam.
„Wir schaffen das“, sagte Daria sanft. Caspar wandte sich jetzt doch um, um die beiden Erwachsenen zu betrachten. Daria lächelte seinen Vater ermutigend an. Aber Caspar konnte sehen, dass sie sich beide fürchteten.
Es lag eine scheinbar unmögliche Aufgabe vor ihnen.
Caspar merkte, wie sein Mut sank. Er war bereit. Er konnte nicht kämpfen, aber er würde eben sein Bestes tun. Er konnte es ja niemals lernen.
Als er sich wieder zurück drehte, hüpfte Jane in sein Sichtfeld. Sie jagte die flinken Eidechsen, die die Ansammlung von Felsen umgaben, wie ein kleines Kind. Caspar schnaubte abfällig, bevor ihm einfiel, dass Jane ja geistig noch ein Kind war. Er musste sich erst noch daran gewöhnen, plötzlich so viel älter zu sein. Und nun sollten sie schon wieder reisen.
„Es wird hart werden“, sagte Liam hinter ihm.
„Wir brauchen nur einen guten Plan.“
„Das klingt, als hättest du einen.“
Caspar horchte auf.
Daria brauchte einen Moment, um auf die Frage seines Vaters zu antworten: „Vielleicht.“
„Vielleicht? Was hast du, Daria?“
„Nun, wir könnten uns überlegen, dass wir uns durch die Zeiten kämpfen, statt zu springen.“
Caspar drehte sich noch rechtzeitig um, um zu sehen, wie Liam die Stirn furchte: „Wie stellst du dir das vor?“
„Wir springen nicht, denn das würde die Aufmerksamkeit der Blatta wecken. Stattdessen suchen wir uns einen Ort – am besten das Zeittor im Stonehenge – und warten dort einfach auf die Blatta. Wir töten alle, die dorthin kommen. Wenn wir eine bestimmte Zeit erreichen, springen wir zurück in die Vergangenheit und an einen anderen Ort.“
„Das könnte Jahre dauern!“, protestierte Liam.
„Nein. Es wird Jahrhunderte dauern“, sagte Daria: „Aber es ist sicher. Wir können uns im Stonehenge verschanzen.“
Liam zog die Stirn noch tiefer in Falten: „Sagen wir mal, ich wäre bereit, Jahrtausende damit zuzubringen, gegen die Blatta zu kämpfen. Wieso wissen wir, dass sie uns nicht überrennen oder komplett meiden?“
„Das wissen wir nicht“, sagte Daria mit fester Stimme: „Aber in dem Fall können wir immer noch springen.“
„Ich finde, es klingt gut“, sagte Caspar leise. Beide Erwachsene drehten sich zu ihm um, als hätte es sie überrascht, dass er noch da war.
Der überrumpelte Ausdruck verschwand schnell aus ihren Gesichtern.
„Ich meine, wir dürfen keine Risiken mehr eingehen“, erklärte Caspar: „Ich finde es gut, was Daria sagt.“
Daria stieß Liam leicht an und grinste: „Dein Sohn stimmt mir zu. Macht zwei gegen einen.“
„Ich auch da!“, beschwerte sich eine Stimme. Caspar drehte sich um und sah Jane, die auf sie zu stampfte, das Gesicht gerötet von der Jagd. Sie sah nicht aus, als hätte sie etwas erwischt.
„Und was sagst du?“, fragte Liam: „Sollen wir uns im Stonehenge verstecken und auf die Blatta warten, oder einen schnelleren Plan wählen?“
Es dauerte eine Weile, bis sie Jane erklärt hatten, was genau Darias Plan war. Jane, die inzwischen neben Caspar stand, warf ihm einen Blick zu, bevor sie sagte: „Finde ich auch gut.“
Liam warf gespielt die Hände in die Luft: „Ich bin geschlagen.“
Daria lachte, aber wieder klang es nicht wirklich ausgelassen.
Sie alle spürten, wie Dakuri und Lydia ihnen fehlten. Und dass vielleicht der Tod auf sie wartete, wenn sie aufbrachen.
Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
Sie landeten im Stonehenge. Caspar wartete, bis das fiese Ziehen im Magen abgeklungen war, das den Sprung jetzt wieder begleitet hatte. Offenbar schmerzte die Reise, wenn er nicht selbstständig sprang. Er rieb sich den Bauch und sah sich um.
Daria und Liam hatten ihre Waffen bereits gezückt. Jane trug einen Knüppel in der Hand. Caspar besaß nur eine Handvoll Steine, mit denen er werfen könnte.
Es war still.
Sie standen auf weiten, grünen Wiesen. Es gab noch keine Steine, denn die Zeit der Menschen hatte gerade erst begonnen. Wenn es überhaupt noch Menschen gab, die nicht den Blatta zum Opfer gefallen waren.
Daria kreiste den Regenschirm in der Hand. Liam hatte die eben gesäuberte Schrotflinte angelegt.
Die Stille war unheimlich. Caspar spürte ein Kribbeln.
Sie waren nicht alleine. Da war er sich so sicher, als könnte er die Blatta wirklich spüren. Er fing Janes Blick auf und wusste sofort, dass sie ähnlich empfand.
„Da hinten ist Bewegung“, zischte Daria und deutete auf einige weit entfernte Gestalten.
Caspar merkte, wie sein Herz schneller schlug. Er hatte Angst. Und zum ersten Mal schämte er sich für diese Angst. Er war jetzt kein Kind mehr, obwohl er nicht die Lebenserfahrung eines Jugendlichen hatte. Trotzdem hatte er Dinge gesehen und erlebt, die sich Niemand in seinem Alter vorstellen könnte – was auch immer sein Alter war.
Langsam begriff er, was es bedeutete, außerhalb der Zeit zu stehen.
Die Gestalten kamen näher, aber bald war eines klar: Sie waren nicht deformiert.
„Es sind Menschen!“, rief Daria überrascht aus.
Die Papilionis senkten die Waffen und beobachteten die Gruppe, die sie ebenfalls bemerkt hatte und auf sie zuhielt. Es waren viele Personen, förmlich eine Armee. Caspar schaffte es nicht, darüber erleichtert zu sein, dass es keine Blatta waren. Menschen könnten ihnen ebenfalls gefährlich werden.
Die Menschen wurden besser erkennbar, je näher sie kamen. Sie trugen keine Waffen bei sich, und ihre Kleidung wirkte schon aus der Ferne mehr wie Lumpen. Vermutlich würden sie sie eher um Hilfe bitten. Caspar sah, wie Liam und Daria Blicke tauschten.
Dann erstarrte Daria plötzlich und packte Liams Arm so fest, dass Caspars Vater zusammenzuckte.
„Das sind keine Menschen!“, fluchte sie und zog ihren Regenschirm.
„Was?“, fragte Liam. Die Gruppe war bis auf vielleicht hundert Meter heran. Dann fluchte auch Liam: „Scheiße! Das sind Tinea!“
Caspar brauchte einen Moment, um den Namen einzuordnen. Tinea. Die andere Art an Motten, die Wahnsinnigen.
Liam lud seine Schrotflinte und schoss. Die Tinea kreischten auf.
Bis eben hatte sich die Gruppe langsam genähert, jetzt fielen die Wesen urplötzlich in einen Sprint. Angesichts der Armee, die auf sie zu stürmte, wichen die Papilionis zurück. Caspar stolperte, aber Jane packte wie immer seine Hand und hielt ihn aufrecht. Auch Liam und Daria rannten los, und die beiden Kinder folgten ihnen stolpernd.
Schon waren die Tinea überall. Sie waren erschreckend schnell, und ihre Wut und Aggression war noch erschreckender. Jane schlug mit ihrem Knüppel um sich. Caspar schlug und kratzte und trat in ihrem Rücken. Die Tinea waren überall. Seinen Vater und Daria konnte Caspar nicht mehr sehen.
Er schlug in Panik um sich. Zu seinem Glück wich Jane ihm nicht von der Seite. Ohne sie wäre er hilflos überrannt worden. Doch das Mädchen behielt ihre eigenen Gegner und seine im Auge. Caspar musste sich nur in ihrer Nähe halten und nicht direkt in einen Angriff stolpern.
Sie waren eingekreist.
„Vater?“, rief Caspar über das Kreischen der Tinea: „Paps?“
„Caspar!“, ertönte Liams Bass irgendwo: „Hierher!“
Caspar fasste Janes Schulter und zog sie in die Richtung, aus der Liams Stimme gekommen war. Fingernägel zerkratzten seine Haut. Er hörte einen spitzen Schrei, der von Daria stammen musste.
Jane knurrte und schlug nach einem anderen Tinea.
„Müssen springen!“, rief das Mädchen.
„Nicht ohne Liam und Daria!“, beharrte Caspar. Wie sollten sie einander sonst wieder finden? Er wollte nicht von seinem Vater getrennt werden.
Irgendwo ertönte ein Schuss. Caspar drehte den Kopf in die Richtung.
Da sah er etwas, das zwei der Tinea trugen: Einen unförmigen, schwarzen Kasten.
„Der Zeitkern!“, rief er aus.
Über die Köpfe der auf sie eindringenden Blatta sah er für einen Moment Liams Gesicht. Aufgeregt deutete Caspar auf den Zeitkern, doch er wusste nicht, ob sein Vater ihn verstanden hatte.
Zwei Schritte später stand er plötzlich direkt neben Liam, der ihn an der Schulter packte: „Caspar! Wo ist Jane?“
Das Mädchen tauchte hinter Caspar auf.
„Wo ist Daria?“, fragte Caspar. Jemand packte seinen Ellbogen, doch sowohl Jane als auch Liam schlugen auf den Blatta ein und befreiten Caspar.
„Wir müssen sie suchen“, sagte Liam.
„Der Zeitkern!“, fiel es Caspar wieder ein und er deutete auf die Tinea, die den Kasten trugen: „Die Tinea haben den Zeitkern!“
„Verdammt!“, fluchte Liam: „Was wollen sie damit?“
Er hob die Schrotflinte.
„Springt ins Karbon. Wir kommen nach!“, befahl er ihnen.
Jane griff nach Caspars Hand. Liam legte die Waffe an und zielte.
Caspar spürte das Ziehen im Bauch, als Jane springen wollte. Im gleichen Moment krachte der Schuss.
Und dann geschah etwas Seltsames.
Die Welt erstarrte. Alle Tinea froren ein, als die Zeit selbst anhielt. Caspar starrte in das Gesicht seines Vaters, der zu einer Statue geworden war.
Dann sah er den Zeitkern, von einem Splitter des Schrots getroffen. Feine Linien durchzogen den ebenmäßigen Kasten. Noch während Caspar darauf starrte, zersplitterte der Zeitkern in unzählige, winzige Splitter, feiner als Staub. Der Zeitkern war alles, was sich bewegte.
Der Zeitkern – und Caspar und Jane.
„Was?“, fragte Jane.
Mit offenem Mund starrten die Kinder in die eingefrorene Welt. Es gab keine Geräusche mehr. Nichts rührte sich.
Caspar berührte den Arm seines Vaters: „Paps?“
Liam rührte sich nicht.
Caspar und Jane tauschten einen entsetzten Blick.
Die Zeit war zerbrochen.
Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
Midilog: Verpuppung
Winter. Verpuppung. Die Welt friert ein, das Leben hält den Atem an.
Im Schlaf, in der Stille, die dem Tod gleich kommt, geschieht das Wunder. Raupen wachsen Flügel. Aus toten Pflanzen erwächst neues Leben. Der Tod ist Teil des Lebens. Er ist nötig für einen Neuanfang, so wie man die Nacht für einen neuen Tag braucht.
Aber was, wenn der Winter zu hart ist? Kann sich das Leben davon erholen, kann ein neuer Frühling folgen?
Oder wird diese Puppe zu einem Sarg werden, bevor der Schmetterling schlüpft?
Es braucht viel Glück, damit ein Schmetterling fliegen kann. Und viel zu viele entfalten ihre Flügel nie.