Die Zuwegung nach Weiher, aus ihrem Dorf kommend, war nicht die spannendste noch erholsamste. Man vermochte über die beinahe weidenartige Landschaft weithin blicken. Dort, wo sie nunmehr fuhren, sollte es Erzählungen nach, einst überall bewaldet gewesen sein. Unzähliges Wild, welches verschlungene wie enge Pfade, seiner Wege lief. Heute blieb von diesem damaligen Zeugnis noch ein kleiner Restbestand an Wäldern hier und da.
Jene Routen, welche auf direktestem Wege zu den größeren Städten führten, blieben oftmals bespurt. Egal wie oft diese Rinnen auch befüllt wurden, bedingt der zumeist üppig beladenen Fuhrwerke, machten diese die steten Mühen der Arbeiter immer wieder zu Nichte. Es schien dem Rat der Krone offensichtlich nicht bedeutend genug diese Strecken langfristig zu befestigen. Es handelte sich ja nur um Waren von außerhalb, die hierauf transportiert wurden. Des Königs erwählte Hauptstadt vermochte sich im Notfall weitestgehend selber versorgen.
Das Umland mochte zuvor unberührt erscheinen, doch war es dies sicherlich nie. Anschein, ja, das trifft es hierbei am ehesten. Auch wenn ihre Vorfahren, Flüchtende allesamt, Fuß auf dieses unbetrübte wie unbekannte Land setzten, gab es immer etwas, das unlängst vor ihnen da war. Arryn war durch Vikkas Erzählungen umfassend darüber im Bilde, dass bereits lange vor dem ersten Anstranden, Menschen auf Qedrela lebten. Die Einheimischen von damals waren einfach. Wenn überhaupt gekleidet, dann mit einem schlichten Lendenschutz. Nicht mehr als ein Stück Fell oder grob gewebter Leinen.
Anfänglich trieben sie mit den Neuankömmlingen Handel. Nach ihren Maßstäben und bereitwillig. Halfen sogar über die ersten wie schwierigen Zeiten hinweg. Errichteten gemeinsam Hütten und Häuser für die neuen Ankömmlinge. Schlugen Holz und brachten ihre Felder aus.
Zwischenmenschliche Grenzen beider Völker schmolzen dahin und banden sich in Bälde zu einem. Blut mischte sich mit Blut. Vermeintliche Unterschiede in Haut-, Augen- und Haarfarbe, ergaben sich zu einem völlig normalen Bildnis. Ihr Bewusstsein richtete sich nicht mehr nur nach deinem oder meinem. Alles gebar zu einem unser und verhalf dem Volke zu einer neuen Ära.
Nach und nach eroberten die Menschen das Umland und begannen zu nehmen, was sie für ihre Ausdehnung benötigten. Die Anzahl derer Köpfe zählte von Jahr zu Jahr stetig mehr. Ihre Vermehrung schien unaufhaltsam.
Sie schlugen Holz und Stein zum Bauen. Bedurften Platz allen voran. Die Menschen wussten von Anfang an sich zu nehmen, was ihnen von Rechtswegen nicht gehörte oder zustand. Sie nahmen, was dargeboten, so auch, wenn sie es gar nicht brauchten.
Jedwedes Dorf, in welchem Einheimische lebten, schloss sich ihnen über kurz oder lang an. Die übrigen zogen mit den ihren tiefer ins Landesinnere. Wohl wissend, das selbst dieses eine Grenze offenbarte, die sie nicht überschreiten durften.
»Arryn. Ich freue mich sehr, dass du vieles von Qedrelas Vergangenheit behalten und erzählen kannst aber ...«
Verlegen schaut der Junge zu seinen Füßen. »Ich mag diese Zeit. Die Ankunft der Flüchtenden und was sie schufen.« Er hob seine zierlichen Hände und drehte sie erst zur einen, dann zur anderen Seite. Aufmunternd sah er zu seinem Großvater auf. »Einfach mit denen hier.«
Ighert legte seine Rechte auf die Schulter seines Enkels und klopfte mit den Fingern darauf. »Ja, durchaus. Es war sicherlich interessant, wenn auch mühsam. All diese Höfe, Dörfer, ja sogar Städte, entstanden jedoch nicht von jetzt auf gleich.«
»Das weiß ich doch. Aber ...«, begann er aufzubegehren und warf dabei die Hände Hilfe suchend in die Höhe.
»Aber?«
Der Junge schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Ich mag nicht, was danach kam.«
»Verstehe.« Ighert verzog wissend die Mundwinkel. Eine Braue zuckte. Das tat sie immer, wenn er sich an etwas erinnerte.
»Ich weiß, dass Menschen sind, wie sie sind, aber ... warum kämpfen sie? Untereinander ... miteinander sogar gegeneinander?«
»So manchesmal frage ich mich wirklich, wie es kommt, dass du so sprichst, wie du sprichst, Arryn.«
»Häh? Wie spreche ich denn?«
Ighert lachte und schüttelte belustigt den Kopf. »Nicht wie gerade eben.«
»Mach dich nicht lustig über mich, das ist gemein. Ich bin ein Kind«, stellte er nüchtern fest und empfang einen heftigen Klopfer auf den Rücken, der ihn beinahe vornüber warf, als der Karren eine hervorstehende Wurzel passierte.
»Hoppla, bleib sitzen«, Ighert lachte erneut und sichtlich amüsiert.
»Großvater?«
Angesprochener gluckste, versuchte sich dennoch zusammenzureißen. »Ja Arryn?«
»Sind die Menschen wirklich so? Ich meine, dass sie einander ...«
»Töten?« Schlagartig wurde Igherts Mine eisern. Jeglicher Schalk stahl sich aus dessen Zügen. Er nickte indes. »Das und noch vieles mehr. Ich bete darum, dass du dies niemals miterleben wirst.«
»Hast ...«
»Erzähl mir, was du über die Kriege nach dem Krieg weißt, Arryn. Weiher ist nicht mehr weit«, unterbrach er ihn. Wissend, dass die ausbleibende Frage zu nichts Gutem geführt hätte.
Der Junge schluckte und drang nicht näher in seinen Großvater ein. Etwas schien ihn unrecht, also gehorchte er und gab wieder, was er von den vielen Erzählungen an den abendlichen Feuern aufgeschnappt und behalten hatte.
Die Fahrt auf dem Bock verlief weiterhin ohne Vorkommnisse - wie immer. Ighert würde den Weg vermutlich blind lenken können. Mehr noch genoss er die Anwesenheit seines Enkels, dem er lauschte und innerlich aufs Neue betete, dass er solch kriegerische Zeiten niemals erleben müsse.
Er beobachtete den Jungen aus dem Augenwinkel. Jedwedes Wort stach wie feinste Nadelspitzen in seinem Nacken. Das Medaillon kribbelte auf seiner Brust. Immer dann, wenn es das tat, lasteten seine Erinnerungen schwer. Wandel stand bevor. Trotz inständiger Verdrängung vermochte er es zu spüren. Eines fernen Tages, so mochte es geschehen, doch noch nicht heute und auch nicht in Wochen gar Monaten.
»Großvater, denkst du wieder über den bevorstehenden Auftrag nach?«
Eine kleine, noch junge Hand knuffte ihn in die Seite. »Ich weiß, ich soll nicht widersprechen, aber du hörst mir nicht einmal zu, wenn ich schon von Dingen reden soll, die mir nicht gefallen.« Energisch und aus der Nase schnaubend, stampfte er mit dem rechten Fuß gegen den Bock. »Och Großvater!«
Angesprochener sah aus müden Augen zu ihm nieder. Schwer atmete er ein und aus. Seine Zunge benetzte seine trocken gewordenen Lippen, als er begann, Arryns Haar zu zerwuseln. »Verzeih einem alten Mann. Ich war in Gedanken. Wo warst du stehen geblieben?«
»Alter Mann. tzz. Dass ich nicht lache.«
»Nein Arryn. Ich muss mich wahrlich entschuldigen. Ich bat dich von den Anfängen der Kriege zu sprechen und höre dir nicht einmal mehr zu. Es tut mir leid.«
»Mmh.«
Ighert reichte ihm eine Linke. In der Rechten hielt er die Zügel. »Friede?«
Der Junge schien zu überlegen. Er wippte den Kopf und zuckte mit der Schulter. »Hm, na gut. Weil du es bist und ich dich lieb habe.« Stürmisch umarmte er ihn und bekam die Träne, die Ighert über die Wange lief nicht mit.
»Großvater?«
»Arryn?«
»Warum bekriegen sich die Menschen? Ich meine, sie kamen doch als Flüchtende nach Qedrela. Kaum hat sich das Volk erholt, zogen sie die Waffen und bekriegten sich untereinander.«
»Es ist immer dasselbe, Arryn. Immerfort geht es um Macht und Einfluss. Kaum das der eine neidisch genug auf den Reichtum eines anderen ist, werden die Klingen gewetzt. Ist ein weiterer zu klein, zu unbedeutend oder scheint schwach, wird dieser unterjocht und muss sein Knie beugen.«
»War es so, als die ersten Kriege begannen und sich das Volk trennte?«
Arryn spürte mehr ein zustimmendes Nicken, als das er ein deutliches ›Ja‹ heraushörte. »Ich weiß es nicht, noch war ich dabei, aber vermutlich wird es so gewesen sein. Gewissermaßen verhielten sich ausreichend Leute uneins und teilten verschiedene Ansichten. Die drei ersten gegründeten Städte waren einander weit genug entfernt, dass sie beschlossen fortan getrennte Wege zu gehen.«
»Die Geburtsstunde der drei Königsländer.«
»Ja, da hast du Recht, mein Junge.« Sein Kopf hob sich und mit der Linken beschattete er seine Augen. Seine Hand wies voraus. »Schau. Da vorn liegt Weiher.«