Arryn bekam den Mund nicht wieder zu. Erstaunt, der Größe wegen, sah er von links nach rechts ... und hinauf. Soweit sein Blick reichte, sah er die umschützende Mauer der Stadt. Der Königsstadt ihres Landes.
Weitläufige Felder zu beiden Seiten des Weges waren ihre steten Begleiter. Beginnend des Sees, der denselben Namen trug, wie jener Ort, den sie ansteuerten, machten sich erste größere Gehöfte und Wohnhäuser breit. Selbst die Zuwegung für schwer beladene Fuhrwerke schien entsprechend befestigt.
Je näher sie diesem riesigen Gewerk kamen, desto enger drängten sich die Häuser aneinander. Man könnte meinen, dass es sich hierbei um eine Stadt vor der Stadt handle.
»Großvater? Ist auf der anderen Seite der Mauer kein Platz mehr zum Wohnen?«
»Ach Arryn. Glaube mir, wenn ich dir sage, dass es dort noch einiges an Raum gäbe. Es ist den Leuten daran gelegen, vor dieser Mauer zu leben.«
»Verstehe ich nicht. Ist es denn dahinter nicht viel sicherer?«
»Zweifelsfrei, mein Junge. Dass hier ...« Ighert hob bedeutend die Arme, so als wolle er einen jeden umarmen. »Ich meine, dieser Vorort. Das ist wahre Geschichte. Die unsrige. Die des Landes. Genau an diesem Ort, an diesem See, erschufen die Flüchtenden mithilfe der Eingeborenen, ihr eigenes und erstes wahres Zuhause.« Ighert war nicht auf vieles Stolz, was die Menschen Qedrelas anging. Dennoch gab es Ereignisse, derer er mit erhobener Brust wiederzugeben bereit war. Jener Moment schien eben einer von solchen zu sein.
Die Augen des Jungen weiteten sich der Erkenntnis wegen. »Die erste Stadt«, hauchte er leise, nahezu ehrfürchtend. Sein Blick für das Wesentliche entrückte der Zeit. Er versuchte zu sehen, was die Bewohner von einst gesehen haben mussten. Ein Lächeln legte sich über seine Züge. »Der See.«
»Der See?« Ighert vermochte ihm nicht zu folgen, war er doch selber ganz in Gedanken.
»Großvater. Im See schwimmen Fische. Die Leute hatten hier Essen und zu trinken. Es gab Wasser für die Tiere und Felder. Das Meer ist auch nicht weit entfernt und früher gab es hier viel mehr Bäume. Würde ich eine Stadt bauen wollen, ich wäre auch hier hergegangen.«
Respektvoll nickte der Mann zu seiner Seite und drückte ihm anerkennend die Schulter. Wie so fort lächelte er. »Immer wieder muss ich mich daran erinnern, dass du doch erst acht Sommer gesehen haben sollst. So mancher Mann wäre gut beraten, sich ein Beispiel an dir zu nehmen.«
»Ich passe eben gut auf«, strahlte Arryn seine Freude mit breitem Grinsen hervor.
»Ja mein Junge. Du bist etwas ganz Besonderes und es ist mir ein Vergnügen dich an meiner Seite zu haben und über dich wachen zu dürfen.«
»Wie meinst du das? Wie wachst du denn über mich?«
Ighert besann sich und schien ... eigenartig ... erschrocken. »Verzeih«, verbesserte er sich sodann. »Ich meine, dass ich dein Großvater sein darf und du mein Enkel.«
Sie fuhren langsamer und ringsherum schwollen Laute an. Ein Schatten warf sich über sie und verdeckte die Sonnenstrahlen, als auch bei Zeiten nahezu den Himmel. Sie kamen der Mauer und somit dem Nordtor näher. Nun würde es nicht mehr lange dauern.
»Großvater?« Arryn stupste ihn an.
Angesprochener lupfte eine Braue, als er den fragenden Blick sah.
»Die Mauer ist schief. Sie stürzt doch nicht über uns ein?«
Ighert sah hinauf. Breite Grübchen zeichneten sich ab, als er ihm eines seiner erwärmenden lächeln schenkte. »Nun bist du wieder mein kleiner achtjähriger Junge«, freute er sich und wuschelte ihm das Haar. »Nein, Arryn. Diese Wälle werden nicht über uns einbrechen. Sie wurden einst gefertigt ...«
»He da. Wohin des Weges«, wurden beide in ihrer Unterhaltung unterbrochen, was dem Jungen ein Naserümpfen einbrachte. Er behielt für sich, was er augenblicklich darüber dachte und empfand. Zuhause würde das böse auf die Finger geben.
Sein Großvater zog gelassen eine Nachricht aus der Seitentasche des Karrens und hielt sie vor. Ein gebrochenes Siegel aus Wachs haftete daran und der Wachposten schien sich unsicher. Er musterte beide mit wachem Blick, besah das Siegel und atmete tief durch. Die Schrift darauf war nicht allzu groß, dafür sauber und offensichtlich führte die Feder eine geschickte Hand. Der Wachmann sah abermals auf. »Wartet hier«, befahl er, ohne das Schreiben zurückzugeben.
»Bekommen wir Ärger«, erkundigte sich Arryn neugierig.
»Mach dir keine Sorgen. Er wird nachfragen wollen, ob wir das Seitentor nutzen dürfen.«
»Dann sind wir wichtig?«
Ighert konnte sein Schmunzeln nicht verbergen. »Nicht mehr als die Übrigen hier auch, mein Junge.«
»Aber ...«
»Wir werden erwartet, andere nicht.«
Der Wachposten, der die beiden anhielt und nach ihrer Begehr erkundigte, blieb nicht untätig. Er kam zurück und Arryn beschlich ein unwohles Gefühl.
Fünf weitere Soldaten begleiteten diesen. Allesamt mit finsterem Blick. Umstehende wichen mürrisch aber gehorsam, als vier der Bewaffneten ihre mitgeführten Lanzen quer hielten und die Menschen zurückdrängten. Sie schufen eine freie Zufahrt.
»Zum Kuckuck. Seit wann kommt der Knochen zum Hund«, bellte ein breitschultriger Soldat, der auf ihren Karren zuhielt. Mit ausladenden Schritten war dieser heran. Hände wie Pranken ergriffen den Bock und zogen den massigen Körper auf das Steigeisen. Der starre wie mürrische Blick wich freundlichen Zügen. Dessen Stirn legte sich in Falten, als der Mann fragend die Brauen hob. »Ich höre?«
»Baltha, alter Freund.« Ighert wollte ihn sichtlich umarmen, als er sich besann und stattdessen die Zügel fahrenließ, um ihm die Hand zu reichen. Er hatte dessen Rangabzeichen gesehen. Kleine Fältchen bildeten sich unter seine Augen. »Lange ist's her.« Arryn wusste, dass Falten etwas für alte Leute sind, aber diese bedeuteten ihm, dass seinem Großvater eine Erinnerung ins Gedächtnis kam.
Besagter Soldat erwiderte den Handschlag. »Ja, alter Freund. Lange, viel zu lange ist es her. Mittlerweile bin ich seit Jahren schon Hauptmann der Nordwache. Und nicht nur das. Mir untersteht der gesamte Nordwall«, brüstete sich selbiger, der Arryns Großvater gut zu kennen schien. Schüchternen Blickes wusste der Junge nicht, wie ihm geschah und so nestelte er mit den Fingern und schabte mit den Füßen.
»Dein Enkel ist groß geworden.«
»Kunststück. Er ist schließlich in den Jahren ebenso gealtert. Er ist bereits Acht.«
Sichtlich besorgt musterte dieser Baltha erst ihn, dann wieder Ighert.
»Acht«, lamentierte der Hauptmann. »Acht vergangene lange Jahre, und du hast dich in dieser Zeit, um nicht eines verändert.«
»Oh, das habe ich. Vielleicht nicht sichtlich aber glaube mir, die Spuren der Jahreswenden haben auch mich nicht übersehen.«
Baltha musterte seinen alten Freund und schnaubte. »Damals hieltest du Aniyah im Arm, als sie ...«
»Nicht«, beschwor Ighert ihn.
»Den tot meines Vaters beweinte?« Arryn sah auf und in seinem Blick lag etwas Wissendes. Hauptmann Baltha vermochte es nicht zu benennen. Der Junge war doch erst acht Jahre alt. Er widersprach jedoch nicht.
»Du warst noch in ihrem Leib, als sie Tag ein, Tag aus unten an den Docks stand.«
»Seid mir nicht böse Herr Hauptmann, aber ich weiß um die Geschichte. Ich kann nicht über jemanden traurig sein, den ich nicht kennen gelernt habe.«
An Ighert gewandt hob er abermals die Brauen. »Erst Acht ja?«
Er erhielt keine direkte Antwort, nur ein verschmitztes Grinsen. »Diese Jahre meinte ich.« Baltha schien beruhigt und lachte freudig. Er zog sich in Gänze hinauf und drängte sich zwischen die beiden auf die Bank. »Nun, dann glaube ich, dass der Junge auch zuhören darf.«