Gemeinsam auf dem Bock sitzend, ergriff Ighert erneut die Zügel und schnalzte. Der Braune hob den Kopf und wieherte. Nur Shalti verhielt sich wie eh und je. Sichtlich uninteressiert begab sie sich ins Geschirr. Die beiden Pferde konnten unterschiedlicher nicht sein. Abgesehen von seinem Enkel, blieb die Stute Igherts gesamter Stolz. Sie war weder ein Zug- noch Lastenpferd, ertrug ihre Aufgabe aber sichtlich zufrieden. Eines Tages würde Arryn auf ihr reiten und wer weiß, worin ihrer beider Abenteuer liegen mag.
Das Seitentor öffnete sich und Arryn vernahm leise Gespräche von Umstehenden, wer sie wohl seien. Es kam nicht häufig vor, dass Soldaten eine Spur frei hielten, um einen Karren hindurchzuführen. Dazu begleitet vom Hauptmann der Wache selbst, der oben aufsaß. Dieser unterhielt sich zudem mit dem Lenker; einem Gealterten, wenngleich kräftigen Mann in Begleitung eines Jünglings.
»Alter Freund.« Er sprach leise und mit bedacht. Arryn schien es seltsam, dass dieser Baltha mit ihnen das kurze Stückchen fuhr. Was verband die Zwei? »Weiher hat sich verändert. Der König hat sich ... verändert.«
Ighert runzelte die Stirn, sah stur geradeaus. Würdigte dem Gesagten keines Blickes, so als wolle er nicht auffallen. Die momentan unliebsame Aufmerksamkeit war ihm deutlich anzumerken. »Verändert?«
»Eigentümliche Dinge geschehen. Erlasse, welche uns zugesprochen wurden, werden von Fremden befolgt und durchgesetzt. Männer wie Frauen tragen mir nicht bekannte Wämser. Ighert, es verschwinden Leute. Du solltest nicht hier sein.« Seine Hand legte sich auf Arryns Knie. »Schon gar nicht mit dem Jungen.«
»Leute verschwinden.« So wie Arryns Großvater diese zwei Worte lamentierte, klang es, als sei diese Erkenntnis nicht sonderlich von Interesse. »Das tun sie doch seit jeher. Erst sind sie hier, dann mal dort, um später ganz wo anders wieder aufzutauchen«, brummte der Bogner sorgenfrei. Es war nicht seine Wortwahl, die Arryn besorgt dreinschauen ließ. Es war eher ... wie er es ausdrückte. Interessierte er sich denn gar nicht für die Belange rings um ihn herum? Der Junge wollte sich nicht vorstellen, dass es so einfach sein sollte. Niemand ging so ohne ein Wort darüber zu verlieren davon.
»Da magst du in gewissem Sinne richtig liegen. Dennoch. Ich bin schon zu lange an Mauer und Tor, als dass ich bereit bin, es als einfach stehen zu lassen.«
»Baltha. Mein guter alter Freund Baltha. Stets der Besorgte, nicht wahr?«
Arryn konnte nicht anders. Was es auch war, die Zwei verband mehr, als nur eine alte Freundschaft. Er würde so gern einhaken und eine Frage, nach der nächsten stellen. Es brannte ihm förmlich auf der Zunge. Den nötigen Respekt hingegen, zurückzuhalten, sobald sich Ältere untereinander unterhielten, verbat ihm den Mund. Sein Großvater legte größtmöglichen Wert auf Zurückhaltung. Seiner Ansicht nach war es stets anständiger, hinzuhören, was andere aussprechen. Danach und allen voran erst dann, wenn man in dieses Gespräch eingeladen wurde, sollte man seine Meinung offenbaren. Die Kunst darin sei jedoch darin bestimmt, diese so darzulegen, dass sich beide Parteien nicht persönlich angesprochen fühlten. Er nannte es ... Vorbild. Arryn nahm sich fest vor ausschließlich zu lauschen. Sein eigenes Urteil würde er nach bestem Wissen und Gewissen abwägen und seinem Großvater später eröffnen. Was ein spannendes Abenteuer. Arryn freute sich auf mehr. Auf viel mehr.
Der Junge bekam gar nicht mit, dass der Hauptmann ihn schweigend beobachtete, spürte nur eine innere, aufkeimende Unruhe. Wachsam schielte er nach rechts. Ausgenommen des einen Soldaten, den sie gerade passierten, war nichts Auffälliges ersichtlich. Ein hölzerner, mit armdicken Streben, befestigter Zaun, geleitete sie nunmehr auf die letzten Meter zum Nebentor. Zu seiner linken hingegen bemerkte er den fragenden Blick.
»Du warst noch nicht in Weiher?«
»Nein, Baltha, war er nicht«, antwortete Ighert anstatt seines Enkels. Dessen Mund stand in Erwartung einer Erwiderung offen, besann sich jedoch und schüttelte verlegen den Kopf.
»Er hat gerade einmal acht Sommer gesehen. Die Abende des Ruhens, der Erholung und der Instandsetzung, erlebt Arryn in seinem ersten Jahr tatkräftig mit. Die Zeit der Besinnung und der Familie verbringt er zwischen zwei Dörfern.«
Was hat die Zwei auseinandergebracht? Zweifelsfrei. Etwas verband beide in tiefer alter Freundschaft. Aber dennoch. Das, was sie einst zusammenführte, klaffte ein anderes Ereignis auseinander. So hatte er seinen Großvater noch nie erlebt. Interessant. Spannend.
Baltha atmete schwer, deutlich hörbar. Ihm lag etwas auf den Schultern, deren Last er offenkundig teilen wollte. Aus welchem Grunde sein Großvater darauf nicht einging, schien ihm eigenartig. Er war doch sonst immer ein Verfechter der gerechten Sache. Bestrebt es jedem Recht zu machen. Was wusste der Junge denn von seinem Großvater, bei dem er so manches, wenn nicht gar vieles, seiner Zeit verbrachte? Der ihn aufzog, beibrachte zu unterscheiden, was richtig und verkehrt war? Ihm sein Handwerk zeigte? Wer war dieser Mann, bevor seine Mutter ihn austrug? Im Grunde wusste Arryn kaum etwas von seiner Bezugsperson. Er nickte in Gedanken und nahm sich vor, ihn bei nächster Gelegenheit einfach zu fragen. Jeder Mensch hat doch eine Vergangenheit, oder?