Immer wieder drehte er sich herum. Weshalb beschlichen sich ihm solche Sorgen? Seine Anweisungen waren konkret und duldeten keinerlei Zuwiderhandlungen. Nein, daran gab es wenig zu zweifeln und das der Junge sich unanständig verhalte ... absurd. Dennoch. Irgendetwas passte ihm nicht. Da war noch etwas. Etwas anderes. Das Medaillon würde ihm nicht dermaßen schwer auf der Brust liegen, wäre dem nicht so. Ihm war, als würden sie beobachtet und das, seit Baltha sie durch dieses vermaledeite Seitentor wies.
Sie befanden sich in Weiher. Der Hauptstadt Hewes und somit der Königsstadt. Eine Stadt wie diese war halt nicht sein Dorf, welches gerade einmal etwas über dreihundert Köpfe zählte. Alles schien hier schnelllebiger, lauter und aufdringlicher - belebter eben. Man sah und wurde gesehen. Ja, genau. So und nicht anders musste es sein.
Mit diesen Gedanken im Hinterkopf straffte er die Schultern. Er beschattete mit der einen Hand seine Augen und hielt mit der Anderen ein abwärtsführendes Geländer. Würde man ihn fragen, aus welchem Grunde er diesen Weg zu den Docks wählte, er könne es nicht einmal sinngemäß erklären.
Diese abseits befindlichen Treppen nutzten zumeist nur jene, welche sich aus verwegenen Umständen lieber ungesehen bewegten. Natürlich war es kein Weg der Zwielichtigen, Diebe oder generell solcher von Gesetzesbrechern. In der Mehrzahl der Fälle blieben diesseits der Straßen Tagelöhner und auf den Plateau lebende anzutreffen. Ighert konnte es verstehen. Die serpentinartigen Trassen verfügten jeweils über ihre eignen Tücken, die es zu meistern galt. Zählte man die unterste Fläche mit, jener, auf welcher wahre Betriebsamkeit einem unkoordinierten Durcheinander glich, mussten drei von Hand geschlagene Ebenen überwunden werden, bevor der erste Fuß die eigentliche, bestehende Stadtfläche betrat. Man hatte halt abzuwägen. Gedränge und stetes Ausweichen oder stures Stufensteigen. Anstrengend blieben beide Varianten.
Weit reichte der Blick über das offene Meer hinaus. Vereinzelt tanzten Fischerboote auf den seichten Wellen, doch anderweitig war dort draußen nichts als der Horizont. Idyllisch, wäre er gekommen, um die Aussicht zu genießen. Arryn hätte seine Freude daran, soviel sei sicher. Wer weiß schon, vielleicht blieb seine Unruhe unbegründet und sein Auftrag wie angenommen ehrbar. Der Junge würde all dies sehen.
Mittlerweile kam er ohne sichtliche Bedenken auf dem vorletzten Plateau an. Auf diesem ließen sich die meisten Handwerksbetriebe nieder, die in irgendeiner Form etwas mit Bootsbau zu schaffen hatten. Zumindest mit derer Zulieferung und Grundversorgung. Ebenso fand man hier ausquartierte Erzeuger von Lederwaren. Ighert empfand für Männer und Frauen, die diesem Geschäft nachgingen keinerlei Neid. Und das nicht nur, weil die Arbeit schwerlich und zudem schlecht bezahlt war. Ihr Tagwerk stank - auch gegen den Wind. Einmal diesen ammoniakhaltigen Geruch in der Nase ... er schnaubte aus und beschleunigte kopfschüttelnd seine Schritte. »Pisse ...«
Hinter einem, zum trocknen aufgehängten Fischersnetz, verweilte er. Wie in seinen Erinnerungen ...
Bootslasten wurden eiligst gelöscht, damit die frischen Fänge nicht verdarben. Dampfende Pechwannen zum Ausbessern und Instandsetzen von Rümpfen. Umhereilende, Händler mit Bauchläden und Schubkarren. Wachgänger in schwarz gefärbten Wämsern.
Die Stirn des Bogners zuckte. Dort unten, wie an den Mauern und Toren auch, streiften ansonsten die Männer der Wacht und Garde. Allesamt in den Farben des Königs. Lediglich in Besitz befindliche Piere stellten eigene Posten, die gut erkennbare Wimpel trugen.
Mit jedem Wimpernschlag taten die Veränderungen deutlicher in Augenschein, ganz so, als lüfte jemand den Schleicher stets ein Stückchen weiter. Wo damals überwiegend und der Einfachhaber viel Holz verbaut, stachen nunmehr robust erbaute Gebäudestrukturen hervor. Der äußere Pier, der schlicht nur noch dem Wellenbrechen Vorzug hielt. Weiher galt seither als emsig. Beinahe ebenso lange forderten die besser Betuchten wie Piereigner, einen Brandungswall. Der Östliche, jener, der in Richtung Hewe wies, schien bis auf wenige Handgriffe fertig gestellt. Ein Weiterer, so vermochte Ighert zu erkennen, wurde am anderen Ende des Hafens mühsam aufgeschüttet. Woher sie nur das viele Gestein herbekamen?
Der allumgebene Lärm von Betriebsamkeiten überforderte ihn zusehend. Er musste seine eigenen Worte hören. »Wer, wenn nicht Alam wird es wissen?«
Nahezu der gesamte obere Hafenbereich samt Docks und Piers war oder wurde ausgebaut. Maßlose Gewichte an Gestein, Eisen und Erdreich wurden von kräftigen Männern gezogen, geschoben gar getragen. Überall, so kam es ihm vor, arbeitete man emsig an Verbesserungen. Was der König und seine Lakaien hier vorantrieben und an Mitteln ausgaben, würde ihnen womöglich eines Tages ebenso viel einbringen. Ighert schüttelte den Kopf und tat eine Handbewegung als verscheuche er eine lästige Biene. »Blödsinn. Unvorstellbar. Weiher mit seinem König, seinem Rat, ist und bleibt eine Stadt der Weitsicht. Oh, Baltha. Auf was für irrsinnige Gedanken bringst du mich da?«
Tief atmete er mit geschlossenen Augen durch. Besann sich auf dessen er gekommen war. Baltha. Ja, sein alter Freund und mittlerweile Hauptmann der Nordwacht, brachte ihn schon einmal in Gewissenskonflikte. Was ihn hingegen stutzte, war dessen Vehemenz. Der Mann würde sein Leben für Land und König geben. Was hatte ihn so dermaßen aus der Fassung getrieben?
Er sprach von dem Schiff dort.
Von denselben streifenden Wachen und dass Leute verschwanden. Einfach so. Allen voran spurlos verschwindet doch keiner ... oder?
Die schwarz gehaltene Karacke lag friedlich vor Anker. Von seiner Position aus behielt es den Anschein, als würden zwei solcher Schiffe, dereinst den fertig gestellten Hafen so ankernd verschließen könne. Niemand käme mehr ungesehen hinein aber auch nicht heraus. Eine Blockade. Wie dem auch sei, nichts an diesem Schiff deutete auf deren Herkunft. Bis auf ...
»Hey, schdeh nisch rum und nimm die Finger von meinsch.«, schnauzte jemand in tiefem brummenden Tonal.
Ighert hob besonnen die Hände. Er drehte sich, sodass der Nahende ihn vollends sah und seine friedfertige Absicht erkannte. Schließlich trug er keine Waffen bei sich. »Verzeihung. Ich habe nur das Schiff und den neuen Hafen bestaunt.«
»Ay. Kommsch wohl nisch von hier, wa?«
Anstatt zu antworten, schüttelte der Bogner den Kopf.
»Mmh. Auschm Dorf. Wasch maschn hier? Nisch zu dun? Ich weisch. Bisch neuschierisch, wa?«
»Das Schiff.« Ighert deutete mit dem Daumen seiner rechten Hand zurück. »Da unten im Hafen. Es ist hübsch.«
»Ja, nesch. würdsch och nehm«, grinste er nahezu zahnlos. »Gam scho vor Monaten an. Schübsch wa?«
»Ja, sehr hübsch«, bestätigte Ighert.
»Kannst du mir sagen, woher sie kamen?«
»Näh, kannsch nisch. Isch hübsch, näh.«
»Ja, das ist es in der Tat.« Er klopfte dem Fischer die Schulter. »Ich geh mal runter und frage nach.«
»Oh. Ja masch dasch. Sasch bescheid, wennsche misch brauschen, näh?«
Ighert lächelte und grüßte freundlich, als er zu der abwärts führenden Treppe ging. Glücklicherweise war diese nicht weit von seiner aktuellen Position entfernt.