Ich versteckte mich.
Ich schämte mich, aber ich hatte so furchtbare Angst. Ich sollte doch kämpfen! Ich sollte irgendetwas tun, um ihnen zu helfen ... doch ich konnte nicht. Alles in mir war erstarrt und ich wagte es kaum, durch die Schlitze meines Versteckes zu spähen. Was hätte ich auch sehen können, was ich nicht bereits kannte?
Sie waren da.
Sie waren eingefallen in unser Dorf. Dabei hatten alle gesagt, wir wären sicher hier. Doch jetzt waren fast alle tot ... Gefressen von diesen Viechern, in Stücke gerissen, schreiend, sterbend.
Und ich zitterte in meinem Versteck wie ein Feigling ...
Nihal erwachte und sah sich orientierungslos um. Wo war sie? Sie blickte an die Decke eines einfachen und schmucklosen Zimmers. Ach ja richtig ... Sie war im Garden.
Die Soldaten hatten ihr Dorf gesäubert. Die Viecher abgeschlachtet und die wenigen Überlebenden geborgen.
Die Männer hatten sie in ihrem Versteck kauernd gefunden und mitgenommen. Und jetzt lag sie in einem Krankenzimmer im Garden, der letzten Allumfassenden Akademie der Menschheit.
Es gab nur noch wenige Flecken auf der Erde, an denen die Menschen leben konnten nach der Invasion. An jedem anderen Ort wurde man gefressen. Sie waren Beute für diese Dinger.
Und niemand wusste, wo sie hergekommen waren. Einige meinten, es waren Aliens, die diesen Planeten als Futterreservoir verwenden wollten. Andere vermuteten, dass irgendwelche verrückten Wissenschaftler diese Wesen gezüchtet und letztlich die Kontrolle verloren hatten.
Jedenfalls wurden es einfach immer mehr, sie wuchsen und sie lernten. Und sie machten Jagd. Auf jeden Menschen, jeden Mann, Frau und Kind.
Nihal spürte heiße Tränen in ihrem Augen und wischte sie wütend weg. Auch ihre Familie … und sie hatte nichts getan. Sie hatte sich in einem Schrank versteckt und mitangehört, wie ihr Vater zerrissen worden war und wie ihre Mutter gefleht hatte, man möge sie und Nihals kleinen Bruder verschonen.
Doch diese Wesen verstanden die menschliche Sprache nicht, verstanden Gefühle nicht und kannten kein Erbarmen, wenn es darum ging, genügend Nahrung zu kriegen. Sie sammelten Beute, Fleisch, und fütterten ihre Nachkommen damit. Kleine Biester, die noch bösartiger und verfressener waren als die ausgewachsenen Exemplare.
Das Mädchen setzte sich auf und strich sich die dunklen Haare aus dem Gesicht. Ihre Kleidung war zerschlissen und schmutzig, doch sie entdeckte auf einem Stuhl neben sich einen khakifarbenen und sehr zweckmäßigen, aber sauberen Armee-Overall. Müde stand sie auf und schälte sich aus den letzten Überresten ihres alten Lebens.
Ihre Familie war ausgelöscht. Sie war allein.
Und sie wollte ihre Schuld begleichen. Niemals wieder wollte sie weglaufen und sich verstecken wie ein Kind! Sie wollte kämpfen und diese Viecher bis auf die letzte Larve ausrotten.
„Deckung!“
Kentin brüllte über den Platz und eine Übungsgranate detonierte. Staub bedeckte die Rekruten und jeder schützte seine Augen oder seinen Kopf. Überall explodierten Gegenstände und man hörte Geschützfeuer aus Übungskanonen und Maschinengewehren.
Wie jeden Tag trainierten die jungen Rekruten den Ernstfall. Einen Einsatz außerhalb der geschützten Zone. Eine Vernichtungsmission. Das war die Aufgabe der Soldaten, die ausgebildet wurden, um den Wesen auf den Leib zu rücken. Mit allen erdenklichen Waffen.
Denn die Krabbler, wie die Rekruten die Viecher nannten, waren nicht sehr robust. Aber sie waren schnell und stark. Das war es, was sie gefährlich machte. Und es waren viele. Verdammt viele.
Die Leitung des Gardens, welche mit dem Kampf gegen die Invasoren betraut war, bildete seit Generationen die Soldaten aus, die die Überlebenden beschützten. Doch so viele jedes Jahr ausgebildet wurden, so viele gingen auch drauf. Und die Menschen wurden derweil immer weniger.
Denn noch immer gab es versprengte Siedlungen, in denen die Leute sich verschanzten und zu überleben versuchten, bis die Soldaten des Gardens ihnen zu Hilfe kommen konnten.
Und noch immer starben diese Menschen täglich, wenn ganze Herden der Wesen über diese kleinen Widerstandsnester herfielen.
Wieder detonierte eine Übungsgranate und der Anführer der Trainingsgruppe, der neunzehnjährige Kentin, duckte sich. Er zog seine Waffe und schoss auf die in den Trümmern auftauchenden Schießscheiben, die er alle direkt in der Mitte traf.
„Die Übung ist abgeschlossen. Die Rekruten verlassen bitte das Feld für die nächste Gruppe.“
Die unsichtbare Stimme des Ansagers hallte durch den Staub des Trümmerfeldes und die jungen Leute erhoben sich aus den losen Steinen, dem Staub und dem gesplitterten Holz der getroffenen Ziele.
Kentin rubbelte sich den Schmutz aus den Haaren, nahm sein Gewehr und machte sich auf den Weg zum Ausgang.
„Gut gemacht, McCormac. Eine Trefferquote von 98 Prozent.“
„Danke Sergeant. Aber das ist nicht genug ... die zwei Prozent könnten mir oder jemand anderem den Kopf kosten.“
Mit hartem Blick nahm der Junge sich eine Wasserflasche und schmiss sich im Pausenraum auf einen Stuhl. Der ältere Mann sah ihm nach und schüttelte leicht den Kopf.
Sie alle hatten schreckliche Erfahrungen seit der Invasion gemacht und viel Leid gesehen, doch es überraschte ihn immer wieder, dass es gerade die ganz jungen Burschen waren, die die dicksten Eier hatten. Und dieser hier, Kentin, war besonders ehrgeizig und fand an allem und an jedem etwas auszusetzen. Die anderen Soldaten und Rekruten mochten ihn nicht. Er war ihnen zu glatt, zu perfektionistisch, zu kalt.
Doch man konnte sich auf ihn verlassen. Er riskierte in jeder Außenmission seinen Arsch für die Menschen und die Soldaten an seiner Seite. Warum er im Garden war, wusste jedoch niemand so genau. Eines Tages war er vor den Toren aufgetaucht, ein kleiner Junge, halb verhungert, voller Schrammen und Kratzer, verletzt, verängstigt und stumm, wenn man ihn fragte, was geschehen war.
Doch der Sergeant konnte es sich denken. In der Sicherheitszone gab es viele Waisenkinder wie ihn.
Die Wesen verschmähten Kinder häufig, wenn sie zu jung waren. Man konnte nur vermuten, dass sie die Kleinen für nicht fleischhaltig genug hielten. Vielleicht war es aber auch etwas anders, wer wusste das schon …
Kentin hatte lange gebraucht, um sich in der neuen Gemeinschaft einzuleben und wollte schon sehr früh das Soldatenhandwerk erlernen. Mit nicht einmal ganz zehn Jahren konnte er bereits schießen und war mittlerweile einer der besten Scharfschützen, die der Garden hatte.
Beliebt hin oder her, aber dieser Junge hatte schon vielen der Männer das Leben gerettet.
Nihal seufzte, als sie der Frau folgte, die die Neuankömmlinge zusammenrief und begrüßte. Es waren wenige, zu wenige aus dem Dorf des Mädchens übrig geblieben.
Sie war betrübt zu sehen, dass kaum einer von denen, mit denen sie aufgewachsen war, den Angriff überlebt zu haben schien. Und wenn, waren sie so schwer verletzt worden, dass es fraglich war, ob sie überhaupt überleben würden.
Ein Junge, den Nihal einst gemocht hatte, würde nie wieder gehen können. Er saß in einem Rollstuhl, die Beine dick eingebunden, das Gesicht blass und die einst goldenen Augen farb- und kraftlos. Betrübt nahm das Mädchen neben ihm Platz und griff nach seiner Hand. Er reagierte kaum.
„Nathaniel ...“, hauchte sie, doch sein Kopf zuckte nur ganz leicht.
„Sie kommen nicht wieder ... niemals.“ Er hatte einen Schock erlitten und Nihal hielt seine Hand fest.
„Willkommen in der Sicherheitszone. Ich bedauere, was euch zugestoßen ist.“ Die Garden-Frau betrachtete die wenigen Menschen mit Trauer im Gesicht.
Alle wussten, wie grässlich es draußen außerhalb der hohen Mauern zuging und die, die in der Zone lebten, durchlitten jeden Tag Angst, dass die Tore brechen könnten, dass die Wesen einen Weg finden würden, hineinzugelangen und dass alle das Schicksal derer teilen würden, die es nicht rechtzeitig geschafft hatten. Und die, die vor Jahren in der Zone geboren worden waren, wuchsen auf mit den Horrorgeschichten.
„Ihr alle seid sicher erschöpft und voller Trauer. Hier habt ihr Ruhe und Zeit, eure Wunden zu kurieren. Ihr werdet ein Dach über dem Kopf und Nahrung erhalten und jede starke Hand ist erwünscht, wer zum Schutz unserer Gemeinschaft beitragen will.“
Nihals Blick ging über die Gesichter ihrer Bekannten und Freunde. Niemand von denen sah aus, als würde er je wieder in der Verfassung sein, zu kämpfen.
Nathaniel begann zu schluchzen und Zittern fuhr durch seinen Körper. Das Mädchen drückte seine Hand. Er tat ihr leid. Er teilte ihr Schicksal, hatte mitansehen müssen, wie seine Eltern und seine Schwester bei lebendigem Leibe zerrissen worden waren und das Pech gehabt, den Angriff auf sich selbst zu überleben. Er litt furchtbare Schmerzen und würde den Rest seines Lebens ein Krüppel bleiben.
Sie stand auf. „Wo kann ich mich melden?“, fragte sie mit lauter und kräftiger Stimme. Die Frau sah in ihre Richtung und lächelte freundlich.
„Wenn du dich etwas erholt hast, werde ich dem Sergeant Bescheid sagen und dann kannst du beweisen, dass du helfen kannst. Jede Hand wird gebraucht.“
„Ich bin fit.“ Nihal ballte trotzig die Hände zu Fäusten.
„Das glaube ich. Aber ein, zwei Tage Ruhe und Schlaf sind trotzdem besser.“ Das Mädchen gab sich bockig geschlagen und unterzog sich wie alle anderen einem gründlichen Gesundheitscheck.
Am Abend saß sie ermattet in dem Zimmer, in dem sie aufgewacht war und sah aus dem Fenster.
Die Sicherheitszone war grau und trist, überall liefen Soldaten mit schweren Waffen herum, einige von ihnen trugen sogar Schwerter, weil es nicht unbegrenzt Munition gab. Aber es gab auch so etwas wie Hoffnung inmitten des traurigen Anblicks. So spielten ein paar Kinder mit einem bunten Ball und Lachen schallte zu dem Mädchen hoch.
Ein feines Lächeln schlich sich in ihr Gesicht. Sie hatte auch gern gelacht. Früher, mit ihren Freunden.
Bevor ihr Dorf in das Territorium der Wesen gefallen war und sie begonnen hatten, Jagd auf die Bewohner machten. Bevor sie in dieser Nacht vor zwei Tagen alle starben.
Nihal wollte kämpfen. Sie wollte helfen, diese Viecher von der Welt zu tilgen. Erschöpft lehnte sie sich mit der Stirn an das kühle Glas und schloss die Augen. Was hatte sie denn noch zu verlieren, wenn sie kämpfte und sterben sollte? Es gab niemanden mehr, der sie brauchte.
Ihre Eltern und ihr jüngerer Bruder waren Geschichte und ihr Freund aus Kindertagen ein gebrochener Mensch, der vielleicht nicht einmal überleben würde, weil seine Verletzungen sich immer noch entzünden könnten.
Der Himmel wurde dunkel und sie fühlte sich ausgelaugt und müde. Die Dame hatte Recht gehabt. Es war wirklich keine schlechte Idee gewesen, noch ein wenig auszuspannen.
Morgen würde Nihal dem Sergeant vorgestellt werden, der für die Ausbildung und Rekrutierung der Einheiten zuständig war. Darauf freute sie sich.
Sie wollte nie wieder so schwach sein und sich verstecken müssen, weil sie sich nicht verteidigen konnte. Müde legte sie sich auf das bescheidene Lager.
Der Raum, den man ihr zugeteilt hatte, war in keinster Weise elegant oder luxuriös, aber zweckmäßig. Sie hatte eine kleine Nasszelle mit einer Toilette und einer Dusche, einen schmalen Schrank, ein Bett, Tisch und Stuhl. Ein Zimmer in einer Kaserne eben.
Mit dem Blick aus dem schmalen Fenster fiel sie in einen unruhigen Schlaf.
Kentin reihte sich in die Gruppe der Soldaten ein, als der Sergeant zum Morgenappell antreten ließ. Die Männer blickten den alten Feldherren erwartend an, als der mit einer Gruppe Frischlinge auf dem Exerzierfeld erschien.
Das waren also die Neuen, die glaubten, in die Schutztruppe eintreten zu wollen. Die, die grün hinter den Ohren waren.
Der Junge verzog spöttisch den Mund und hörte dem Sergeant zu, als er die Ankömmlinge vorstellte und darum bat, ihnen das Training zu erleichtern und bei der Ausbildung zu helfen. Schließlich kämpften sie alle für dieselbe Sache.
Ja, und an Kentin und seinen Kameraden hing es dann wieder, ob diese Anfänger überlebten oder nicht. Der Jugendliche entdeckte ein einziges Mädchen in der Gruppe. Sie hatte dunkles Haar und traurige Augen. Aber sie sah genauso leer aus wie die meisten Mädels hier.
Er machte sich nicht viel aus Frauen. Nicht, weil er nicht auf sie stand, doch er hatte einfach kein Glück. Wann immer er sich mit einer einließ, lief es entweder nur auf schnellen Sex hinaus oder sie wurde getötet. Das lag vermutlich daran, weil er eine Schwäche für seine Mit-Soldatinnen hatte. Ken gab es nicht gern zu, aber er stand auf den Military-Look und fand nichts sexier an einer Frau als Armeehosen, Stiefel und ein Tanktop.
Und dieses Mädchen ... sie hatte etwas, das ihn faszinierte. Trotz des traurigen Gesichtes war sie hübsch, irgendwie sinnlich und wirkte trotzdem rebellisch. Das konnte interessant werden.
Aber zuerst einmal musste sie beweisen, dass sie sich nicht wie die meisten Mädchen anstellte, die glaubten, sie würden schon nur durch eine Waffe allein zu einer Soldatin werden.
Der Sergeant ließ die Neuen der Reihe nach antreten und hieß sie an, sich mit lauter Stimme vorzustellen. Kentin starrte konzentriert nach vorn, als das Mädchen dran war.
Ihr Name war Nihal? Ungewöhnlich für eine Frau. Aber es war ein starker Name. Einer, der zu ihrem Gesicht passte.
Die neuen Rekruten wurden in das Team integriert und der Sergeant begann sogleich mit der Ausbildung. Man wollte sehen, was die Anwärter konnten.
Natürlich waren die, die sich zum Sicherheitstrupp meldeten, meist nicht ganz unfähig. Aber Anfänger blieb halt Anfänger. Die Rekruten bekamen jeder eine Übungswaffe mit Farbpatronen in die Hand und man ließ sie auf Ziele schießen.
Kentin, als einer der Gruppenführer, wurde mit der Aufsicht betraut. Er war der beste Schütze und konnte am effektivsten Tipps geben. Während die jungen Leute auf die Ziele schossen, schritt er hinter ihnen entlang und beobachtete sie genauestens.
„Danke. Das reicht erstmal. Mit dieser Leistung seid ihr garantiert nach der ersten Mission bei euren Familien. Ich hab noch nie so viel Unvermögen gesehen. Du!“ Er zeigte auf einen Burschen, vielleicht so alt wie er selbst. „So wie du das Gewehr hältst, ist es ein Wunder, dass du dir noch nicht die Schulter verletzt hast. Du da! Schieß‘ doch noch weiter daneben, dann haben es die Krabbler noch leichter, dich zu fressen. Und du!“
Jetzt zeigte er auf Nihal, die ihn herausfordernd ansah. „Verkrampf‘ deine Schultern nicht so, sonst kannst du dich irgendwann nicht mehr bewegen!“
Das Mädchen funkelte ihn kampfeslustig an. „Ach, Mr. Große Fresse! Dann zeig‘ uns doch, wie du es machst!“
Kentin kniff die Augen zusammen und riss ihr die Waffe aus den Händen. „Hergesehen! So haltet ihr das Gewehr richtig. Anlegen, zielen und ...“
Er schoss und traf die Übungspuppe genau dort, wo bei einem Menschen die Augen lagen. Die anderen neuen Rekruten blickten den jungen Mann verdattert an, doch Nihal konnte er nicht beeindrucken.
So ein blasierter Lackaffe!
Der machte ein Gesicht, als wollte er noch ein Lob dafür haben, dass er hier ein Kunststück aufgeführt hatte. Klar konnte er besser schießen als sie. Er war ja auch schon länger dabei.
Sie machte ein abfälliges Geräusch, riss ihm ihre Waffe aus der Hand und machte es ihm nach. Etwas zittrig versuchte sie, sich gerade zu halten, aber sie traf den Kopf der Puppe. Die Verletzung wäre im Ernstfall vielleicht nicht tödlich, aber so schmerzhaft, dass sie einen außer Gefecht setzen konnte.
Kentin brummte nur und ließ die anderen wieder in Reih‘ und Glied aufstellen.
„Denkt immer daran, ihr übt hier zwar mit Menschenpuppen, aber ihr schießt im echten Leben auf überdimensionale Krabbelviecher. Auch da gilt: Ein Schuss in den Kopf ist das Beste!“
Sie übten wieder und nach weiteren zwei Stunden musste Kentin sich eingestehen, dass Nihal die Fähigste aus der Gruppe war. Von zehn Schüssen traf sie acht so gut, dass sie töteten oder zumindest schwer verletzten.
Die anderen waren Ausschuss. Kentin erwartete fast kalt, dass etliche von ihnen im ersten Feindkontakt sterben würden.
„Danke. Ihr könnt jetzt in den Kraftraum oder zum Ausdauertraining gehen.“ Nihal sah ihm hinterher, als er den stark schallgedämmten Raum verließ.
Wäre er nicht so schrecklich eingebildet und würde er sich nicht Wunder was einbilden, wer er war, würde sie glatt Gefallen an ihm finden können. Sein nussbraunes Haar war unordentlich und zerzaust, seine Züge ebenmäßig, aber hart und männlich und seine Augen erinnerten sie an das Meer.
Sie hatte es nie gesehen, kannte nur alte und verblasste Bilder, aber so sahen sie aus.
Aber Kentin war einer dieser kaputten Typen, die gut aussahen und sich einbildeten, dadurch könnten sie die neue Welt regieren und so handelten sie auch. Sie waren rücksichtslos, nur auf ihren Vorteil konzentriert und scherten sich einen Dreck um andere.
Sie steckte ihre Waffe in die dafür vorgesehene Vorrichtung und beschloss, in den Fitnessraum zu gehen.
Acht Wochen vergingen, in denen die Rekruten ausgebildet wurden, während draußen in den Linien die anderen Soldaten gegen die vorrückenden Eindringlinge kämpften.
Nihal lernte gerade bei einer Schwester, wie sie Schuss- und Bissverletzungen im Feld behandeln konnte, als ausgerechnet Kentin, von Kameraden gestützt, in den Raum geführt wurde. Er hatte eine böse Kratzwunde am Unterschenkel und stöhnte leise, als die Männer ihn auf einen Stuhl verfrachteten. Die Schwester wollte sich gerade um ihn kümmern, doch er schüttelte den Kopf.
„Nein, Gail. Lass sie machen. Du hast es ihr doch gerade gezeigt, oder?“
Die Angesprochene nickte und alle Augen richteten sich auf Nihal, die schlucken musste. Was hatte Gail noch mal gesagt?
Ah ja, die Wunde säubern ... aber dafür musste sie diese erst freilegen. Also zuerst die Stiefel.
Nihal streifte Kentin den schweren Schuh ab und schnitt mit der Schere die Hose auf. Die Wunde war fleddrig und unsauber, aber nicht tief. Sie übergoss sie mit etwas Wasser und tupfte das überschüssige Blut weg. Nachdem sie etwas Heilsalbe aufgetragen hatte, die jeder Soldat mit sich herumtrug, bedeckte sie die Verletzung mit Mull und machte den Verband fest.
„Danke.“ Kentin seufzte und ließ sich auf dem Stuhl nach hinten sinken. Nihal stutzte.
Hatte dieser arrogante Kerl sich gerade wirklich und erst gemeint bei ihr bedankt? Er musste ganz schöne Schmerzen gehabt haben. Er sah nicht aus wie jemand, der häufig verwundet wurde. Wieder wanderte der Blick des Mädchens über den für sie makellosen Körper des Mannes, wie in den vergangenen zwei Monaten schon zu viele Male auch.
Er hatte Narben.
Seine Unterarme waren muskulös und von der Sonne gegerbt. Die weißen Kratzer leuchteten fast auf der gebräunten Haut. Ob das auch auf seiner Brust und dem Rücken so weiterging? Nihal wusste es nicht.
„Du hast alles richtig gemacht, Nihal. Kentin, du musst dich ein paar Tage ausruhen. Keine Einsätze, kein Training.“
Der Mann nickte und ließ sich von seinem Kameraden in sein Quartier helfen.
Es war Nacht, als das Mädchen ihr Quartier verließ, um etwas Luft zu schnappen. Sie hatten Hochsommer und man verging in den kasernenähnlichen Unterkünften fast vor Hitze!
Sie kletterte auf eine der niedrigen Mauern, die die Übungsgelände unterteilten und blickte in den Himmel.
Warum gab es noch immer so viel Schönheit, wenn drumherum alles in Grausamkeit und Blut versank? Die Welt scherte sich nicht darum, was mit ihren Bewohnern geschah. Warum sollte sie auch? Sie war ohne die Menschen besser dran.
Ein Geräusch zog ihre Aufmerksamkeit auf sich und sie entdeckte eine einsame Person an einer Vorrichtung, an der man Klimmzüge und dergleichen trainieren konnte. Es war ein Mann und er trug kein Oberhemd.
Doch ... war das nicht Kentin? Nihal sah genauer hin und spürte ein Kribbeln in der Magengegend. Er war muskulöser, als es den Anschein hatte und er war ... ja, er gehörte zu den schönen Dingen, die noch immer existierten. Nichts an ihm war hässlich. Außer vielleicht sein überheblicher Charakter.
Versonnen beobachtete sie ihn eine Weile, bis sie es selbst merkte und sich abwandte. Warum glotzte sie so?
Es war ja nicht so, als hätte sie noch nie einen halbbekleideten Mann gesehen. Sie hatte jedoch noch niemals mit einem das Bett geteilt, aber wen kümmerte das schon?
Sie nicht. Obwohl sie auch nur ein Mädchen war, das Hoffnungen hatte. Lange bevor die Viecher ihr Zuhause und ihre Familie vernichtet hatten. Sie seufzte und schob sich von der Mauer.
Es hatte sowieso keinen Zweck, über solche Dinge nachzudenken. In der heutigen Zeit war man dumm, wenn man Kinder in die Welt setzte, während man jederzeit damit rechnen musste, sie an diese Monster zu verlieren, an irgendeine Krankheit oder an den Hunger.
So hart es klingen mochte, doch Kinder galten als Sicherheitsrisiko. Jeder, der welche hatte, verspürte automatisch den Drang, diese zu beschützen und wurde deswegen leichtsinnig.
Was wiederum über die Jahrzehnte zu den vielen Waisenkindern und Menschen, die ohne ihre Eltern aufgewachsen waren, geführt hatte. Die Wesen jagten Kinder nur zu einer bestimmten Jahreszeit, wenn sie nämlich ihren eigenen Nachwuchs füttern mussten.
Leise kehrte sie in ihr Quartier zurück, ohne zu merken, dass er junge Mann sie sehr wohl bemerkt hatte.
Nihal war ein komisches Mädchen.
Kentin wischte sich den Schweiß von der Stirn und stellte sich in seinem Quartier unter die heiße Dusche. Es war mitten in der Nacht, aber er würde nicht schlafen können, bevor er sich nicht etwas erfrischt hatte.
Sie redete nie mit ihm, wenn es nicht sein musste und wenn doch, dann waren ihre Antworten patzig und unhöflich. Sie behandelte ihn wie einen Aussätzigen, während er versuchte, sie und die anderen am Leben zu halten. Er war nur deswegen so streng, forderte so viel und zeigte keine Gnade. Denn von den Krabblern konnten sie auch keine erwarten!
Aber er würde seine Habe geben, um einmal in Nihals Kopf zu gucken und zu wissen, was in ihr vorging.
Die meisten Mädchen hier waren gleich. Sie hatten Panik vor der Zukunft, waren krank oder allein und wollten jemanden, der ihnen die kalten Nächte versüßte. Es war ihnen egal, ob man danach ging oder blieb. Sie waren ausgebrannt und fühlten nichts mehr, denn worauf sollte man hoffen in einer Welt, in der die Menschen die Insekten waren?
Nihal war ganz anders.
Er hatte etwas gesehen in ihr. Etwas, was er von sich kannte. Bevor ... sie kamen.
Er hatte das Mädchen beobachtet, wie sie versucht hatte, ihrem alten Freund aus Kindertagen etwas aus seinem Loch zu helfen. Dieser war von einem Krabbler so schwer an den Beinen erwischt worden, dass man sie zwar nicht hatte amputieren müssen, aber er würde dennoch nie wieder laufen können. Er starrte Löcher in die Luft, verständlich in seiner Situation und sie, Nihal, versuchte, ihn aufzumuntern. Sie strahlte eine große Liebe aus, eine solche, die nur jemand empfinden konnte, der mit Geschwistern aufgewachsen war.
So wie Kentin auch. Und auch sie hatte alle verloren. Nur lag auf ihr sicherlich nicht eine solche Last wie auf ihm, eine so schwere Schuld, dass er in schwachen Stunden daran zu zerbrechen drohte. Jeder fragte sich, warum er so verbissen kämpfte, doch er hatte es nie jemandem erzählt. Was er getan hatte ...
Seufzend legte er sich schlafen. Der Sergeant hatte für den nächsten Tag eine Säuberungsaktion geplant, an der zum ersten Mal seit ihrem Eintritt auch die neuen Rekruten teilnehmen sollten.
Er schlief schnell und mit endlich entspannten Muskeln ein.
„Habt ihr alle verstanden, was ich euch gesagt habe?“ Der Sergeant baute sich auf einem Podest auf und blickte auf seine Soldaten hinunter.
„Diese Siedlung muss gesäubert werden. Wir brauchen die Gebäude und das Areal dringend und während ihr damit beschäftigt seid, beginnt der Bautrupp, provisorische Zäune zu bauen. Sorgt dafür, dass jedes verdammte Ei zertreten wird, setzt von mir aus Brandbomben ein, das ist egal. Wenn ein paar Häuser abbrennen, bauen wir sie wieder auf. Versucht alle, heil zurückzukommen. Aber keine Heldentaten, keinen übertriebenen Leichtsinn, ist das klar?“
Die Soldaten nickten und ein einstimmiges „Ja, Sir!“ wurde gebrüllt.
Geordnet kletterten alle auf Lastwagen und wurden an den einzigen Punkt gebracht, von wo aus sie in den Zielbereich eindringen konnten, ohne gleich von krabbelnden Beinen erfasst zu werden.
Allerdings war alles noch ruhig. Die Viecher waren nachtaktiv und in dieser Zeit außerordentlich gefährlich. Noch war heller Tag, doch die Zeit war dennoch knapp. Das Areal war groß und sie mussten alle Wesen, bestenfalls auch direkt deren Eier und Nester, vernichten, bevor die Sonne unterging. Nihal stand auf der Mauer, prüfte ihr Gewehr und den Munitionsvorrat in dem kleinen Rucksack, als Kentin neben ihr auftauchte.
„Hast du Schiss?“
„Kein bisschen, sehe ich aus wie eine Memme?“ Nihal schnaubte verächtlich, doch anstatt einen von Kens markigen Sprüchen zu kriegen, blitzten seine blaugrünen Augen sie nur an.
„Das solltest du aber. Das hilft dir, zu überleben.“
Ohne sie noch einmal anzusehen, sprang er in den staubigen Boden des einstig blühenden Dorfes, das nun menschenleer war und wieder bevölkert werden sollte.
Der Sergeant hatte Recht. Es war in der bisherigen Sicherheitszone einfach zu voll. Obwohl den Menschen dort ausdrücklich gesagt worden war, dass sie sich vorerst nicht fortpflanzen sollten, wurden jedes Jahr immer neue Babys geboren und es wurden nicht weniger. Die Leute dachten nicht nach. Kinder konnte man machen, wenn es wieder sicher war!
Das Mädchen folgte ihrem Teamchef und beäugte das Areal wachsam. Auf allen Seiten stromerten nun die Soldaten herum und durchsuchten Keller, dunkle Gebäude und Nischen. Noch war es sicher, doch in dem Moment, in dem der erste Schuss fiel, würde dieses Nest zum Leben erwachen wie ein Bienenstock und dann wurde es heiß.
Nihal beobachtete, wie einige der erfahreneren Soldaten rauchende Behälter in die Häuser warfen. Das hatte sie bisher noch nicht gesehen.
„Kentin?“, hauchte sie hinter ihm und er wandte sich kurz um. „Was ist in den Behältnissen?“
„Das sind Rauchbomben aus Kiefernzweigen. Das betäubt die Viecher einen Moment. Und es hilft der Tarnung, denn dann können sie dein Blut nicht riechen.“
Nihal schluckte.
Vielleicht hatte sie doch ein bisschen Angst. Ach! Was machte sie sich vor, sie schlotterte vor Furcht, sie wollte es ihren eingebildeten Gruppenführer nur nicht wissen lassen.
Die Zeit zog dahin und während weiter Rauchbomben flogen und kleinere Gebäude knisternd in Flammen aufgingen, war auf den Straßen, wo die Soldaten Schmiere standen, noch alles ruhig. Doch das Mädchen merkte, dass Kentin zunehmend nervös wurde und da geschah es auch schon. Das, worauf alle nur gewartet hatten!
Ein hallender Schuss, ein gellender Schrei, Stille und dann das Trappeln vieler Beine, die aus allen Ecken geschossen kamen. Nihal zitterte, doch hielt das Gewehr so, wie sie es vom Besten gelernt hatte.
Den ersten Soldaten hatten sie bereits an die Viecher verloren, denn nach diesem Schrei war ein Mensch nicht mehr am Leben. Die nackte Panik, die grausame Erinnerung schlug dem Mädchen ins Gesicht, als eines dieser Rieseninsekten mit schnappenden Zangen auf sie zukam.
Nein! Nie wieder wollte sie Angst haben, das hatte sie sich doch geschworen.
Sie hob das Gewehr und schoss dem Vieh zielsicher direkt zwischen die Zangen. Mit einem gepressten Geräusch, das sich wie ein grunzender Schrei anhörte, brach das Ding nur wenige Meter vor ihr zusammen und stank ganz jämmerlich.
„Weg hier, Nihal. Hier stehen wir auf dem Präsentierteller.“
Kentin packte sie am Handgelenk und zog sie zielstrebig weg von dem Platz, auf dem immer mehr von den Krabblern auftauchten. Nihal hörte das Geschützfeuer und das Schreien der Männer, doch zwischen ihnen und sich waren einfach zu viele.
Kentin wandte sich im Rennen um und warf eine scharfe Granate so, dass sie bei der Detonation gleich vier von den Wesen in Stücke riss und schob das Mädchen schließlich in einen schmalen Gang zwischen zwei Häusern.
„Und jetzt?“
„Gib mir eine Sekunde. Der Serge hat sich vertan. Hier sind viel mehr als wir angenommen hatten. Ihre Jungen müssen sich prächtig entwickelt haben. Verdammt ...“
„Wir müssen zu den anderen zurück. Allein sind wir nicht stark genug.“
Kentin nickte und fuhr sich über die leichten Bartstoppeln.
„Wir versuchen, hier hinten herumzukommen und geben uns gegenseitig Deckung, ok? Ich habe noch nie jemanden verrecken lassen, der unter meinem Schutz stand.“
Nihals Herz zog sich einen Moment zusammen. Irgendwie klangen seine Worte so, als würde er sich selbst von deren Wahrheit überzeugen wollen. Was wohl seine Geschichte war?
Gemeinsam schlichen sie leise an das Ende der Gasse und stellten fest, dass die Straße dahinter frei war.
„Ok und versuch, leise zu sein. Du weißt, es sind Insekten, die reagieren auf Erschütterungen und Geräusche.“ Kentin flüsterte das nah an ihrem Ohr und zu ihrem großen Erstaunen und Schrecken bekam sie Gänsehaut.
Sie nickte und beinahe lautlos machten sie sich auf den Weg die Straße hinunter. Beide erschraken, als ein Ding, das aussah wie eine Ameise, nur hundert mal hässlicher und abstoßender, aus einem Seitenarm hervorgeschossen kam und sie trennte.
„Kentin!“, schrie Nihal leise und gepresst und er machte eine Handbewegung, die sie hatte lernen müssen.
Verschwinde und versteck dich. Ich komme dich holen.
Hoffentlich würde er Recht damit behalten, denn sie wollte ihn nicht im Stich lassen. So arrogant er auch war im Training, hier ging es um sein Leben und das wollte sie bewahren. Doch sie befolgte den Befehl, machte kehrt und lief, so schnell ihre schwere Waffe es zuließ. Wegwerfen konnte sie sie nicht, denn sonst hätte sie sich gleich zum Fressen bereitlegen können.
Mit brennender Brust und rasendem Herzen blieb sie an einer Kreuzung stehen und verbarg sich etwas im Schatten eines Haus. Sie hörte die Zangen einen Zacken zu spät und spürte heißen, rasenden Schmerz in ihrem Unterarm.
Nihal schrie auf und fiel zu Boden, während das Vieh, eine gewaltige Spinne, immer näher rückte. Bilder zuckten vor ihren Augen auf, Bilder des Monsters, das ihren Vater zerrissen hatte. War das nicht auch eine Spinne gewesen? Und nun hatte diese hier das Blut des Mädchens gekostet und wollte auch noch ihr Fleisch.
Sie schrie verzweifelt und versuchte, ihre Waffe zu erreichen, die sie durch den Biss hatte fallen lassen, doch sie kam nicht ran. Sie hatte versagt, ihr Ziel nicht erreicht, ihren Vater und ihre Familie beleidigt und nun musste sie sterben. Hier im Dreck, blutend, hingeklatscht, obwohl sie so heere Absichten gehabt hatte.
Resignierend wartete sie auf den einsetzenden Schmerz, doch der kam nicht. Stattdessen hörte sie einen dumpfen Aufprall, die Stimme eines Mannes, das Ächzen eines Monsters und eine klebrige, warme Flüssigkeit, die ihr auf den Oberschenkel tropfte.
„Nihal?“
Benommen öffnete sie die Augen und blickte in Kentins Edelsteinaugen. Er hob sie hoch und legte sich ihren gesunden Arm um die Schultern.
„Was? Wo bist du denn hergekommen?“
„Vom Dach. Ich dachte, dann finde ich dich schneller und so war es auch. Wenn ich dem Vieh nicht auf den Buckel gesprungen wäre ...“
„Danke.“
Kentin schmunzelte und blickte sich nach allen Seiten um, bevor er sie in ein kleines Gebäude mit verschlossener Tür und klitzekleinen Fenstern brachte. Er verrammelte sorgfältig den Eingang, nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie allein waren.
Nihal setzte sich auf eine staubige Holzkiste. Hier mussten einst Menschen gelebt haben, wenn es nicht nur ein Vorratsschuppen war. Jedenfalls lagen alte Decken auf einem einfachen Regal und Strohmatratzen in den Ecken.
„Was ist das hier?“
„Eine Zuflucht. Davon gibt es viele in der Stadt. Falls man es nicht rechtzeitig vor Ende des Tages schaffte, in sein Haus zu kommen, konnte man sich hier verbarrikadieren. Aber das war, als nur einzelne Exemplare in den Ort kamen, keine Meute. Hattet ihr das in eurem Dorf nicht?“
Nihal schüttelte nur den Kopf.
„Wir hatten Häuser aus massivem Stein. Wir dachten, das würde reichen.“
Kentin nickte bloß. Die Menschheit hatte die Krabbler viel zu lange unterschätzt und nicht ernst genommen. Schon vor zweihundert Jahren hatten die damaligen Gelehrten prophezeit, dass die Welt einst unter der Herrschaft der Insekten stehen würde. Heute war es fast so weit. Die Wissenschaftler hatten Recht gehabt und waren doch verlacht worden. Inzwischen wusste man es besser und wünschte sich, man hätte damals auf die Warnungen gehört.
„Lass mich deinen Arm sehen.“
Der junge Mann hockte sich neben sie und begutachtete das blutige Etwas fachmännisch. Er blickte in seinen Rucksack und fluchte.
„Hast du Verbandszeug?“
Fehlanzeige.
Kentin stand auf, zog sein Hemd aus und begann, es in schmale Streifen zu reißen. Nihal versuchte, nicht zu sehr auf seine Muskeln zu starren, die unter dem verschwitzten weißen Tanktop hervorblitzten.
Er goss etwas Wasser auf die Wunde, bearbeitete sie mit Salbe und machte einen festen Verband, damit das Bluten aufhörte. Ein Blick auf seine Uhr ließ ihn fluchen.
„Es wird bald dunkel.“
Durch das Eingreifen der Menschen in die Natur gab es nicht nur alienmäßige Rieseninsekten, sondern das gesamte Klima, Wetter und die Zeit war durcheinander geraten. Durch die jahrhundertelange Luftverschmutzung waren die Tage meistens kurz und es wurde selbst im Hochsommer früh dunkel, dagegen blieb es trotzdem heiß.
„Und das soll heißen?“
„Dass wir hier bleiben und morgen versuchen, zum Trupp zurückzukommen. Wenn es den dann noch gibt.“
„Eine Nacht mit dir arrogantem Stinkstiefel?“
Kentin zuckte nur mit den Lippen, zog eine Decke aus dem Rucksack und ein paar Rationen, damit sie etwas essen konnten.
„Du urteilst schnell, Nihal. Jeder von uns hat Gründe, so zu sein, wie er ist. Und wenn du mich arrogant nennst, liegt das vielleicht daran, dass ich Soldat bin, seit ich elf war. Ich kann nichts anderes, aber hierdrin bin ich gut, bin ich der Beste!“
Nihal zog ihre Decke ebenfalls hervor. Es gab keine Garantie, aber nachts konnte es kalt werden. Sie nahm eine Rationsdose und einen Löffel entgegen und sah sich in dem Raum um.
„Du kommst nicht aus der Sicherheitszone, oder?“
„Nein. Genau wie du habe ich am Rand gelebt und meine Leute haben unser Zuhause verteidigt.“
„Und warum wurdest du so früh Soldat?“
„Weil ich leben wollte. Ich ... hab als Einziger in meinem Dorf überlebt und es bis hier her geschafft. Alle anderen wurden noch beim Angriff oder auf der Flucht getötet. Alle haben mir geholfen, weiter zu kommen ...“
Nihal stellte mit Schrecken fest, dass eine einzelne Träne Kentins Wange hinab kullerte.
„A-aber? Ist es wegen deiner Familie?“
Der junge Mann schüttelte den Kopf und zog die Nase hoch. „Nein, ich ... ich bin schuld daran. Aber das will ich dir nicht erzählen.“ Er schob sich einen Löffel Fleisch in den Mund und starrte an die Wand.
Das Mädchen sah ihn weiter an, doch er blieb hart. Aber er hatte Recht. Was hatte sie mit ihm zu schaffen, dass er ihr seine Lebensgeschichte erzählen musste? Sie würde ihm auch nicht sagen, dass sie sich feige versteckt und zugesehen hatte, wie ihre Familie gefressen worden war.
„Ich glaube, dass jeder Sachen gemacht hat, auf die er nicht stolz ist“, murmelte der junge Mann nach einiger Zeit.
„Zum Beispiel?“
„Weglaufen.“
Nihal presste die Lippen zusammen und wischte sich über die Nase. „Also bist du weggelaufen?“
Kentin löffelte seine Ration aus und knüllte die Aludose in der Hand zusammen. „Ich war neun Jahre alt. Hätte ich kämpfen sollen? Ich wäre ohnehin beinahe verhungert. Als ich hier ankam, wog ich nur noch sechzehn Kilo. Normal sind bei einem Neunjährigen etwa dreißig.“
Nihal blickte den jungen Mann neben sich an und seine Züge verschwammen in der zunehmenden Dunkelheit. Sie konnte ihn sich nicht in einer solchen Situation vorstellen - klein, schwach, verängstigt. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass dieser Mann weinte und sich fürchtete.
„Ok. Das verstehe ich. Bei mir liegt der Fall anders. Ich war alt genug, um zu kämpfen und habe es nicht getan.“
Ein leises Lächeln schlich sich auf Kentins Gesicht und er knuffte sie leicht auf den gesunden Arm.
„Nur deswegen bist du noch am Leben. Du hättest dich niemals verteidigen können mit deinen mickrigen Kenntnissen.“ Er lachte und Nihal blickte ihn verwundert an. Versuchte er gerade, ihr etwas Mut zu machen? Ihr etwas von der Schuld zu nehmen, die sie quälte?
Sie lächelte unwillkürlich. „Du bist vielleicht doch ganz ok ...“, murmelte sie und sah ihn nicht an.
Die beiden schwiegen eine Weile und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach, als es draußen rumpelte und eine Erschütterung zu spüren war.
„Was ...?“ Nihal stand auf und linste aus dem Fenster, bevor sie mit einem Aufschrei zurückprallte und Kentin in die Arme stolperte. Der presste sie mit der Nase an seine Schulter, hob das Gewehr durch einen kleinen Spalt in der Scheibe und feuerte auf das Biest, das versucht hatte, seine Fühler in den Bunker zu schieben. Mit einem schaurigen Grunzen verschwand es und Nihal krallte sich noch immer an dem jungen Mann fest.
„Hey ... alles klar? Hat es dich irgendwo erwischt?“
Das Mädchen schüttelte den Kopf und zitterte heftig. Sie hatte sich so sehr erschrocken, plötzlich in diese widerlichen Insektenaugen zu starren, dass sie kaum Luft bekam.
„Hey ...“ Kentins Stimme war sanft, als er sie ein Stück von sich wegschob und in ihr Gesicht blickte.
„Ich kann das nicht mehr ... ich will nicht leben, um zu kämpfen.“ Sie schmiegte sich an ihn und sog den Duft seiner Haut ein. Eine Mischung aus Duschgel, Staub und Schweiß, die ihr sehr heimelig und angenehm erschien.
„Du lebst für eine bessere Zukunft. Das musst du dir immer wieder sagen. Du lebst dafür, dass so etwas wie mit deiner Familie nie wieder passiert. Du lebst, damit du eines Tages deine eigene Familie haben kannst.“
„Glaubst du daran?“
„Ja. Eines Tages wird es aufhören ...“
Nihal blickte in der zunehmenden Dunkelheit in die Augen des jungen Mannes und ließ es bereitwillig geschehen, als seine Lippen sich sanft auf ihre senkten.
„Was ist geschehen, als dein Dorf angegriffen wurde?“, flüsterte Nihal in die Finsternis und zog die Decke höher zu ihren Schultern. Kentin strich ihr mit den Fingern über die nackte Haut und sie spürte seinen Atem an ihrer Stirn.
„Ich war ein unartiges Kind“, murmelte er schließlich. „Ich hab immer das gemacht, was ich nicht sollte und so lief ich auch an diesem Abend im Dorf herum, obwohl die Ausgangssperre schon begonnen hatte. Der Wachmann verließ seinen Posten, um mich einzufangen und deswegen wurde zu spät bemerkt, dass einer der Zäune gebrochen war. Die Viecher überrannten das Dorf und haben alle bis auf mich getötet. Es war meine Schuld ...“ Seine Stimme wurde leise.
„Kämpfst du deswegen so verbissen, dass niemand zurückbleibt?“
Kentin drehte sich auf der alten Matratze auf den Rücken und starrte in den schmalen Lichtstreifen, den der Mond ins Zimmer warf.
„Ich habe mir geschworen, dass nie wieder jemand sterben muss, weil ich nicht aufgepasst habe. Das lindert vielleicht nicht die Schuld, die auf mir lastet, doch es gibt mir ein besseres Gefühl.“
Nihal bettete ihren Kopf an seiner Schulter. „In was für einer Welt leben wir?“, murmelte sie und wurde langsam schläfrig.
„In der, die unsere Vorfahren uns hinterlassen haben. Schlaf jetzt. Mit dem Sonnenaufgang müssen wir raus."
Während das Mädchen ins Reich der Träume glitt, lauschte der junge Mann dem Trappeln unzähliger Füße, die über die Straßen und Dächer huschten, auf der Suche nach Versprengten, die sie zur Beute machen konnten. Es war beängstigend, aber gleichermaßen einschläfernd und so fielen ihm schließlich die Augen zu.
„In deine Kleider, Nihal, schnell.“
Das Mädchen schreckte hoch und blickte in Kentins grinsendes Gesicht.
„Was ist?“, fragte sie ängstlich. Der junge Mann lachte leise und warf ihr ihre Kleidung hin.
„Nichts. Es ist alles ruhig. Komm, zieh dich an, damit wir hier weg in Sicherheit kommen.“ Er öffnete eine Rationsdose und schob sie ihr hin. Müde und erschöpft stieg das Mädchen in die khakifarbene Kleidung und steckte sich ein paar Fleisch- und Gemüsebröckchen in den Mund.
Kentin stand am Fenster, er trug kein Hemd, denn die Reste davon waren für ihren Verband draufgegangen. Selbst im dämmrigen Licht des Kabuffs schimmerte seine Haut seidig und seine Muskeln wirkten definiert.
„Ok, bist du so weit? Waffe geladen? Munition klar?“
Nihal nickte und Kentin öffnete leise die Tür und sah sich um. Die Sonne brannte auf die ockerfarbenen Straßen und der leichte Wind schob Staubwolken vor sich her.
„Alles klar. Dort entlang. Leise.“
Mit angeschlagener Waffe kehrten die beiden zum Platz zurück und ein Bild des Grauens eröffnete sich ihnen dort.
Die Kameraden, die nicht das Pech gehabt hatten, in die Nester geschleppt und dort gefressen zu werden, lagen geschlagen da. Alle tot, viele von ihnen entsetzlich zugerichtet, mit fehlenden Gliedmaßen oder offenen Körpern. Kentin starrte geschockt auf die Szenerie, während Nihal sich das Würgen verkneifen musste.
„Sind wir die Einzigen, die noch übrig sind?“, hauchte der junge Soldat und ging von Leiche zu Leiche. Seine Miene wurde immer verkniffener und er fing an, die übrige Munition einzusammeln und auf einem Haufen zu stapeln.
„Was hast du vor?“, flüsterte Nihal, die keine Viecher auf sich aufmerksam machen wollte.
„Ich baue einen Scheiterhaufen aus all den Granaten und Sprengsätzen. Ich habe vor, die Biester anzulocken und einen großen Teil davon in die Hölle zu schicken. Hilf mir, schnell.“
Nihal hatte Berührungsängste wegen der Leichen, legte diese aber schnell ab. Schließlich taten sie das auch für die Gefallenen. Der Haufen wuchs erstaunlicherweise auf über einen Meter an, als Kentin nickte. Er selbst besaß noch eine Handvoll Granaten und Nihal auch. Diese würden sie behalten, um den Haufen zu zünden.
„Und wie willst du sie aufmerksam machen?“
„Hiermit.“ Kentin wedelte mit einem Walkie Talkie herum. „Stellt man die auf eine bestimmte Frequenz, geben sie einen hohen Ton ab, gerade noch hörbar für uns, aber qualvoll für die Krabbler. Komm, wir brauchen einen Schutz, von wo aus wir die Granaten werfen können. Alles, was wegrennt von dem Feuer, wird abgeknallt, klar?“
Nihal nickte und schluckte, als Kentin das altertümliche Funkgerät in den Haufen steckte und an seinem Gegenstück herumschraubte.
„Komm, dort dürften wir sicher sein.“ Er zog sie in eine Nische und schaltete das Funkgerät ein. Ein scharfes Sirren und Pfeifen erklang und Nihal schlug sich die Hände auf die Ohren.
„Ja, sie hören es noch schlimmer. Gleich kommen sie. Immer dahin, wo das Geräusch herkommt, ob Tag oder Nacht.“
Und tatsächlich setzte das unheilvolle Trippeln und monströse Quietschen und Grunzen der Viecher kurz danach ein.
„Mach dich bereit. Das ist wie Tontaubenschießen.“ Beide legten an und schossen auf die ersten Monster, die aus den Straßen strömten. Die nachfolgenden ließen sich nicht beirren, stiegen über ihre Toten hinweg, immer in Richtung des Geräuschs.
Als der wuselnde Haufen um die angesammelten Waffen immer größer wurde, machte Kentin zu Nihal ein Zeichen, ging ein paar Schritte aus der Gasse heraus und warf mehrere Granaten. Die ersten detonierten in der Nähe und rissen einige Viecher in Stücke, doch eine verkeilte sich zwischen zwei Gewehrläufen in dem Stapel und es gab einen gewaltigen Knall, gefolgt von vielen kleinen Explosionen und den Schreien der Monster, die von der Wucht zerrissen oder von den Flammen verschluckt wurden.
Kentin wurde von dem Druck nach hinten geschleudert und landete unsanft auf dem Mädchen hinter ihm, das ihm Feuerschutz gegeben hatte.
„Oh Mann ... es funktioniert!“ Nihal starrte das Schauspiel überrascht an und der junge Mann rieb sich den Kopf.
„Ja ... und so weiß der Serge, dass noch ein paar Leute am Leben sind.“ Er griff nach dem Funkgerät und versuchte, den Wachturm der Sicherheitszone zu erreichen.
„SZ 1 hört?“, rauschte es aus dem alten Gerät. Kentin hielt es sich an den Mund.
„Kentin hier. Nihal und ich sind am Leben. Ich weiß nicht, wer es noch geschafft hat. Over.“
Ein kurzes Knistern und Stille, dann rauschte es wieder. „Wir schicken Verstärkung. Die Krabbler?“
„Ein großer Teil ist vernichtet, aber ich kann nicht sagen, wie viele es sind. Wir haben uns verkalkuliert. Ihre Brut ist zahlreicher als erwartet. Over.“
„Verstanden. Ein Evakuierungstrupp ist unterwegs. Haltet euch versteckt.“
Dann schwieg das schwarze Gerät und Nihal blickte Kentin fragend an.
„Was geschieht jetzt?“
Der junge Mann starrte auf den Platz, auf dem es noch immer brannte und detonierte. Schließlich wanderten seine blaugrünen Augen in ihre dunklen und er lächelte.
„Wir gehen nach Hause. Sie kommen mit Hubschraubern, holen uns ab und vergasen dieses Areal. Dann sammeln sie die Eier aus den Nestern und machen Rührei draus. Wir sind hier fertig.“
Nihal lehnte sich an die Hauswand und seufzte. „Und dafür sind die anderen gestorben?“
Kentin nickte und blickte in die Ferne. „Manchmal gehen Sachen schief, weißt du? Und dann werden Opfer erbracht. Es ist hart, wir wollen es nicht, aber es lässt sich nicht ändern. Ich hätte sie auch lieber alle nach Hause gebracht.“
Nihal lehnte sich vor und zwang ihn, sie anzusehen. „Du hast nicht alle verloren, oder?“
Sein Blick lichtete sich, als er verstand, was sie meinte und er nickte. „Nein, du bist noch da.“
Wenige Minuten später saßen die beiden jungen Soldaten in einem alten, aber funktionstüchtigen Helikopter und konnten sich das Chaos, dass sie veranstaltet haben, von oben betrachten. Hier stellten sie zu ihrer Freude auch fest, dass doch nicht alle ihre Mitstreiter gefallen waren.
Die Wochen zogen ins Land und Nihal gewöhnte sich zunehmend an ihr Leben in der Sicherheitszone. Sie war noch immer Soldatin, doch mittlerweile beim Wachdienst eingeteilt. Sie teilte sich ein etwas größeres Quartier mit Kentin, den sie lieben gelernt hatte und machte täglich ihre Runden über die Wachtürme und Zäune.
Etwas anderes ließ ihr Zustand nicht mehr zu. Denn ihre Nacht mit Kentin in der staubigen alten Hütte hatte Früchte getragen.
~~~ ENDE ~~~