Es mag ein Jahr her sein, vielleicht vierzehn Monate, da rief mich eine Bekannte an. Ihre Mutter, die an Brustkrebs erkrankt war, hatte die Chemo erstaunlich gut vertragen, und war ganz offensichtlich auf dem Weg der Besserung gewesen, so dass sie eingewilligt hatte, die Wintermonate bei ihrem Lebensgefährten, einem Künstler, in Marokko zu verbringen. Das war nach Absprache mit ihrem Arzt nicht nur genehmigt, sondern sogar begrüßt worden, weil ihr Zustand sich so sehr gebessert hatte und man davon ausging, dass sie zu einer weiteren Chemotherapie, die noch für sie geplant gewesen war, vom Arzt ihres Freundes behandelt werden könnte. Dies war von den beiden Ärzten auch kommuniziert worden, das Medikament, ein Platinpräparat europäischer Herkunft ist unten in Afrika problemlos erhältlich und ein Tapetenwechsel wäre für die Frau ideal, da sie ein sehr Lebens- und Reiselustiger Mensch war.
Anita freute sich voll für ihre Mutter, flog mit ihr nach Marokko, verbrachte mit ihr ein paar Tage bei besagtem Künstler und überließ sie schließlich seiner Obhut, weil sie dringende Geschäfte nach Salzburg und Linz zurückholten. Zwei Wochen danach, erhielt sie die Nachricht, dass ihre Mutter nach anfänglich gut vertragener Chemo plötzlich ins Koma gefallen, und noch in derselben Nacht verstorben war. Anita, die an einen Fehler des Arztes geglaubt hatte, nahm den nächsten Flug und befragte diesen. Sie musste dabei erkennen, dass es sich um einen höchst kompetenten Mediziner handelte, der sich die Durchstichflasche aus seiner Problemstoffentsorgung wieder herausgesucht und zur Analyse gebracht hatte, weil er den unerwarteten Tod seiner Patientin nicht nachvollziehen konnte. Dabei stellte sich heraus, dass das Medikament praktisch verdorben war. Und zwar veraltet. Es ist ein Unterschied, ob bei so einem Zytostatikum nur einmal kurz die Kühlkette unterbrochen wurde, was natürlich auch keinesfalls vorkommen sollte, oder ob dieses Produkt schon ein Jahr oder länger abgelaufen ist und dann noch womöglich falsch gelagert oder transportiert worden ist. Und zwar ein unter Umständen tödlicher Unterschied, der auch einen nicht geschwächten, sogar einen gesunden Menschen töten könnte und auch kann!"
Weber lehnte sich ein Wenig vor.
"Und hat es sich bei diesem Präparat nachweislich um ein solches gehandelt?"
"So ist es! Und zwar zweifelsfrei! Keine Fälschung, sondern ein Originalpräparat, das mit nicht unerheblichem Aufwand neu Etikettiert und verpackt und dessen Ablaufdatum zwei Jahre verlängert worden war. Perfekt gefälscht übrigens auch die dazugehörigen Chargenpapiere und Transportnachweise mit Nachweis der eingehaltenen Kühlkette!"
Helmut schien kurz zu überlegen und meinte dann:
"Petra, Medikamente wie dieses, Zytostatika und Biosimilars unterliegen einer ganz extremen Nachvollziehbarkeitsvorschrift. Die einzelnen Vials, also diese Durchstichflaschen unterliegen einem sehr strengen track and trace-Verfahren mit unsichtbaren Codes, Hologrammetiketten und vielem mehr. Man kann praktisch die Geschichte von jedem einzelnen Vial von der Abfüllung bis zum Patienten nachvollziehen. Wie kann man sowas fälschen?"
"Das hat sich schließlich auch der Arzt in Marokko gefragt. Er wollte Anita unbedingt seine Unschuld beweisen und forschte bei seinen Kollegen nach. Das Ergebnis war erschütternd! Die Fälschungen sind mittlerweile nur mehr für Experten erkennbar!"
Aller Augen hingen an Petra, deren Haarsträubende Ausführungen unglaublich klangen.
"Man stelle sich vor, die Pharmafirmen investieren Millionen und Abermillionen in den Identitätsnachweis ihrer Produkte, weil Organisationen aus aller Welt - und bisher hat sich der asiatische Raum hier sehr hervorgetan - alle Medizin kopieren und den Markt damit überschwemmen. Die Produkte sehen lediglich so aus, wie das Original. Bestenfalls sind sie harmlose Placebos, sie können aber auch gesundheitlich bedenklich sein. Passiert etwas mit einem Patienten, der ein angebliches Produkt der Firma X bekam, wird erst mal beim Originalhersteller nachgesehen. Hat er sich nicht entsprechend abgesichert, kann er für das Fakeprodukt einstehen, ganz abgesehen von der Rufschädigung die ein Unternehmen in einem solchen Fall erfährt. Langsam, aber nur sehr langsam, hat man hier erste Erfolge erzielt, trotzdem kommen in China mehr neue Fälschungen auf den Markt, als in Europa Originale produziert werden!
Dies alles war mir zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst, als Anita mit dieser Neuigkeit zu mir kam. Nun verhält es sich aber so, dass für diese Art Kriminalität und deren Bekämpfung keinen Zuständigen findet. Anita ist sehr gut situiert. Sie hat mich erst mal neugierig gemacht. Ich hab mich ein Wenig in die Materie eingelesen, mich in Österreichischen Niederlassungen der Pharmariesen informiert über die Schutzmechanismen gegen Fälschungen und so weiter. Nach zwei Monaten war es soweit: Ich hatte Blut geleckt. Anita wusste: Keine Behörde fühlt sich wirklich zuständig, solange sie keinen Verdächtigen auf einem Silbertablett serviert bekommt. (Und dieses sollte wenn möglich vergoldet sein!) Also hat sie mich scheinheilig in ihre Nachforschungen eingeweiht, bis es mir selbst ein Bedürfnis wurde, dagegen zu kämpfen und zu recherchieren. Sie kannte meinen Hang zu ehrlicher Berichterstattung, zur Aufdeckung tatsächlicher Missstände. Irgendwann sagte ich ihr, ich könne nicht mehr weiter machen. Im Inland hatte ich alles abgegrast und mein Chefredakteur würde die Story nicht unterstützen. Einzig, die Leute, die es betraf, das Leid, das da unerkannt von gierigen Profitgeiern billigend in Kauf genommen wird, ein unsagbar dreckiges, elendes Verrecken von unschuldigen Kranken, ließ mich nicht mehr schlafen.
Anita wusste genau, wie sie mich bei der Stange halten konnte.
"Petra," sagte sie eines Tages, "Wer braucht deinen Redakteur. Du bist die Frau, die bisher noch jede Story selbst aufgetan, selbst recherchiert und schließlich selbst herausgebracht hat. Er will deine Dienstreise nach Marrakesch nicht bezahlen? Scheißegal! Ich zahle alle deine Auslagen, diese Reportage betreffend, weil bedauernswerter Weise du die einzige bist, die das Zeug hat, was verwertbares herauszufinden und den finalen Stein ins Rollen zu bringen! Flug, Spesen, Alles was notwendig ist, Aber sorg dafür, dass das aufhört!"
"Eine Frage, Petra, wussten sie damals schon, dass es sich hier nicht nur um die Kopie von Medikamenten handelt? Und hat sich ihr Redakteur damals schon gegen ihren Story ausgesprochen?"
"Er wusste zumindest, dass es um Medikamentenbetrug ging und er ermunterte mich zu dieser Zeit noch, weiterzumachen, allerdings war er nicht bereit, Geld in diese Story zu investieren. Aber im Nachhinein betrachtet war er dazu nie bereit gewesen."
"Haben sie Beweise für ihre Ergebnisse?"
"Was ist für sie Beweis? Die Ware selbst, die ich mit Dr. Sipa in ganz Afrika aufspürte und die nachweislich umdatiert war? Ich durfte sie nicht ausführen, sie existiert aber noch immer gekühlt in afrikanischen Labors, wo ich einen Kreuzzug gegen den Betrug begonnen hatte und von mehreren Ärzten zumindest bei der Beweissicherung Unterstützung erfuhr. Aussagekräftige Fotos der Manipulationen habe ich hier vor Ort."
Wie haben sie nachgewiesen, dass die Ware umdatiert war?"
"Es waren in Österreich hergestellte Zytostatica. Die Herstellerfirma druckt auf das Flippof, das ist die Plastikabdeckung auf der Bördelkappe, einen unsichtbaren Datamatrix-Code, der nur unter Schwarzlicht sichtbar wird und alle Herstelldaten beinhaltet. Wenn dieses Produkt laut Etikett dann 27 Monate später Verfallsdatum hat, als auf der Bördelkappe unsichtbar aufgedruckt, erachte ich das als Beweis einer Manipulation. Später wurden diese Codes mit exakt bemessenen Klebeetiketten überklebt und bald darauf sogar die Bördelkappen getauscht und mit anderen Informationen versehen. Da braucht es aber schon Spezialisten, die den Betrug erkennen. Dazu kommen Massen an gefälschten Chargenpapieren und nicht zuletzt Computerdateien über den Empfang von Altmedikamenten und den Verkauf dieser an eine Strohmannfirma, die diese an den besagten Großhändler weitergibt. Die Herstellerfirma ist verpflichtet, die abgelaufene Ware vom Händler zurückzunehmen und der Vernichtung zuzuführen und beauftragt eine Firma, in diesem Fall die europäische Vertretung von NAMWS - North African Medical Waste Services. Das ist auch die Firma, in deren Vertretungen ich die Daten von einem Bürorechner ziehen konnte!"
"Sie konnten tatsächlich Daten sichern?"
"Ja! Am Tag, bevor ich ins Hotel ging... Aussagekräftige Daten übrigens, die beweisen, dass diese Firma europaweit legal operierende Pharmabetriebe mit der Entsorgung ihrer zurückgenommenen Ware bedient. Sie kassiert für die Entsorgung und betreibt dabei einen lukrativen Handel damit. Sie verkauft diese angeblich entsorgten Chemikalien an einen westafrikanischen "Arzneimittelgroßhandel", der die aufbereitete, sprich umdatierte Ware an die Aphotheken und Krankenhäuser in ganz Afrika als Neuware verkauft. Das eigentliche Problem aber, sind die in Österreich lebenden und agierenden Handlanger dieser Organisation, die offenbar in höchsten Kreisen präsent und über jeden Zweifel erhaben sind. Einige davon sind afrikanische Diplomaten, die ob der diplomatischen Immunität nicht einmal zur Verantwortung gezogen werden können, es sei denn man schafft es tatsächlich, sie international in den Fokus der landesspezifischen Gerichtsbarkeit zu stellen. Ihre Namen sind mir zum Teil bekannt. Auch dafür gibt es Unterlagen. Ich hatte das Pech, vor wenigen Tagen bei einem neuerlichen Besuch der NAMWS-Vertretung Österreich erwischt zu werden. Sie wissen das Herr Weber. Ich habe sie dort gesehen. Und zwar zusammen mit diesem lüsternen perversen Schwein, das mich festsetzte.
Man ließ mich schließlich nach mehreren Stunden frei, nachdem man keinen externen Speicher bei mir finden konnte und mein Handy restlos zerstört hatte. Allerdings befinden sich alle relevanten Daten auf meinem Laptop, weil ich sie von meinem Handy noch senden konnte, bevor ich abgeführt wurde, von eben diesem Marokkaner, den sie heute getötet haben."
"Beeindruckend, Petra! Über alle Maßen beeindruckend! und sie haben die Beweise hier?"
"Sie wollten mir noch etwas sagen, Herr Weber. Was sollte das heißen, Ich war sein größter Misserfolg?"