"Kinder", strahlte Marlene. "Es ist so schön, euch alle wieder einmal hier zu haben!" Glücklich schnappte sie sich ihren Einkaufskorb, um die letzten Besorgungen zu erledigen. Sie war schon immer ein riesen Fan von Weihnachten gewesen. Jetzt konnte ihr nichts mehr die Laune verderben.
"Komm öfter her, Julian." Olivia drückte kurz seine Hand.
Julian war kaum noch daheim, im Haus am See. Im Sommer gar nicht. Sie alle wussten warum. Es redete nur keiner darüber. Er kam an Weihnachten. Und in den Semesterferien für ein paar Tage. Ansonsten höchstens mal für ein Wochenende.
Sein Zimmer im Wohnheim genügte ihm. Seine Tür, die er zumachen konnte. Seine eigene Welt, in die er sich zu Anfang vollkommen zurückgezogen hatte. Wo er mit niemandem hatte reden müssen, wo ihm niemand mitleidige Blicke zugeworfen, wo keiner sich für ihn interessiert hatte. Dafür hatte er gesorgt, indem er einfach nicht aufgefallen war. Er hatte ja auch nie das Bedürfnis gehabt, Freunde zu finden. Die hatte er zuhause.
So waren die ersten Monate in einer Art Nebel vergangen. Der Nebel war überall gewesen. In den Hörsälen, in der Mensa, wo er dann nicht mehr oft hingegangen war, das Essen hatte ihm sowieso nicht geschmeckt, in seinem Zimmer und überall dazwischen.
Es hatte nur ihn und seine Bücher gegeben. Je mehr er gelernt hatte, umso weniger hatte er denken müssen. Vor allem nachts hatte er viel gelernt. Ganze Nächte lang. Um nicht einzuschlafen. Und vielleicht wieder von ihm zu träumen.
Zu Beginn des zweiten Semesters war er dann seinen Studienkollegen auch bereits weit voraus gewesen. Es hatte da gerade noch zwei oder drei gegeben, die in etwa mit ihm hatten mithalten können. Einer davon hatte schon damals gewöhnlich direkt neben ihm gesessen. Sie hatten dabei über Monate kein einziges Wort gewechselt. Dem Anderen schien es gar nicht aufzufallen, Julian war es angenehm gewesen. Erst mit der Zeit war ihm der Verdacht gekommen, der Bursche hätte autistische Züge. Was auch so war. Auch er lebte bis zu einem gewissen Grad in seiner eigenen Welt. Nur anders. Ohne Schmerzen.
Es gab nur fünf Mädchen in seinem gesamten Jahrgang. Mathematikvorlesungen waren nicht unbedingt ein Frauenmagnet. Es war ein Dienstag Vormittag gewesen, als zwei von ihnen auf einmal neben ihm gestanden, und ihn gefragt hatten, ob er in ihrer Lerngruppe mitmachen wollte. Sie hatten wohl auch sonst schon immer viel zusammen unternommen, außer zu lernen, an diesem Abend wollten sie ins Kino. Die eine hatte ihn eingeladen mitzukommen. Sie war dabei ganz schön rot geworden. Und dann hatte Julian es einfach gesagt. "Ich steh nicht auf Mädchen." Er hatte auch nur seine Ruhe haben wollen.
Die beiden hatten sich einen Augenblick angesehen, mit den Schultern gezuckt und gemeint, "Okay, dann um halb acht?"
"Was machen die Idioten denn da draußen?" Genervt strich Helene sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht.
"Sieht aus, als würden sie den Grill anheizen!" Carina lächelte gestresst. Ihr Söhnchen war nicht mehr zu sehen. Sie konnte nur hoffen, der fast Dreijährige würde nicht wieder etwas anstellen. "Lass sie doch. Es ist so schön, dass er da ist."
Weil Julian von Anfang an so wenig geredet hatte, wurde er von den Mädchen für einen wahnsinnig guten Zuhörer gehalten. Außerdem wussten alle, dass nie etwas laufen würde. Darum erzählten sie ihm praktisch alles. Jedes Geheimnis! Und er schwieg wie ein Grab.
Um ihn herum waren immer Menschen. Zuerst waren es nur Mädchen gewesen. Und dann irgendwann auch Jungs, vermutlich, weil sie es auf die Mädchen abgesehen hatten.
Irgendwann hatte er die Idee gehabt, sich einen Nebenjob zu suchen. Auch, weil es ihm schon immer unangenehm gewesen war, seine Mutter um Geld zu bitten. Er hatte einen gefunden, der ihm sehr lag. Ein bis zwei mal die Woche fuhr er einen Kleintransporter wahlweise nach München oder Stuttgart, wechselte dort das Fahrzeug, und kam mit dem anderen wieder zurück. Gewöhnlich nachts. Im Grunde also nur, alleine sein, fahren und dabei Radio hören. Drei Dinge, die er mochte. Und dafür wurde er auch noch bezahlt. Perfekt!
Seine Chefin war eine quirlige Mittfünfzigerin, mit schriller Stimme und einer Vorliebe für auffällige Brillen. Sie war seit dreißig Jahren im Transportgeschäft, und stand in dem Ruf, alles und jedes in kürzester Zeit von A nach B befördern zu können. Auch, wenn es beispielsweise nur ein einziger, verschlossener Umschlag war und man die Straßenverkehrsordnung eher als so eine Art unverbindliche Empfehlung sehen musste, um ihn rechtzeitig abzuliefern. Gelegentlich gab es also die ein oder andere Aktion, die gelinde gesagt grenzwertig war. Julian hatte keine Probleme damit. Im Gegenteil. Das hatte sie schnell gemerkt. Er war bald ihr Ass im Ärmel geworden.
"Carina, dein Kuchen ist super!"
Olivia, Carina und Helene hatten es sich um den Küchentisch bequem gemacht. Der Kleine spielte draußen bei Andi, Tom und Julian.
"Danke, Olivia. Ich muss jetzt aber wirklich fahren. Ich kann meine Mutti nicht so lange mit dem Baby alleine lassen."
"Willst du gar nicht auf die Maroni warten?"
Helene verdrehte die Augen. "Geh, bitte! Die verbrennen doch eh!"
Julian war irgendwann ständig von Menschen umgeben gewesen. Einsam hatte er sich trotzdem gefühlt. Etwa in der Mitte des dritten Semesters hatte er Oliver kennengelernt. Er war etwas älter gewesen und hatte Möbel restauriert. Oder so.
Olivers Wohnung hatte über einer kleinen Bäckerei unter dem Dach gelegen. Julian war nie geblieben. Nie bis zum Morgen. Aber für eine Stunde oder zwei war immer alles gut gewesen.
Es hatte nur nicht angehalten. Sobald die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen, und er an der Treppe gewesen war, war dieses Gefühl zurück. Er hatte es nicht richtig beschreiben können. Konnte es noch immer nicht. Es war in etwa gewesen, als würde er von etwas das es gab, das es sicher geben musste, immer nur einen kleinen Teil bekommen.
Nach ein paar Wochen war das dann auch vorbei gewesen. Oliver hatte ihn noch oft angerufen.
"Achtung, heiß!" Tom kam mit einer großen Schüssel in die Küche. "Und Maroni hab ich auch dabei!"
Olivia schüttelte lächelnd den Kopf, Helene verzog das Gesicht. "Hältst dich wohl immer noch für unwiderstehlich, was?"
"Sieh mich an, Baby! In mir gipfelt die männliche Evolution!"
"In dir gipfelt höchstens der männliche Schwachsinn!"
"Manche Dinge ändern sich nie", meinte Julian leise zu Andi. Beide konnten sich ein Grinsen nicht verkneifen.
"Was denn?!", keifte Helene. "Er hat es geschafft, ein paar Kastanien über einem Feuer zu rösten! Sollen wir ihm dafür den Nobelpreis verleihen, oder was?!"
"Ich hab", schnaubte Tom und baute sich vor der Blondine auf, "den Baum gefunden. Ich hab ihn mit meinen eigenen Händen gefällt, die Äste abgehackt, in bitterer Kälte die Maronen aufgesammelt. Ich hab sie durch den Schnee vom Gipfel des Berges ins Tal getragen. Ich hab Feuer gemacht. Ich hab alles getan", seine Stimme erstarb theatralisch, "nur, um euch Mädchen glücklich zu sehen!"
"Du hast die Dinger bei Lidl gekauft."
"Weihnachten steht vor der Tür. Also leck mich!"
"Stand das in deinem Brief ans Christkind?"
"Ne. Dieses Jahr wünsch ich mir das von einer, die mir gefällt!" Dafür bekam Thomas von Helene ein paar so kräftige Schupse verpasst, dass er unter lautem Gelächter seiner Freunde rückwärts ins Wohnzimmer stolperte und auf der Couch landete.
"Sage ich doch", meinte Julian zufrieden. "Manche Dinge ändern sich nie."
Dann war das fünfte Semester gekommen. Julian war in den Ferien davor nicht daheim am Attersee gewesen. Nicht ein Mal. Er hatte so viel gearbeitet, wie man ihn ließ. In der Nacht war er gefahren, und am Tag hatte er geschlafen. Wenn er frei gehabt hatte, war er unterwegs gewesen. Klettern in den Bergen, oder Kitesurfen an einem der einigermaßen erreichbaren Seen. Oft hatte er sich dafür ein Auto in der Firma borgen dürfen.
Im fünften Semester war alles anders geworden. Er war einer Handvoll Menschen begegnet, mit denen er gerne zusammen war, die er wirklich mochte.
Stefan und Lui waren solche Menschen. Wenn jemals irgendwer etwas über ein ungleiches Paar sagen würde, hätte er bestimmt für den Rest seines Lebens Stefan und Lui vor seinem geistigen Auge. Sie waren seit dem Gymnasium zusammen, und so unterschiedlich, wie zwei Menschen nur sein konnten. Der Jus-Student Stefan war ein großer, blonder, sehr ernster, in sich gekehrter junger Mann, der eine beeindruckende Sammlung an Hemden besitzen musste. So lange Julian ihn kannte, hatte er ihn nie in einem anderen Kleidungsstück gesehen.
Lui dagegen, war ein kleiner, schlanker, äußerst lebhafter Bursche mit asiatischen Gesichtszügen, mutigem Haarschnitt mit Strähnen in knalligen Farben, im Moment leuchtendes Pink, und ebenso auffälliger Kleidung. Gewöhnlich glitzerte dazu noch irgendwo etwas an ihm. Und wenn es seine Fingernägel waren.
Stefan war ein entfernter Cousin von Emma. Er war den beiden zum ersten mal bei ihr zuhause begegnet. In der Küche ihrer WG. Mit ihr hatte alles angefangen.
"Kinder, ich bin da!" Marlene war zurück im Weihnachts- Wahnsinns- Wunderland, das einmal ihr Erdgeschoss gewesen war. In diesem Jahr hatte sie sich mit der Deko endgültig selbst übertroffen.
"Setz dich, es gibt Glühmost und Maroni!", ließ Tom die Mutter seines besten Freundes wissen.
"Ich muss erst mal meine Einkäufe ..."
"Ich mach das, Mama. Setz dich."
"Na ja. Einen vielleicht." Da hatte Tom ihre Tasse schon bis oben hin voll gemacht und ihr von hinten ein Busserl auf die Wange gedrückt. Er hatte auch Selbstgebrannten von seinem Opa dabei. Für später. Für den Jägertee. Oh, ja. Er würde sie alle heute noch abfüllen.
Julian war daheim bei ihr. Alleine das hätte schon genügt, um Marlene glücklich zu machen. Und ihr Junge sah nach langer Zeit wieder viel besser aus. Endlich!
Noah würde die Feiertage bei seiner Familie verbringen, und dann herkommen, um Silvester mit ihnen zu feiern. Sie mochte Noah. Er tat ihm gut.