Es war ja wirklich erstaunlich ruhig in dieser Nacht. Schwester Carmen war es nur recht. Sonst hatte sie selten Zeit, sich länger zu unterhalten. "Und? Haben Sie mal mit ihm darüber geredet?"
"Worüber?"
"Den Kuss natürlich!"
"Ach so. An dem Abend nicht. Ein paar Tage später war er dann mal alleine in unserer Küche. Da habe ich es versucht."
"Nicht gut gelaufen?"
"Weiß nicht. Ich ... Ich habe ihn gefragt, ob zwischen uns alles in Ordnung ist. Weil ... es irgendwie komisch war. Für mich."
"Na los, weiter im Text!" Sie wartete gespannt. "Was hat er gesagt?"
"Gar nichts. Er hat gar nichts gesagt. Er hat sich das angehört, und ist dann einfach gegangen. Nicht nur aus der Küche, gleich aus der Wohnung."
"Ach."
"Ja. Ich meine, er sagt ja generell nicht viel. Aber das hat es wirklich nicht besser gemacht", lächelte Noah gequält.
"Haben Sie ihn deshalb angeschrien?"
"Nein. Nein, das war dann erst kurz nach den Semesterferien."
"Und wieso?"
"Weil er andauernd so verrückte Sachen macht. Manchmal kommt es mir vor, als würde er mit Gewalt versuchen, sich umzubringen."
Julian hatte mit drei seiner Arbeitskollegen aus der Transportfirma an einem der Stehtische der Kneipe gestanden, in der sie gelegentlich Abends noch etwas getrunken hatten. Die Stimmung war gewaltig ausgelassen gewesen, während sie alle mit zusammengesteckten Köpfen auf das Display eines Handys sahen. "Seht euch das an!", hatte der mit dem Telefon in der Hand gerufen. "Die Strecke in der Zeit! Alter! Das war eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 176km/h!"
"Ja. Scheiß Baustellen", hatte Julian genervt gemeint.
"Mann! Hab gar nicht gewusst, dass du einen Motorradführerschein hast!"
Sie waren so laut gewesen, dass Noah, ein paar Meter weiter, das Gespräch mitbekommen musste.
"Hey!", schüttelte der Dunkelblonde den Kopf. "Sie hat nicht gefragt, ob ich einen Führerschein habe. Nur, ob ich das Ding fahren kann!"
Die anderen drei brüllten vor Lachen, klopften ihm auf die Schultern und klatschten sich ab.
Noah hatte sein Bier stehen lassen, sich seine Jacke gegriffen, und war hinaus gerannt. Einfach an die Luft.
Einen Augenblick später hatte Julian hinter ihm gestanden. "Ist dir schlecht?"
"Sag mal ... spinnst du?!"
"Was denn?!"
"Du fährst Anfang März eine Rennmaschine mit hundertachtzig Sachen über die Autobahn?! Und hast nicht mal einen Führerschein?!"
"Ist doch nichts passiert."
Noah war vollkommen fassungslos. "Hast du einen kompletten Vogel? Willst du draufgehen, oder was?!"
"Kann dir doch egal sein, was ich mache!"
"Ist es auch!", hatte er geschrien. "Scheißegal sogar!"
"Warum regst du dich dann so auf?!", hatte Julian zurück gebrüllt.
"Ich rege mich nicht auf!" Das war so laut gewesen, dass es einen Moment lang ausgesehen hatte, als wäre der Jüngere zusammengezuckt. "Ich rege mich niemals auf, verdammt!"
"Und da haben Sie beide sich zuletzt gesehen?"
"Ja." Noah machte wieder die Augen zu und drückte die Hand in seiner ein wenig. Er war so müde.
"Also gut", seufzte die Frau. "Ich werde mal eine Ausnahme machen."
"Ja?"
"Ja. Schließen Sie mich dafür in Ihr Abendgebet ein", scherzte sie.
"Danke, Schwester Carmen", lächelte er glücklich. "Sie sind ein Schatz."
"Ja, danke Schwester Carmen", stimmte Julian ihm leise zu. "Sie sind ein Schatz!"
"Sieh mal einer an." Sie war bereits aufgestanden, und grinste die beiden fröhlich an. "Wen haben wir denn da?!"
Noah hatte anscheinend kurzfristig aufgehört zu atmen.
"Keine Schweinereien in meiner Schicht, klar?", zwinkerte sie. Und dann war sie auch schon durch die Tür.
Sie hatte das Nachtlicht angelassen. Julian hob kurz den Kopf und sah Noah an. "Ich versuche also mich umzubringen, hm? Wieso liegst du dann hier und nicht ich?"
"Blöd gelaufen. Wie lange ... bist du denn schon wach?"
Der Jüngere zuckte mit den Schultern. "Eine Weile."
"Und was machst du hier?"
"Vielleicht war mir langweilig."
Mist. Noah biss sich auf die Lippen, und schloss die Augen. Er machte sie erst wieder auf, als die Haare des anderen ihn im Gesicht kitzelten. "Und? Jetzt?"
"Hm?", murmelte Julian.
"Vie... Vielleicht sollten wir ..."
"Ja, du hast recht. Gelobt sei Schwester Carmen, in Ewigkeit, Amen."
"Idiot." Der Ältere hatte lachen müssen. Was nicht gut war. Das tat immer noch furchtbar weh. "Wie viel hast du gehört?", fragte er nach einiger Zeit sehr leise.
Julian war direkt über ihm. Er antwortete nicht, schüttelte nur den Kopf. "Hast du Schmerzen?"
"Ich weiß nicht. Irgendwie spüre ich mich gerade nicht."
"Ja. Ich mich auch nicht", meinte er nachdenklich und legte sich wieder neben ihn.
"Bei dir ist das der Normalzustand, oder?"
"Kann schon sein."
"Machst du deshalb all diese irren Dinge? Weil du dich dann spürst?"
Julian vergrub sein Gesicht im Ärmel von Noahs Nachthemd. "Schlaf."
Genau das wollte er auf keinen Fall. Er wollte unbedingt wach bleiben. Vielleicht war er ja wirklich total high von den Schmerzmitteln, die die gute Schwester Carmen ihm so großzügig in seinen Infusionsbeutel gespritzt hatte? Damit kannte Noah sich nicht aus. Abgesehen von diesem einen Joint damals, schon komisch was ihm auf einmal alles einfiel, diesem Joint, von dem ihm furchtbar schlecht geworden war. Es war ihm noch nie wie eine Bildungslücke vorgekommen, aber jetzt wünschte er sich, er hätte mehr Erfahrungswerte!
Wenn es so war, bildete er sich das hier jedenfalls nur ein. Schwester Carmen, Julian und die Hand in seiner. Oder Noah schlief und träumte schon längst? Hätte alles sein können! Aber was, wenn nicht?
Er hatte noch nie zu den Menschen gehört, die einfach so in den Tag hinein lebten. So ganz planlos. Für das hier hatte er allerdings keinen. Plan. Bis hier hin zu denken, geschweige denn darüber hinaus, hatte er sich nie getraut. Aber bisher hatte ihm auch noch nie der Tod in den Arsch getreten.
Vorsichtig sah Noah an seiner Seite nach unten.
"Julian? Du, ich ..." Er hielt die Hand in seiner noch immer fest. "Könntest du dir denn vorstellen ... ich meine ..."
Julian schaute ihn an, aber er sagte nichts.
"Ich meine ... so ... grundsätzlich jetzt ..."
Noch immer nichts. Er hörte zu.
"... also nicht ... allgemein ... so... sondern jetzt ... dich, dich und ... und mich ..." Himmel! Das hatte Noah sich nicht halb so schwer vorgestellt! Er hätte sich das besser überlegen sollen. Nicht das Thema. Nur die richtigen Worte. "Kannst ... kannst du vielleicht auch mal was sagen? Das wäre einfacher, wenn du auch mal was sagst!"
Julian nahm das Gesicht des Anderen vorsichtig zwischen seine Hände, es hatte bei dem Unfall ja auch ganz schön was abbekommen, und küsste ihn sacht auf die Lippen. "Und du?"
"Ich?"
"Ja, du." Der Jüngere sah sehr nachdenklich aus. "Noah? Warum weinst du?"
"Ich ... ich habe Angst."
"Ja. ich auch."
"Das wollte ich jetzt genau nicht hören."
"Was willst du denn hören?"
"Sag mir einfach, dass alles gut wird."
"Alles wird gut, Noah."
"Ja." Der Ältere atmete einmal tief durch. "Danke. Du kannst das trotzdem ruhig noch öfter sagen!"
"Noch nicht genug Sterne, hm?", fragte Julian und küsste ihn nochmal, weil er keine Antwort bekam. "Wie sieht`s jetzt aus?"
In einem Anflug von grenzenlosem Mut, so ein Arschtritt vom Tod ist da enorm hilfreich, setzte Noah alles auf eine Karte. "Reicht nicht."
"Nicht?"
"Nein. Das kannst du besser."
"So ganz ohne Gemüse? Ich weiß nicht", lächelte Julian.
Okay. Der Ältere machte die Augen fest zu. Das war es dann gewesen, mit dem Mut. Grenzenlos höchstens noch die Scham, Julian hatte es nicht vergessen!
Den Kuss bekam Noah dann trotzdem. Einen richtigen, langen, absolut perfekten Kuss, den kein Grünzeug der Welt noch hätte besser machen können!
"Und? Wie sieht`s jetzt aus?"
"Ja!" Noah legte einen Arm um ihn, und drückte ihn an sich. "Das ... das ... Ja!"
"Na, dann schlaf jetzt endlich. Du hast Schatz gehört. Keine Schweinereien in ihrer Schicht!"
Scherzkeks, was?! Als ob er da noch hätte schlafen können! Bis er Julians tiefe, gleichmäßige Atemzüge neben sich hörte, dauerte es allerdings nicht lange. Es hätte umgekehrt sein müssen.
Wer Julian nicht kannte, hielt ihn für einen sehr ruhigen Menschen. Er dachte viel, redete wenig und machte fast den Eindruck, als müsste man sich ein bisschen um ihn kümmern. Aber so war das nicht.
In Julians Kopf war es nie ruhig. Er zeigte es nur nicht. Er lebte ohne Gestern und Morgen. Ständig getrieben von etwas, das nicht greifbar war. Er lernte so viel, damit er etwas zu tun hatte, und nicht darüber nachdenken musste. Was immer es auch war. Und all diese irren, gefährlichen Dinge, tat er um nicht verrückt zu werden. Noah wusste das längst.
Er hatte keine Ahnung, was das hier werden würde. Oder ob überhaupt. Aber zumindest diesen Moment hielt er fest, so lange es nur ging. Bis er selbst einschlief. Was morgen wäre ... keine Ahnung.
"Qu'elle surprise!"
Als Noah die Augen aufmachte, saß Lui auf einem der Sessel in seinem Zimmer. Der junge Mann strahlte mehr, als der Schriftzug "less drama, more glitter", der aus pinken Pailletten geschrieben, auf der Vorderseite seines T-Shirt zu lesen war. Julian hatte ihm das Teil zum letzten Geburtstag geschenkt. Lui hatte die Füße auf dem Tisch, spielte mit einem glitzernden Schlüsselanhänger und aß dabei Gummibärchen. Die Aufregung stand ihm förmlich ins Gesicht geschrieben!
"Wie kommst du denn um diese Zeit hier rein?", fragte Noah ihn verschlafen.
"Ich? Na hör mal, ich komme überall rein! Ich bin umgänglich und sympathisch. Wahrscheinlich, weil ich das Mittelkind bin. Mir kann man einfach keinen Wunsch abschlagen, mich mag ja einfach jeder, und ..."
"Du, Lui, ..." Noah war wirklich verunsichert. Er und Julian hatten sich geküsst, okay. Noah wusste nur, was es ihm selbst bedeutete. Aber er wusste nicht, was es Julian bedeutete. Oder ob es ihm überhaupt etwas bedeutete. Der Andere schien in seinem Arm noch tief zu schlafen. Es war kaum etwas von ihm zu sehen. Irgendwann in der Nacht musste er unter die Decke geschlüpft sein. Vielleicht war es ihm gar nicht recht, dass ihn hier jemand sah.
"... ich mache mir Sorgen, hör mal!", plauderte Lui unbeirrt weiter. "Warum denken immer alle, sie wären mir egal?! Na gut, die meisten Menschen sind mir egal, aber die sind dann auch alle selbst schuld. Ich musste doch mal nach dir sehen! Obwohl ich ja überhaupt kein Morgen..."
"Lui?"
"...mensch bin. Also wirklich, ich mag das nicht! Dieses frühe Aufstehen kann unmöglich gesund sein. Das bringt jetzt sicher meinen Biorhythmus für Wochen total durcheinander!" Unleidlich pustete er sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie passte farblich zu den Pailletten. "Ich bin ja so froh, dass ich eine Ausnahme gemacht habe, du! Also ich muss dir ehrlich sagen", er holte tief Luft, "das hier", euphorisch deutete er mit ausgestreckten Zeige- und Mittelfingern auf die beiden jungen Männer vor sich im Bett, "ist ja wohl ein echter Knall..."
"Lui!" Das war zu laut gewesen. Julian rührte sich und machte die Augen auf.
"Knaller! Jetzt muss nur noch einer sagen, das ist nicht so, wie es aussieht!", grinste Lui wie ein Kind an Weihnachten und warf sich restlos begeistert noch ein Gummibärchen ein.
Julian setzte sich auf und rieb sich ein paar Mal mit den Händen über sein Gesicht.
Ausgerechnet Lui. Der konnte doch kein Geheimnis für sich behalten! War es eines? Wäre es nach Noah gegangen, nicht. Das hatte er längst mit sich ausgemacht. Julian sah auf ihn hinunter und Noah wusste nicht, was er jetzt tun oder sagen sollte.
"Weißt du was, Lui?" Julian blickte Noah ruhig und ernst an, sich jene Rückversicherung holend, die keiner gesprochenen Worte zwischen ihnen beiden bedurfte. "Das ist genau so, wie es aussieht!"
Noah war noch nie so erleichtert gewesen. Er hatte auch noch nie so große Angst gehabt wie in diesem Moment, aber so glücklich war er auch noch nie gewesen!
Gelobt sei Schwester Carmen. In Ewigkeit, Amen!