"Morgen!"
"Was soll daran gut sein?"
"Guten habe ich nicht gesagt! Und es ist fast fünfzehn Uhr!"
"Keine Details", knurrte Mael. "Welcher Tag?"
Loris riss ihm die Decke weg. "Verdammt, Sunny! Wach auf!"
"Was machst du eigentlich um diese Zeit zuhause?" Irgendwie hatte er gerade keinen Plan. "Außer mir auf die Nerven zu gehen?"
"Dein Vater versucht seit Stunden, dich zu erreichen!" Hektisch sah der große Blonde sich um. "Wo ist dein Handy?"
"Keine Ahnung." Missmutig griff er nach der Decke und wickelte sich wieder ein.
"Ah! Direkt neben den Grundnahrungsmitteln!" Der andere hatte es gegenüber auf der kleinen Kommode, bei den Zigaretten und einer fast leeren Flache Armagnac gefunden, und sofort eingeschaltet. "Ruf ihn an!"
"Mm. Mach ich dann. Später." Er hatte sich schon wieder umgedreht.
Ein paar Sekunden war es ruhig, und dann brach ein Orkan über Mael herein, den er so nicht mal gut gelaunt und ohne Kater unbeschadet hätte überstehen können. Loris packte fluchend den Rand der Bettwäsche und riss ihn mit einem so kräftigen Ruck nach oben, dass der Dunkelhaarige sofort mit gewaltigem Schwung auf den Holzboden krachte.
"Wa... Aua! Ey, spinnst du?!"
"Nimm dich verflucht nochmal zusammen!", schrie sein bester Freund ihn an. "Wach jetzt endlich auf, Mann!"
"Für einen Pastor hast du eine ganz schön harte Wortw..."
"Sunny! Es ist etwas mit deiner Schwester."
Mael nahm den nächsten Flug. Fleur war seine Halbschwester. Sie hatten die gleiche Mutter. Die junge Frau hatte in den frühen Abendstunden des vergangenen Tages einen Autounfall in einem Vorort von Paris gehabt. Der sturzbetrunkene Fahrer eines SUV hatte ihren Kleinwagen buchstäblich abgeschossen. Ihr Mann Jerome, der am Steuer gesessen hatte, war sofort tot gewesen. Sie selbst hatte noch etwa zwei Stunden gekämpft, jedoch ohne noch einmal zu Bewusstsein zu kommen. Was vielleicht auch besser gewesen war. Aber wer will sowas schon beurteilen.
"Das Baby?", hatte Mael weinend seinen Vater am Telefon gefragt. "Junge, ich bin nicht sicher. Ich weiß es nicht."
Die kleine Ella war zuhause gewesen. Sie hatte schon geschlafen. Eine Nachbarin war in der Wohnung geblieben, um auf das sechs Monate alte Mädchen aufzupassen. Die alte Dame war es auch gewesen, die gegen Mitternacht die Polizei gerufen hatte. Die Eltern waren sonst hundert prozentig zuverlässig. Sie hätten längst zurück sein müssen!
Morgens gegen drei, hatten die Beamten schließlich so leise wie möglich an die Tür im zweiten Stock eines Hauses in der Rue de Saint-Simon geklopft. Und dann erst mal alle Hände voll zu tun gehabt, die völlig aufgelöste Madame Dubois zu beruhigen, die schließlich zugestimmt hatte, die Polizisten in der Wohnung nach Adressen oder Telefonnummern von Angehörigen suchen zu lassen.
Jerome war ein Einzelkind gewesen, seine Eltern bereits verstorben. Andere nahe Verwandte gab es nicht. Sie hatten einen Zettel mit der Nummer von Fleurs Mutter am Kühlschrank gefunden. Die war aber nicht erreichbar gewesen. Was Mael später überhaupt nicht wunderte. Es hätte ihn überrascht, wenn es anders gewesen wäre.
Madame Dubois hatte sich aber an Mael erinnert. Den außerordentlich gut aussehenden Mann, den die junge Nachbarin vor einigen Monaten als ihren Bruder vorgestellt hatte. Außerordentlich gut! Sie hatte das mehrmals betont, fast so, als hätte sie sich selbst seiner Existenz versichern müssen.
Es hatte aber dann noch mehrere Stunden gedauert, bis man Fleurs Handy im Autowrack gefunden hatte und entsperren konnte. Unter Maels Nummer hatte die Beamtin auch nach mehrmaligen Versuchen keinen Erfolg gehabt. Also hatte sie die nächstbeste gewählt. Papa.
Fleur hatte nie einen Vater gehabt, das hatte die Frau aber nicht wissen können. Nach zweimal klingeln, hatte sie Paul Emanuel Winter am anderen Ende der Leitung gehabt. Den Vater von Fleurs Halbbruders Mael.
Als Mael endlich ankam, musste er feststellen, dass man Ella abgeholt hatte. Mehrere Freunde des Paares hatten versucht, die Mitarbeiter des Jugendamtes davon zu überzeugen, das Kind in ihrer Obhut zu lassen. Vergeblich. Er durfte es einmal kurz sehen. Dann ging alles sehr schnell. Und auch nicht.
Für Mael war es, als wäre er nicht mehr da. Vollkommen überfordert von dem was da alles über ihn herein brach, schwankte er nur noch in einem Zustand zwischen Ohnmacht und lähmendem Schmerz. Das war gar nicht mehr vergleichbar, mit allem was er bis dahin gekannt hatte. Mit nichts davon! Ein Albtraum aus Dunkelheit und Kälte, aus dem es kein Erwachen gab.
Sein Vater und einige Menschen die er nicht mal kannte, halfen ihm die Trauerfeier zu organisieren. Er war unendlich dankbar dafür. Er hätte nicht gewusst, wie er das hätte anfangen sollen.
Der Rechtsanwalt aus der Wohnung unter der seiner Schwester, drückte ihm mitfühlend die Hand und meinte, er würde sich um alles kümmern. Mael solle sich keine Sorgen machen.
Keine Sorgen machen! Oh Gott!
Die Mühlen der französischen Justiz malten beeindruckend schnell. Es gab zwei rechtsgültige Testamente, die beide Mael zum Vormund für Ella bestimmten. Davon hatte er keine Ahnung gehabt. Das Familiengericht prüfte den Antrag und stellte auf Anraten einer Jugendamtsmitarbeiterin, die mehr als angetan von ihm gewesen war, obwohl sie gerade einmal fünf Minuten mit ihm gesprochen hatte, in Windeseile einen positiven Bescheid aus. Zum Wohle des Kindes. Oder der Mitarbeiter des Jugendheimes, die über die Feiertage eine Sorge weniger hatten. Und dann drückten sie ihm das kleine Mädchen in die Arme, und wünschten ihm alles Gute. Und Bonne Année.
"Sollte einer wie du ein Kind großziehen?", hatte Loris ihn entsetzt am Telefon gefragt.
"Einer wie ich?!"
"Ein Chaot vor dem Herrn!"
Mael war verzweifelt. Der andere konnte es an seiner Stimme hören. "Loris ich weiß nicht, was ich tun soll."
"Ich kann diese Entscheidung nicht für dich treffen, Sunny."
"Ein Auktionskatalog? Ist das dein Ernst?" Ariane Winter zog missbilligend eine Augenbraue nach oben.
"Ich könnte ihr auch den Börsenbericht vorlesen", entgegnete Mael leise. Das Kind war eben wieder eingeschlafen. "Es ist völlig egal." Er hatte in den letzten Tagen tatsächlich herausgefunden, dass es der kleinen Ella nicht wichtig war, was sie hörte. Nur dass sie etwas hörte. Vorsichtig schloss er die Tür hinter sich.
"Hast du dich entschieden?"
"Lass mich in Ruhe."
"Mael." Sie hielt ihn am Ärmel fest. "Sie gewöhnt sich an uns." Seine Stiefmutter hatte recht.
Er war im Haus seines Vaters. Er hätte auch nicht gewusst, wo er sonst hätte hingehen sollen. Ihm war klar gewesen, dass er Hilfe brauchen würde. Nicht klar gewesen war ihm, wie sehr! Er hatte wirklich keine Ahnung davon gehabt, was es bedeutete, Tag und Nacht die Verantwortung für ein Kleinkind zu haben. Nicht mal den blassesten Schimmer. "Hast du mit dem Anwalt geredet?"
"Ja." Er setzte sich in einen Sessel.
Sie zog den Gürtel ihres Morgenmantels etwas enger. Es war mitten in der Nacht. "Niemand erwartet von dir, dass du das Kind behältst. Je länger du dir Zeit lässt, umso schwerer wird es für sie."
"Ich weiß."
So schlecht wie er aussah, so blass und müde, tat er ihr fast leid. "Ich habe mit Paul gesprochen. Sie könnte bei uns bleiben."
Mael antwortete ihr nicht.
"Es ist immer noch besser als eine Pflegefamilie. Es sei denn ... Du hast beschlossen, sie zur Adoption frei zu geben?"
"Was geht dich das an."
"Verstehe. Du verdammtes, selbstgefälliges Arschloch gibst sie eher fremden Menschen, als mir."
"Das ist es nicht."
"Nicht?"
"Nein. Ich muss dir ehrlich zugestehen, dass du eine gute Mutter bist. Ja, wirklich. In deinem grenzenlosen Egoismus und all deiner Selbstherrlichkeit, machst du konsequent eine Ausnahme, wenn es um deine Tochter geht. Hätte ich dir Schlampe nie zugetraut."
"Deine Komplimente sind die schönsten von allen. Was ist es dann?!"
"Fleur und Jerome ..."
"Keine Ahnung, was die beiden sich dabei gedacht haben! Dir würde ich nicht mal ein Meerschweinchen anvertrauen!"
"Ich hasse dich auch."
"Du kriegst ja nicht mal dein eigenes Leben auf die Reihe. Du stinkfauler Mistkerl bist fast dreißig, und lebst noch immer vom Geld deines Vaters. Herzlichen Glückwunsch, du kannst wirklich stolz auf dich sein!"
"Wer hätte gedacht, dass wir beide mal etwas gemeinsam haben?!"
Sie funkelte ihn bitterböse an. Die Zeiten, in denen sie ihn gemocht hatte, waren längst vorbei. Sogar die, in denen sie wenigstens noch so getan hatte, als ob. "Ach, weißt du was? Von mir aus, bade ruhig weiter in dem Gift und der Galle, die dein Leben sind. Vielleicht haben wir alle Glück, und du ersäufst darin! Und nur damit du es weißt," setzte sie giftig nach. "Das mit Marcello verzeihe ich dir nie!"
"Wem?"
"Meinem Friseur!"
Er konnte sich schwach erinnern.
"Du hast ihm das Herz gebrochen, Mael. Er ist weggezogen!" Eingeschnappt warf sie den Kopf in den Nacken.
"Geh zu einem anderen. Gibt doch genug."
"Ja, genau", zischte sie, "es gibt genug, warum musste es ausgerechnet meiner sein?!"
"Du wirst es überleben."
"Er war ein Künstler." Sie hörte sich an, als würde sie gleich anfangen zu weinen. "Niemand brachte diesen Blondton so hin, wie Marcello. Niemand!" Ariane drehte sich um und rauschte davon. "Mael?" Kurz war sie noch einmal stehen geblieben. Aber sie sah ihn nicht an. "Warte nicht zu lange", sagte sie leise.
Das durfte doch alles nicht wahr sein. Er hatte geglaubt, in seinem Leben könnte es nicht mehr schlimmer kommen. Mit dem Kopf in den Händen saß er in diesem Sessel und weinte.
Ihm fiel das glückliche kleine Mädchen mit der gelben Luftmatratze ein, das er vor einigen Jahren einmal über eine Straße getragen hatte. Keine Ahnung, warum er gerade jetzt an sie denken musste. Er konnte sich beim besten Willen nicht mehr an ihren Namen erinnern.
Leise stand er auf, und öffnete noch einmal die Tür zu Ellas Zimmer. Das Kind schlief friedlich in seinem Bettchen. Leicht hob und senkte sich bei jedem Atemzug die bunte Decke über ihm.
"Na?", flüsterte er. "Hast du kurz Zeit? Dann hör mal zu, du Krümel. Ich muss nämlich mit dir reden." Ihm brach gerade das Herz. Oder das, was davon noch übrig war. "Weißt du, die Wahrheit ist, sie haben alle recht. Ich kann das gar nicht. Ich ... ich kann mich nicht um dich kümmern, aber das ist nicht schlimm für dich. Ich wünschte, es wäre anders. Ich wünschte, ich wäre anders! Aber ich bin wirklich keiner, mit dem du leben willst, das kannst du mir glauben. Ich ... ich bin auch überhaupt kein Morgenmensch, und du ja schon." Er lächelte, obwohl ihm nicht danach war.
"Da sind so viele ... du hättest nie eine Mutter. Ich hätte immer gerne eine Mutter gehabt, Ella. Okay, theoretisch hatte ich eine. Aber wenn du deine Oma kennen würdest ... Ich fürchte, du wirst sie kennen lernen, sie ist auf dem Weg hier her. Ariane freut sich schon." Der Anflug eines gehässigen Grinsens huschte ihm über das Gesicht. "Stell dir vor, sie war in einem Ashram in Indien auf der Suche nach sich selbst. Die sucht sich schon ihr Leben lang," seufzte er. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich ausgerechnet diesmal gefunden hat. Was meinst du, hm?"
Sacht legte er das bunte Schmuse-Schäfchen, das sie so mochte, näher an die winzige Hand. "Die Wahrheit ist ... ich bin der letzte, der sie kritisieren darf. Ich habe mich auch verloren. Ich weiß noch nicht mal, wo ich suchen soll.
Du hast etwas Besseres verdient, als das hier. Diese völlig gestörte Familie. Und vor allem hast du etwas Besseres verdient, als mich. Und darum mache ich das. Ich mache es für dich. Vergiss das nie. Oder nein," besann er sich eines Besseren. "Vergiss alles. Ja, ich hoffe, du kannst alles vergessen und ganz neu anfangen! Das wünsche ich mir so sehr für dich, und dafür sorge ich. Das verspreche ich dir!
Jemand wird dir schwimmen lernen, Ella. Ich könnte", er hätte wirklich ein Taschentuch gebraucht, "ich könnte nicht mal das. Und das ist doch ziemlich erbärmlich, findest du nicht? Ich mache das weil ...", Mael wischte sich mit dem Ärmel seines Shirts die Tränen aus dem Gesicht. "Ich hab dich unendlich lieb, Krümel!"
Er packte seine Tasche. Viel war es ohnehin nicht.
Ein Taxi würde ihn zum Bahnhof bringen. Sein Auto stand noch immer vor Loris' Wohnung in Wien.
Frohes neues Jahr.