Es war das Eine, durch die Augen einer Katze zu blicken, etwas ganz anderes hingegen, das eigene Augenlicht wieder zu haben. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich komplett. Und ihre Ausbildung schien auf einmal viel schneller voranzugehen.
Zuerst zog sie wieder als Lana durch die Strassen von Braavos und verkaufte Muscheln, doch es gab immer wieder Tage, in denen sie im Haus von Schwarz und Weiss blieb und der Heimatlosen bei den Giften half.
Sie lernte, welche Gifte man wie am besten verwendete. Schlafsüss beispielsweise konnte man nicht in einen salzigen Eintopf werfen, man musste es entweder in süssem Wein auflösen oder in einem Kuchen verstecken, damit der süsse Geschmack nicht auffiel. Dieses Gift gehörte zu den wenigen, die in der richtigen Dosierung auch eine positive Wirkung besassen. Eine minimale Menge beruhigte ein aufgebrachtes Herz, zwei Priesen führten zu einem tiefen und traumlosen Schlaf. Nach vier Priesen wachte man nie wieder auf. Was es auch zu einem der schmerzlosesten Gifte machte. Basiliskenblut hingegen war angeblich recht pikant und wurde meistens für Fleischgerichte eingesetzt. Es rief bei allen Warmblütern, also den meisten Tieren sowie den Menschen, gewalttätigen Wahnsinn hervor. Was als Ablenkungsmanöver sicherlich praktisch sein konnte.
Ausserdem lernte sie, wie man vergiftete Kerzen herstellte, auf welches Gift welches Gegengift passte und in welchem Zeitabstand man dieses einnehmen musste. Das Wissen mochte wichtig sein, doch es war nichts, was sie einfach so hätte anwenden können, da sie selbst keinen Zugriff auf die Gifte hatte.
Während dieser Zeit hatte sie auch damit begonnen, die anderen Akolythen zu beobachten um herauszufinden, was sie vielleicht später erwartete. Bisher erfolglos. Einmal hatte sie auch versucht Umma, der Köchin, etwas zu entlocken. Auch wenn sie nicht direkt zu den Männern ohne Gesicht zu gehören schien, war Arya sich ziemlich sicher, dass diese Frau mehr wusste, als sie ihr jemals preisgeben würde. Auf ihre Frage hin hatte sie nur mit ihrer Kelle vor Aryas Nase herumgeschwenkt und gemeint, wenn sie nichts zum Kochen beizutragen habe, solle sie wenigstens nicht im Weg herumstehen.
Doch heute war sie keine Akolythin im Haus von Schwarz und Weiss mehr, nun war sie wieder als Lana unterwegs und unterhielt sich gerade mit Brusco. Er war derjenige, von dem sie die Muscheln jeden Morgen bezog. Sie brachte ihm jeden Abend das Geld und durfte immer einen kleinen Teil des Gewinnes behalten. Wie gross dieser Teil war, hing immer vom Gewinn selbst- und nicht zuletzt Bruscos Laune ab. Diese war durch seine Rückenschmerzen im Moment eher schlecht, aber Arya war ihr Lohn egal, sie arbeitete ja nicht wegen des Geldes hier. Ausserdem war sie für ihre eher schmale Gestalt ziemlich stark und half am Morgen die Kisten herumzuschleppen, was ihr meistens ein paar Münzen extra einbrachte.
„Kann ich morgen mit dir rechnen?“, fragte er.
„Bei Sonnenaufgang, wie immer.“ Damit verabschiedete sie sich und trat den Rückweg zum Tempel an. Obwohl sie momentan keine grösseren Probleme in ihrer Ausbildung hatte – an die blauen Flecken hatte sie sich in der Zwischenzeit gewöhnt - war sie doch immer angespannt und fragte sich, was wohl als Nächstes auf sie zukommen würde. Jaqen hatte ihr damals erklärt, dass man ihr alles nehmen würde, was ihren Charakter ausmachte, aber bis auf das Augenlicht und die Schläge war bisher noch nichts Nennenswertes passiert. Also entweder hielt man sie doch nicht für gut genug, um schon weiter zu machen oder man wollte ihre Geduld auf die Probe stellen. Sie vermutete ersteres. Aufträge hatte sie auch keine weiteren erhalten. Sie schienen auf irgendetwas zu warten, doch worauf?
Während sie zurückging, genoss sie den kühlen Wind auf ihrer Haut. In den freien Städten war von dem rauen Klima aus Westeros sehr wenig zu bemerken, doch die Maester aus Altsass hatten den Herbst schon vor einigen Monaten verkünden lassen und hin und wieder wurde es auch hier etwas kühler. Es erinnerte sie an den Norden. An ihre Heimat, die schon längst völlig zerstört war, an ihre Familie, die längst tot war.
Was mit Sansa passiert war, wusste sie zwar nicht wirklich, doch sie ging nicht davon aus, dass ihre Schwester die Stärke besessen hatte, um diesen Krieg zu überleben. Das Letzte was sie aus Westeros gehört hatte, war, dass es Jaime Lannister gelungen war, die Belagerung in Schnellwasser zu beenden, ihr Grossonkel jedoch geflohen war. Natürlich hatte sie auch die Geschichten über die Festnahme Cersei Lannisters gehört, dummerweise hatte sie ihren Kopf mit einem Trick aus der Schlinge ziehen können, ansonsten hätte Arya sie wohl von ihrer Liste streichen können. Irgendwann würde sie das wohl auch. Genauso wie Walder Frey.
Sie beschleunigte ihre Schritte, als könnte sie damit den Gedanken entfliehen, die sie hartnäckig davon abhielten, zu dem zu werden, was sie sein wollte: Niemand.
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Er war gerade dabei, wieder seiner Arbeit nachzugehen, als ein alter Mann eintrat. Für andere mochte er ein Greis sein, der das Geschenk des vielgesichtigen Gottes erbat, doch er kannte dieses Gesicht. „Valar Morghulis.“
„Valar Dohaeris.“ Der zweite Priester gestellte sich zu ihm und warf einen kurzen Blick um sich. Dieser blieb an dem Besen hängen, der an einer der Wände gelehnt dastand und er lächelte.
„Wir haben also einen neuen Akolythen?“
„Akolythin.“
„Das ist gut. Der vielgesichtige Gott braucht Diener.“ Er wusste, worauf dies anspielte. Vor über zwei Jahren war einer ihrer Männer nach Naath aufgebrochen und niemals zurückgekehrt. Sie hatten von Anfang an gewusst, dass das Risiko dorthin zu gehen, gross war, es gab einfach zu viele Krankheiten, mit denen sich ein Auswärtiger infizieren konnte. Doch ihr Opfer lebte nun mal dort und so war ihnen keine andere Wahl geblieben. Ausserdem hatten sie für den Auftrag sogar noch mehr bekommen als gewöhnlich.
Ein weiterer von ihnen war vor rund drei Jahren nach Asshai geschickt worden und seitdem ebenfalls verschollen. Bei ihm waren sie sich noch nicht sicher, ob er wirklich tot war, alleine die Reise nach Asshai dauerte bei guten Wetterverhältnissen fast ein Jahr. Wäre er damals nicht noch in Westeros gewesen, wäre ihm dieser Auftrag wohl zugefallen.
„Das Mädchen aus Westeros?“, fragte der Ältere der beiden und riss ihn damit aus seinen Gedanken. Natürlich hatte er damals erklären müssen, warum es bei seinem Auftrag in Westeros zu solchen Verzögerungen gekommen war und er hatte alles erzählt. Anstatt wie vorgesehen ein halbes Jahr, war er letzten Endes mehr als doppelt so lange fort gewesen. Auch wenn dies keine Seltenheit war, das Geschenk wurde jedem überbracht, nur liess sich der Zeitpunkt eben nicht bestimmen. Ansonsten endete es nämlich wie in Harrenhall, mit unschuldigen Toten. „Arya Stark.“ Er nickte bestätigend. Mittlerweile hatten sie das Becken mit dem Gift hinter sich gelassen und den kleinen Raum ein Stockwerk tiefer erreicht, der als Arbeitszimmer diente. Ihre Arbeit mochte eher praktischer Natur sein, aber manchmal galt es auch Nachrichten zu verfassen. Neben dem Schreibtisch mit Tinte und Feder gab es in dem kleinen Raum auch zwei grosse Bücherregale. Erhellt wurde das Ganze von einer Laterne und einem Kerzenhalter auf dem Tisch.
„Und wie läuft ihre Ausbildung?“ Bei dieser Frage blickte er fast mechanisch zu dem Stock, den er als letztes hier abgelegt hatte. Selbst durch das schummrige Licht der Kerzen, war noch ein Rest Blut daran zu erkennen.
„Es war mehr Gewalt nötig als sonst. Aber mittlerweile scheint ein Mädchen grössere Fortschritte zu machen.“ „Die Menge der Gewalt hängt immer davon ab, wie der Lehrer unterrichtet.“ Er seufzte, zu erklären, dass er es zu Beginn mit wenig Gewalt versucht hatte, sie aber in mancherlei Hinsicht lernresistent war, nützte wohl nicht viel.
„Sie kann weder gut lügen, noch ihre Identität loslassen. Ihr Rachedurst ist noch zu gross. Sie hat einem Mitglied der Königswache beide Augen ausgestochen und ihm dann die Kehle durchgeschnitten. Und für diese Tat hat sie eines der Gesichter gestohlen.“ Obwohl er sie wegen des Mordes bestraft hatte, wog letzteres fast schwerer. Ihn mit den vielen Gesichtern bestahl man nicht einfach so, wäre sie älter und in der Ausbildung weiter fortgeschritten gewesen, hätte es noch weitaus schlimmere Folgen nach sich gezogen.
„Ich nehme an du wirst deine Gründe haben, um sie noch hier zu behalten.“ Mit dieser Antwort liess der Priester offen, was er davon hielt. Während sie sprachen, fügte der ältere Priester ein weiteres Buch in die Sammlung hinzu, welches er ganz offensichtlich während seines Auftrags erworben hatte.
„Sie hätte das Gesicht wieder zurückgebracht. Und ein Mann glaubt, dass sie gute Dienste leisten kann.“
„Dann verlasse ich mich auf dein Gespür.“
„Da ist noch etwas. Ein Mädchen ist eine Leibwechslerin.“ Der andere Priester lachte.
„Eine hochgeborene Leibwechslerin mit Rachedurst. Da hast du dir ja einiges eingehandelt. Weiss sie mit ihren Kräften umzugehen?“ Er schüttelte den Kopf. Noch immer schien sie diese Träume zu haben, aber sie hielt sich an ihre Abmachung und machte ansonsten von ihren Fähigkeiten keinen Gebrauch.
„Wenn sie die Ausbildung durchhält, sollten wir uns das unbedingt genauer ansehen. Aber du hast ihren Rachedurst erwähnt, von daher würde ich zuerst eine etwas andere Prüfung vorschlagen.“
„Und die wäre?“
„Ich habe bereits einen neuen Auftrag erhalten, aus Lorath. Erst wenn sie mit einem Gesicht die Möglichkeit zur Flucht erhält, wird sich zeigen, ob sie es wirklich ernst meint.“ Dem gab es nichts hinzuzufügen. Auch wenn er sich nicht sicher war, ob Arya wirklich reif genug war, alleine in eine freie Stadt zu reisen, in der sie noch nie gewesen war. Selbst wenn es eine solch kleine wie Lorath war.
„Und wer ist das Opfer?“
„Ein hoher General. Besser gesagt der einzige, den Lorath noch besitzt. Weil die wenigen Krieger, die ihm unterstellt sind, ohnehin nie ausgesendet werden und die letzten Jahre in Lorath sehr friedlich waren, hat er kaum Wachen. Es sollte nicht schwer sein, an ihn heranzukommen.“ Das klang nach einer durchaus lösbaren Aufgabe. Hoffentlich nutzte sie diese Chance. Wenn sie diesen Auftrag bestand, war sie bereit für den nächsten Schritt ihrer Ausbildung, auch wenn sie den Verlust ihres Gehörsinns sicher nicht so positiv sehen würde.
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Arya kehrte wie meistens kurz nach Sonnenuntergang zurück. Er machte sich im Gegensatz zum Anfang nicht mehr die Mühe, sie ständig zu beobachten. Es genügte meist ohnehin ein kurzer Blick in ihr Gesicht um zu sehen, ob irgendetwas Besonderes vorgefallen war. An diesem Tag sah er nichts, trotzdem nahm er sie kurz zur Seite um mit ihr über den Auftrag zu sprechen. Der ältere Priester kam hinzu und musterte sie kurz. Im Gegensatz zu ihm sah er in ihr zum Teil immer noch das kleine freche Mädchen, das mit einem Stock an den Käfig geschlagen hatte um Rorge zu ärgern. Oder eben auch das kalte Biest, das einem Mann die Augen ausstach. Aber wenn man sie so anblickte, war sie keines von beidem mehr. Sie befand sich in diesem undefinierbaren Alter, in dem sie kaum noch ein Kind zu nennen war, erwachsen war sie deshalb noch lange nicht. Dafür steckte dann doch noch zu viel kindliches in ihr, obwohl sie die letzten Jahre ihrer Kindheit nie hatte auskosten können. Und wenn sie hier blieb, würde sie das auch nie.
„Dann bist du also Arya.“
„Ich bin niemand.“ Der Priester sah zu ihm herüber. „Du hast Recht, sie kann nicht lügen.“ Dann wandte er sich wieder ihr zu.
„Warst du schon einmal in einer anderen der freien Städte?“ Sie schüttelte den Kopf. In ihren Augen war die Aufregung zu erkennen, sie machte sich wiedermal gar nicht erst die Mühe, ihre Reaktion zu verbergen. Aber darum würde er sich an einem anderen Tag kümmern.
„Gut. Dann wirst du sie jetzt kennenlernen.“ Damit übergab er das Wort an ihn.
„Ein Mädchen wird nach Lorath reisen und dort einem General das Geschenk überbringen. Sein Name lautet Josamo San‘ka, er lebt an der Nordküste der Stadt. Nur er soll das Geschenk erhalten, egal ob ein Mädchen gesehen wird oder nicht.“ Sie nickte verstehend, ob sie aber im Ernstfall wirklich nur weglief, wagte er zu bezweifeln.
„Und ich darf das alleine erledigen?“
„Nur, wenn ein Mädchen sich das zutraut.“ Er kannte ihre Antwort eigentlich schon, ehe sie es aussprach, sie war vieles, aber nicht ängstlich. Zumindest, wenn ihr alle Sinne zur Verfügung standen.
„Natürlich! Wann soll ich los?“ Wieder eine Unachtsamkeit. Anstatt zu fragen, wann sie aufbrach, hätte sie sich eher darüber Gedanken machen sollen, was sie am besten mitnahm um den Auftrag möglichst unauffällig zu erledigen.
„Am besten Morgen. Gegen Mittag wird ein Schiff nach Lorath ablegen.“
„Oh. Dann muss ich Brusco noch Bescheid geben, dass ich in nächster Zeit nicht für ihn arbeiten kann. Was darf ich alles mitnehmen?“ Nun gut, vielleicht machte sie sich doch etwas mehr Gedanken, als er angenommen hatte.
„Ein Mädchen darf sich genau drei Waffen aussuchen. Und ein Gesicht.“
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Es war vielleicht makaber, dass sie sich darüber freute, jemanden umbringen zu dürfen, doch genau so war es. Es ging hier nicht nur um irgendeinen Gemüsehändler am Marktstand, sie durfte alleine nach Lorath reisen. Und zum ersten Mal seit ihrem Diebstahl durfte sie auch wieder ein anderes Gesicht tragen.
Beim Gedanken daran flackerte die Erinnerung nochmal erschreckend real vor ihrem geistigen Auge auf. Während sich ihr Kopf angefühlt hatte, als würde er bald in tausend Teile zerbersten, hatte sie für den Bruchteil einer Sekunde wirklich geglaubt, dass Jaqen sich wegen ihres Fehlers das Leben genommen hatte, dann all die Gesichter… Darunter ihr eigenes.
Sie rieb sich kurz die Arme, um die Gänsehaut davon zu vertreiben und sah sich währenddessen um. Welches sollte sie nur wählen? Sollte sie sich jünger machen als sie war? Besonders gross war sie ja nicht, aber ihre Oberweite war leider nicht mehr so flach wie früher, das hiess also, das Gesicht eines Jungen hätte sie auch nicht tragen können – es sei denn, sie achtete während der gesamten Reise darauf, immer weite Kleidung zu tragen. Auch das Gesicht einer Greisin hätte nicht recht zu ihr gepasst und wäre vielleicht sogar eher aufgefallen. Also entschied sie sich für das Gesicht eines Mädchens, vielleicht ein zwei Jahre älter als sie, mit langen, aschblonden Haaren.
Sie zögerte dennoch. Obwohl sie wusste, dass sie wegen ihres Vergehens erblindet war und all diese Dinge gesehen hatte – wobei sie sich immer noch fragte, welches Gift wohl solche Illusionen auslöste – hatte sie kein gutes Gefühl dabei das Gesicht jetzt zu tragen.
Sie hatte eigentlich geglaubt alleine hier zu sein, erst als Jaqen ihr das Gesicht aus den Fingern zog merkte sie, dass dem nicht so war. „Als ein Mädchen damals das Gesicht genommen hat, war es nur eine Maske. Es war dem schummrigen Licht zu verdanken, dass niemand es durchschaut hat. Setz dich.“ Sie gehorchte und machte einen Schneidersitz auf den Boden – eine andere Sitzgelegenheit gab es hier nicht.
Jaqen kniete sich derweil vor sie und hielt ihr einen Becher hin. „Trink das.“ Sie wollte lieber gar nicht erst wissen was genau darin war und leerte den Becher in einem Zug, es schmeckte unglaublich sauer. In der anderen Hand hielt er ein Messer. „Es wird wehtun. Ein Mädchen weiss, es hat immer die Möglichkeit zu gehen. Nicht jeder ist geschaffen, um zu dienen.“ Energisch schüttelte sie den Kopf.
„Nein, ich kann dienen und ich werde dienen. Jetzt mach schon.“ Sie schloss die Augen und spürte den Schmerz, als ein langer Schnitt gesetzt wurde. Es fühlte sich warm an und das Blut lief ihr Gesicht hinab, über ihre Lippen, sie spürte den metallenen Geschmack als einige Tropfen in ihren Mund gelangten.
„Still halten“, ermahnte er sie noch einmal, als er die lederne Maske über ihr Gesicht zog. Doch es war nicht ledern, es schien fast, als würde sich die Maske mit ihrem Blut füllen und sie spürte, wie das Gesicht zu ihrem eigenen zu werden schien. Zugleich war da aber auch ein stechender Schmerz in ihrer Brust, auf einmal sah sie eine Gestalt vor sich und Panik kroch in ihr hoch.
„Das ist nicht real. Atme.“ Sie versuchte zu gehorchen, doch ihre Lunge brauchte eine geraume Weile, bis sie dem Befehl Folge leistete und sich wieder mit Luft zu füllen begann. Sie griff sich an die Wange und tatsächlich – Sie spürte die Berührung, als wäre sie auf ihrem eigenen Gesicht. Ihr Herz schlug aber immer noch viel zu schnell.
„Dieses Mädchen, dem das Gesicht gehört hat. Sie wurde erstochen, nicht wahr?“ Jaqen nickte. „Das ist nur ein kleiner Teil dessen, was ein Mädchen zahlen wird, wenn sie wirklich dienen will.“ Sie wusste, dass er sie zum Aufgeben bewegen wollte, aber sie war bereit, jeden Preis zu zahlen.
Als diese Hürde geschafft war, ging sie in die Waffenkammer. Es gab Speere in jeglichen Grössen, Armbrüste, Pfeil und Bogen, Schwerter in allen möglichen Grössen und Formen, kleine Pfeile, die durch Röhrchen abgeschossen wurden und die man beliebig mit Gift bestreichen konnte. Ja selbst einen Morgenstern entdeckte sie und fragte sich, für was man den wohl brauchte, unauffällig wäre das nämlich nicht.
Nach einigem hin und her entschied sie sich für einen schlichten, aber äusserst scharfen Dolch, eine kleine Armbrust, die kaum grösser war als ein Buch und ein kleines Säckchen mit Schlafsüss. Der Vorteil dieses Giftes bestand darin, dass es nicht nur tötete. Es war vergleichbar mit dem Mohnsaft, den die Maester in Westeros oft verwendeten, nur um einiges stärker. Ihr war verboten worden, jemanden ausser ihrem Opfer zu töten, von ausser Gefecht setzen war nicht die Rede gewesen.
„Hat ein Mädchen alles was es braucht?“
„Ja. Drei Waffen, ein Gesicht, und die paar Münzen, die Brusco mir heute als Lohn gegeben hat.“ Jaqen nickte und schien zufrieden, aber auch nachdenklich. Arya fragte sich ohnehin, warum man ihr auf einmal so viel Freiraum liess und ahnte, dass es etwas mit dem neuen Priester zu tun hatte. War das auch eine Art Prüfung? Wollte man sehen, wie sie alleine zurechtkam? Falls ja würde sie ihn nicht enttäuschen, denn je länger sie hier war, desto mehr wollte sie wirklich zu Niemand werden. Hauptsache sie konnte an etwas anderes denken als an ihre Familie und was ihr zugestossen war. Was nicht hiess, dass sie ihre Rachepläne vergessen hatte.
Doch auch Jaqen sah so aus, als würde er gleich aufbrechen. Das war wohl auch der Grund, warum er sich jetzt schon von ihr verabschiedete.
„Viel Erfolg“, sagte er und lächelte aufmunternd. Jetzt wusste sie was das in seinem Blick war, es war nicht Nachdenklichkeit, sondern Sorge. Nur wovor?
„Den werde ich haben“, erwiderte sie. Er seufzte nur und wandte sich um.
~
Das Schiff auf dem man ihre Überfahrt gebucht hatte, transportierte allerlei Lebensmittel, Gewürze und Stoffe Richtung Lorath. Kein Wunder, Loarth war die kleinste aller freien Städte und handelte fast nur mit Braavos oder der Insel Ibben. Ansonsten war die Stadt recht abgelegen, umgeben von den Klippen und dem unruhigen zitternden Meer. Das war es zumindest, was man sich darüber erzählte, wie es wirklich war, bekam sie bald mit eigenen Augen zu sehen. Zugleich drängte sich ihr auch die Frage auf, ob Jaqen wirklich aus dieser Stadt stammte, das war es zumindest, was er damals gesagt hatte. Es fiel ihr nur schwer sich vorzustellen, dass sie von Leuten ohne Identität umgeben war. Jeder von ihnen musste einmal jemand gewesen sein, eine Person mit Eltern, vielleicht sogar Geschwistern, einer Vergangenheit.
Deswegen nannte sie die Priesterin für sich selbst auch Heimatlose und den neuen Priester Gütigen Mann. Gütig deswegen, weil er auf den ersten Blick freundlich schien und der einzige der drei Priester war, der sie noch nicht grün und blau geschlagen hatte. Damit genoss man bei ihr schnell einen gewissen Vorteil.
Diesmal bezahlte sie ihre Überfahrt mit richtigem Geld. Wie sie von der Heimatlosen erfahren hatte, wurde die Münze nur recht selten eingesetzt, es war ja auch ziemlich nutzlos sich Mühe zu geben, seine Identität zu wechseln, wenn ein Kapitän jedes Mal anhand einer Münze sah, woher man kam.
„Wo ist der Kapitän?“, fragte sie einen der Matrosen und dieser deutete zu einem Mann weiter hinten am Deck. Arya hätte fast aufgelacht, als sie in dem Mann den Kapitän erkannte, der sie vor über einem Jahr nach Braavos gebracht hatte. Für einen kurzen Moment glaubte sie, er könne sie erkennen, doch dann fiel ihr wieder ein, dass sie ein anderes Gesicht trug.
„Ich hätte gerne eine Kabine auf Eurem Schiff.“ Da sie aus eigener Erfahrung wusste, wie viel der Kapitän hierfür verlangte, sofern man keine Eisenmünze der Männer ohne Gesicht besass, hielt sie ihm sogleich zehn Silbermünzen unters Gesicht.
„Kommt darauf an wohin Ihr möchtet. Um nach Ibben zu gelangen, reicht das nicht.“
„Ich will auch nicht nach Ibben, sondern nach Lorath.“ Er sah sich die Münzen nochmals an. „Nochmal vier und Ihr könnt eine Kabine haben. Wir haben nicht viel Platz.“
„So? Ein Schiff dieser Grösse hat rund zwanzig Kabinen. Die Matrosen schlafen zu zweit oder dritt in einer und ich bezweifle, dass viele Leute nach Ibben wollen. Elf Silbermünzen, mein letztes Angebot.“ Wenn Brusco nicht gerade dabei gewesen war Münzen zu zählen oder Befehle zu geben, hatte er ihr einiges über die Schiffsfahrt erzählt. Und darüber, wie man am besten mit den Leuten feilschen konnte. Der Kapitän lachte herzhaft und nahm ihr die Münzen aus der Hand.
„Ihr seid ja noch schlimmer als ein altes Marktweib. Na dann kommt mal mit.“
Die Kabine, die er ihr zeigte war gleich eingerichtet wie diejenige, in der sie auf ihrem Weg nach Braavos geschlafen hatte. Es war unglaublich eng, doch das war ihr egal, sie hatte nicht vor, mehr Zeit als nötig unter Deck zu verbringen.
Die Tasche mit den Ersatzkleidern legte sie in der Kajüte ab, diejenige mit den Waffen nahm sie wieder mit an Deck. Es war das erste Mal, dass sie einen Auftrag ausserhalb von Braavos erledigen durfte und sie wollte nicht Gefahr laufen, bestohlen zu werden.
Sie liessen die Stadt hinter sich und fuhren direkt auf das zitternde Meer hinaus. Im Norden hatten schon viele Schifffahrer versucht, sich einen Weg durch die Eisschollen zu bahnen um vielleicht eine Passage zu finden und neue Kontinente zu entdecken. Die meisten davon kamen nie wieder zurück. Einer der wenigen Überlebenden hatte sie vor einiger Zeit, als sie noch als Beth unterwegs gewesen war, in einer Schenke reden hören. Er mochte ziemlich betrunken gewesen sein und einiges dazugedichtet haben, aber vieles davon schien wahr zu sein. Zumindest merkte sie schon in der ersten Nacht, dass die See unruhiger war als in der Meerenge. Das Holz schien zu arbeiten, es knarrte und quietschte und Arya fand fast gar keinen Schlaf. Was sie jedoch nicht nur den Wetterbedingungen zuschreiben konnte.
Am Anfang hatte sie sich so sehr auf ihren Auftrag konzentriert, dass ihr gar nicht in den Sinn gekommen war, was das hier bedeutete. Sie könnte ein Schiff suchen, das zurück nach Westeros fuhr, sie hatte ein neues Gesicht und Waffen. Sie könnte ihre Liste vollenden. Doch niemand brauchte ihr zu erklären, dass sie niemals zurückkehren konnte, dass man sie vielleicht sogar jagen würde. Die Priesterin war ihr gegenüber schon von Anfang an skeptisch gewesen und das würde ihr nur einen Anlass geben, um nach ihr zu suchen. Sie kannten ihr neues Gesicht. Ihre Feinde mochten sie vielleicht nicht erkennen, doch die Männer ohne Gesicht ganz bestimmt.
Aber Westeros war gross und sie hatte sich bis jetzt immer verstecken können, egal vor wem. Bis man bemerkte, dass sie weg war, konnte es Wochen dauern. Vielleicht machte man sich nicht einmal die Mühe sie zu suchen? Diese Hoffnung gab sie recht schnell wieder auf, wenn Jaqen sie nicht umbringen würde, dann die Heimatlose, dessen konnte sie sich gewiss sein. Fragte sich nur, ob sie ihr eigenes Leben wirklich so hoch schätzte, um das Risiko nicht einzugehen, oder ob sie versuchen sollte, ihre Familie zu rächen.
Sie entschied sich dazu, ihr Leben vorerst nicht wegzuwerfen. Es gab noch vieles, das sie lernen konnte und die Namen ihrer zukünftigen Opfer vergass sie nicht. Ausserdem war ihre Liste beträchtlich geschrumpft, es gab nur noch zwei Frauen und einen Mann, die darauf zu finden waren. Cersei Lannister, die rote Frau und Walder Frey. Was wohl aus Gendry geworden ist? Solche Gedanken halfen jetzt nicht weiter. Nein, sie würde diesen Auftrag hier wie verlangt ausführen und dann ins Haus von Schwarz und Weiss zurückkehren. Was danach geschah lag nicht in ihrer Hand.