Nach so langer Zeit alleine unterwegs war es für sie ungewohnt, sich in einer solch grossen Gruppe zu bewegen. Sie spürte die vielen neugierigen- und teils auch etwas misstrauischen Blicke von allen Seiten. Eine längst verschollene Schwester, die auf einmal wieder auftauchte. Das führte natürlich zu Gerede.
Sie war aber offensichtlich nicht die einzige unfreiwillige Begleiterin des Trosses, ein sichtlich übel gelaunter Mann ging in der Nähe von ihr. Er gehörte zu Daenerys´ Männern, war aber kein Dothraki. Ihre Blicke kreuzten sich.
«Wart Ihr schonmal im Norden?» Vielleicht konnte sie durch ihn bereits etwas mehr über ihr zukünftiges Opfer erfahren. Sie wusste nichts über die Gewohnheiten dieser Frau, aber genau das musste sie, wenn sie an sie herankommen wollte. Alleine durch Jons Wohlwollen gelang ihr das sicherlich nicht.
«Ich komme von den Bäreninseln», war seine knappe Antwort. Sie war etwas verwirrt, es hatte so gewirkt, als komme er aus Daenerys´ Reihen. Zumindest hatte sie einen kurzen Wortwechsel zwischen den beiden beobachtet, der ähnlich gewirkt hatte wie zwischen ihr und Jon.
«Dann gehört Ihr also doch zu Jons Leuten?»
«Nein. Daenerys ist meine Königin. Und die Eures Bruders.» Ihr Versuch ein freundliches Gespräch zu führen war damit offensichtlich gescheitert und so beliessen sie es wieder dabei, sich anzuschweigen.
Es gab an diesem Abend unzählige Feuer, ein Trupp ihrer Grösse brauchte sich um das Licht der Flammen nicht zu scheren. Arya setzte sich an das Feuer, welches sich am äussersten Rand des Lagers befand. Keiner protestierte. Entweder hatte Jon seinen Männern mitgeteilt, dass es sinnlos war, sich in solchen Dingen mit ihr zu streiten, oder es war ihnen schlichtweg egal. Ihr konnte beides nur Recht sein. Dennoch war ihr klar, dass er einige seiner Leute damit beauftragt hatte, ein Auge auf sie zu werfen.
Dick in ihre Felle gehüllt lag sie mit dem Rücken zum Feuer da und starrte auf die schneebedeckte Ebene hinaus. Dabei merkte sie kaum, wie ihr nach und nach die Augen zufielen.
Sie befand sich inmitten wogender weisser Pflanzen. Mondgras, welches sie bisher nur von oben gesehen hatte. Schnell merkte sie, dass dies kein gewöhnlicher Traum war, denn sie konnte ebenso klar denken, wie wenn sie wach war.
Sie hörte in einiger Entfernung ein Wimmern und ging zielstrebig in diese Richtung. Zwischen den Gräsern zeichneten sich zerfallene Gebäude ab und neben dem Wimmern waren auch andere Stimmen zu hören. Arya konnte sich durchaus an Jaqens Illusion erinnern und kämpfte gegen die Bilder an. Sie wusste, was nun kam und wollte aufwachen, doch etwas schien sie hier halten zu wollen. Ein eisiger Schauer durchlief sie, als sie begriff. Das hier war kein Traum. Es war eine Erinnerung- und zwar nicht ihre eigene.
Der Schock, der mit dieser Erkenntnis einherging schaffte es, sie von dem Gebilde loszureissen. Nun sah sie wieder nichts mehr anderes als die überschneite Landschaft und die kleinen Wölkchen, die ihr stossweiser Atem vor ihrem Gesicht bildete.
Gerade mal zwei Jahre waren ihr vergönnt gewesen, ehe dieser Auftrag sie wieder einholte. Wenn sie ehrlich mit sich war, hatte er sie auch nie ganz losgelassen. Sie hatte geahnt, dass Noridos nicht fort war. Auch vorhin hatte sie ihn nicht wirklich bemerkt, aber es war zweifellos seine Erinnerung gewesen, denn obwohl sich alles in ihr gesträubt hatte, hatte sie auch einen Hauch von Zufriedenheit verspürt, der definitiv nicht von ihr gekommen war.
Sie setzte sich auf und wandte sich dem Feuer zu, die meisten Männer schliefen, einige jedoch hielten Wache.
Sie wusste nicht recht, was sie nun tun konnte. Ewig wach bleiben war jedenfalls keine Option. Ein weiteres Problem bestand darin, dass sie niemanden hatte, der von ihrem Problem wusste. Der Einzige der das tat befand sich in Braavos und sie hatte zurzeit keine Möglichkeit, ihn zu erreichen. Selbst wenn sie es irgendwie schaffte eine Nachricht nach Braavos zu senden, wer wusste schon, wer diese öffnete? Und wenn herauskam, dass Jaqen ihr dabei geholfen hatte ihr Problem zu vertuschen, geriet auch er in Schwierigkeiten und das wollte sie nicht.
Erst nach und nach kam ihr eine Idee, wie sie ihn vielleicht doch erreichen konnte. Aber sie weigerte sich, diese in die Tat umzusetzen. Ihr schlechtes Gewissen alleine beim Gedanken daran hielt sie davon ab.
Sie wusste nicht mal, ob ihr Vorhaben überhaupt eine Chance gehabt hätte. Trotzdem glaubte sie ihn gut genug zu kennen, um zu wissen, dass sie es ihm nicht vorenthalten durfte. Er musste ihr damals versprechen, Schlimmeres zu verhindern und sie zählte darauf, dass er dieses Versprechen notfalls einlöste. Ausserdem hatte sie noch immer einen Funken Hoffnung, dass er doch noch auf eine Lösung für das Problem gestossen war. Es war der letzte Strohhalm, an dem sie sich festklammern konnte.
Sie liess vor ihrem geistigen Auge den Tempel erscheinen und stellte sich Jaqen vor, wie er am Becken stand. Doch es geschah nicht das Geringste.
Kein Wunder, sie konnte sich einfach nicht konzentrieren. Also drehe sie sich auf den Rücken und starrte in den klaren Sternenhimmel hinauf. Dabei nahm sie tiefe Atemzüge und versuchte nur auf die Sterne zu achten, nichts anderes. Erst als sie glaubte, die Wogen ihrer Gedanken etwas geglättet zu haben, konzentrierte sie sich mit aller Macht auf Jaqen und riss ihren Geist praktisch aus ihrem Körper.
Und auf einmal war es nicht mehr der Sternenhimmel, welchen sie vor sich sah, sondern ein Stück Pergament. Sie hörte das laute Knacken, als die Schreibfeder in seiner Hand zerbrach. Es tut mir Leid, ich schwöre, ich tue das nie wieder. Sie wusste selbst, wie unangenehm das Gefühl war, wenn jemand in den eigenen Geist eindrang. Aber sie versuchte ihren Einfluss so gering wie möglich zu halten und hielt sich wohlwissentlich von seinen Gedanken fern.
Er fasste sich mit der Hand, die nicht von Tinte verschmiert war, an die Stirn. Was ist los? Sie spürte, dass er nicht glücklich über die Situation war, in der er sich gerade befand, um nicht zu sagen ziemlich wütend. Und wie sie damals in Asshai, schien es ihm körperliche Schmerzen zu bereiten. Aber wo sie schon mal hier war, konnte sie auch gleich weitermachen. Hast du etwas dazu herausgefunden, wie wir Noridos endgültig loswerden können? Sein Ärger wich Besorgnis, auch wenn ihre Anwesenheit ein ziemliches Chaos in ihm auslöste. Was ist passiert? Sie versuchte sich so kurz wie möglich zu fassen.
Ich habe Erinnerungen gesehen, die eindeutig nicht mir gehören. Die Besorgnis wurde stärker, was für sie ein schlechtes Zeichen war. Offenbar war ihre Hoffnung umsonst gewesen. Ist ein Mädchen sicher, dass es nicht einmalig war? Ein Alptraum? Es war offensichtlich, dass er sich nicht mal selbst davon überzeugen konnte.
Glaubst du denn wirklich, dass wir so viel Glück haben?, stellte sie eine Gegenfrage und er schwieg- was an sich auch schon Antwort genug war.
Gibt es denn keine Möglichkeit, wie ich meinen Verstand behalten kann? Sie hoffte, dass er ihre Verzweiflung nicht so deutlich spürte, wie sie es tat.
Vielleicht. Ein Mann war bei einem Schattenbinder. Laut ihm kann eine Seele in einem anderen Körper eingesperrt werden. Aber er ist dazu nicht in der Lage. Es ist ein sehr alter Zauber, der kaum bekannt ist und für denjenigen, der ihn ausführt, sehr gefährlich. Darum hat Quaithe ihn auch nicht erwähnt. Das klang nicht besonders hoffnungsvoll. Wenn sie nicht einmal in Asshai auf eine Lösung gestossen waren, wie sollten sie es dann hier tun?
Und was machen wir jetzt? Ich kann nicht einfach so nach Asshai zurücksegeln, das erweckt zu viel Aufmerksamkeit. Und von hier komme ich so schnell auch nicht mehr weg. Obwohl das wegkommen weniger das Problem war, sondern eher das Zurückkehren. Ein Mann lässt sich etwas einfallen. Bis dahin-
«Lady Arya!» Das Gerüttel war schlimmer als der Ritt auf einer holprigen Strasse, hörte aber ruckartig auf, als sie dem Störenfried instinktiv die Faust ins Gesicht rammte.
Es war nicht aus Boshaftigkeit, sondern aus Reflex passiert, was nicht hiess, dass er ihr sonderlich leidtat. Sie wusste nicht ob es klug war, nochmals in Jaqens Geist zu dringen, weshalb ihr letztes Gespräch nun unbeendet blieb und sie keinen blassen Schimmer hatte, wie er ihr helfen wollte.
Der Mann erhob sich fluchend und starrte sie wuterfüllt an, während sie von den umliegenden Feuerstellen nur Gelächter hören konnte.
«Ihr habt ihre Augen nicht gesehen.» Während er sprach, hielt der Soldat sich die blutende Nase zu. Aber die anderen Männer waren dabei das Lager zusammenzubrechen und keiner schenkte ihm Beachtung.
Eigentlich hatte sie vorgehabt, sich im Verlaufe des Tages bei dem Soldaten mit der gebrochenen Nase zu entschuldigen, aber sie bekam ihn nicht einmal mehr zu Gesicht. Offensichtlich war er nicht erpicht darauf, ihr nochmal zu nahe zu kommen.
Durch die immer grösser werdenden Schneemassen kamen sie nur langsam voran, aber sie wussten zumindest, dass sie sich den Weg durch Maidengraben nicht freizukämpfen brauchten. Die Burg- oder eher Ruine- befand sich laut Manderlys Erzählung nun schon seit einigen Monaten in der Gewalt der Lords aus dem Grünen Tal, welche ihre Schwester- und damit auch ihre Familie unterstützten.
Somit ging ein erleichtertes Aufseufzen durch die Reihen, als die drei verbliebenen Türme eines Morgens im Nebel erschienen. Sie hatten die Grenze zum Norden erreicht und wenn das Wetter mitspielte, erreichten sie Winterfell innerhalb einer Woche. Aryas Gefühle waren wie bei allem was ihre Familie betraf gemischt. Sie dachte gerne an die alten Zeiten zurück, als sie mit ihren Brüdern die Burg unsicher gemacht hatte und selbst mit Sansa teilte sie in paar schöne Erinnerungen. Doch gerade die Begrüssung mit Jon hatte ihr klar gemacht, dass es nie wieder so sein würde wie zuvor. Das durfte es auch nicht, denn sobald ihr Auftrag erledigt war, kehrte sie nach Braavos zurück.
Den Rest des Tages verbrachten sie in Maidengraben, um sich für die letzte Wegstrecke auszuruhen.
Die meisten der Soldaten gingen ihr in der Zwischenzeit aus dem Weg, die einzigen Blicke, die sie immer wieder auf sich spürte, waren diejenigen von diesem Jorah Mormont. Und die waren nicht besonders wohlwollend. Eher, als würde er eine Gefahr einschätzen. Doch selbst seine Laune besserte sich, als Winterfell in Sicht kam. Während alle anderen ihre Schritte unbewusst beschleunigten, fiel Arya immer weiter zurück.
Im Nachhinein war sie mehr als froh, dass ihr Zusammentreffen mit Jon so spontan gewesen war, denn nun lag es an ihr, den ersten Schritt zu tun. Unglaublich… Sie hatte das östliche Ende der Welt gesehen, ein Mitglied der Königsgarde ermordet und nun fürchtete sie sich vor einem Zusammentreffen mit einer Frau, die abgesehen vom Essbesteck noch nie eine Waffe in der Hand gehabt hatte.
Schnaubend beschleunigte sie ihre Schritte wieder, je schneller sie es hinter sich brachte, desto besser.
Die Burgtore wurden ohne Zögern geöffnet und die Soldaten strömten hinein. Fast alle blieben im Hof, froh darüber, sich nach der Reise etwas ausruhen zu können. Nur Lord Manderly schlug denselben Weg wie sie ein, wartete aber vor der Tür zur Halle. Wahrscheinlich erwartete er eine tränenreiche Begrüssung und wollte dabei nicht im Weg stehen. Doch da irrte er sich. Als sie den Raum betrat und ihr Blick sich mit dem von Sansa kreuzte, gab es keine Tränen. Bei keiner von ihnen. Sie fielen einander auch nicht überschwänglich um den Hals, sondern umarmten sich schlicht und nicht länger, als gute Freunde es taten.
Das Lächeln, welches ihre Schwester ihr schenkte, nachdem sie die erste Überraschung überwunden hatte, war dennoch ehrlich- und Arya konnte nicht anders, als es zu erwidern. Streit hin oder her, Sansa gehörte zu ihrer Familie und - und was?, rief sie sich zur Ordnung. Sie würde unter Umständen nur wenige Monate hier sein. Wenn sie nun versuchte, sich mit ihrer Schwester zu versöhnen, machte es das am Ende nur unnötig schwer.
«Ich schätze wir haben uns einiges zu erzählen», mutmasste Sansa.
«Das glaube ich auch. Aber dann sollten wir uns setzen, mit Jon hat es die halbe Nacht gedauert.» Überrascht hob sie eine Braue. «Du warst schon bei Jon? Wo bist du hergekommen?»
«Aus Essos. Wir mussten wegen des schlechten Wetters in Königsmund anlegen.»
«Warum warst du…» Sie brach ab und blickte zu einem hohen Stapel von Briefen und Papieren. «Wenn ich das hier noch beende, und wir uns zum Abendessen treffen, wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass du dann noch hier bist?» Arya lachte, ihre Schwester hatte nicht den Hauch einer Ahnung, dass ihre Sorge durchaus begründet war.
«Ziemlich gross.»
«Dann sehen wir uns dort. Bist du Bran schon begegnet?» Erstaunt starrte sie ihre Schwester an. Jon hatte ihr gesagt, dass Bran verschollen sei. «Er ist auch erst seit ein paar Wochen zurück», erklärte Sansa, die ihren Blick richtig gedeutet hatte. Jahrelang waren sie in alle Winde zerstreut gewesen und nun auf einmal fanden sie sich innerhalb kurzer Zeit in ihrem alten Zuhause ein. Unter anderen Umständen wäre das heute ihr Glückstag gewesen.
«Falls du ihn sehen willst, ich glaube er ist im Götterhain. Nur solltest du vielleicht wissen... Er hat sich verändert.» Arya schnaubte. «Das haben wir doch alle.» Während sie das sagte, musterte sie ihre Schwester noch etwas genauer. Auch sie war durch die letzten Jahre gezeichnet, der Blick ihrer blauen Augen wirkte kühl, schon fast verschlossen und alles Träumerische war daraus verschwunden. Ausserdem wirkte sie blass und übermüdet. «Da hast du wohl Recht. Und es tut mir Leid, dass ich nicht sofort…» «Schon gut, wir sehen uns später.»
Auch wenn vieles der Burg nach der Plünderung durch die Eisenmänner wieder hatte aufgebaut werden müssen, es war dennoch Winterfell und sie hätte sich auch im Schlaf hier zurechtgefunden. So trugen ihre Beine sie, ohne dass sie es recht mitbekam, zum Götterhain.
Es war nicht schwer ihn zu finden, Bran war der Einzige, der hier war und in einem grossen Stuhl vor dem eindruckvollsten der Wehrholzbäume sass. Zuerst glaubte sie, er sei nur nachdenklich, erst als sie sich ihm genug genähert hatte, erkannte sie, dass Bran nicht wirklich hier war. Sein Körper war es, doch sein Geist nicht.
Sie setzte sich ihm gegenüber in den Schnee und wartete. Etwas Besseres hatte sie ohnehin nicht zu tun. Wo er sich wohl gerade befand? Sie war nicht einmal sonderlich überrascht, wenn sie diese Eigenschaft schon besass, warum nicht auch andere ihrer Geschwister? Es war ihr sogar ganz Recht, dann hatte sie wenigstens ein unverfängliches Gesprächsthema.
Sie brauchte nicht lange zu warten. Im Gegensatz zu Jon und Sansa spiegelte sich in seinen Augen jedoch nicht einmal Überraschung, geschweige denn Wiedersehensfreude. Sein Blick war eher neugierig, als betrachtete er einen Fremden und versuchte zu entscheiden, was er von ihm halten sollte.
«Ich habe gesehen, dass du kommst. Ich war mir nur nicht sicher wann.» Sie lächelte.
«Du kannst in die Zukunft sehen? Ich habe schon mit gewissen Tieren meine Schwierigkeiten.» Sie hatte zwar nicht damit gerechnet, doch sie hatte auch keine Schwierigkeiten damit, es zu akzeptieren. Es gab wirklich nicht mehr viel, dass sie überraschen konnte.
«Angefangen hat es bei dir auch mit Nymeria, nicht wahr?» Sie nickte. Bei der Erwähnung der Schattenwölfin liess sie ihren Blick im Hain umherwandern, doch von Sommer fehlte jede Spur. Bran ahnte offenbar, was- oder besser gesagt wen sie suchte.
«Er ist tot. Die weissen Wanderer haben ihn getötet.» Ehrliche Betroffenheit machte sich in ihr breit. Sie alle hatten ihre Wölfe geliebt und gerade Bran, der seit dem Sturz aus dem Turm verkrüppelt war, hatte sich sicher besonders auf dessen Hilfe verlassen.
«Sind diese Dinger Winterfell denn schon so nahe?»
Er schüttelte den Kopf. «Nein, wir sind ihnen hinter der Mauer begegnet.»
«Was heisst wir?» Die einzige Antwort welche sie erhielt war eisiges Schweigen- und sie fragte nicht weiter nach, auch wenn die Neugierde an ihr nagte. Denn wenn es etwas gab, das sie verstand, dann, dass nicht alle Erinnerungen erzählt werden wollten. Schon gar nicht einer Person, die man seit über zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte.
~~~
Die Tinte auf seiner Hand war längst eingetrocknet und der Schmerz in seinem Kopf ein wenig abgeflaut. Was hatte sie sich auch nur dabei gedacht? Genau aus Gründen wie diesem hatte er sich schon vor Jahren von solcher Magie distanziert und es gefiel ihm überhaupt nicht, dass Arya davon in solcher Weise Gebrauch machte.
Ausserdem liess sie ihn ratlos zurück, denn von hier aus konnte er nichts für sie tun. Aber ebenso wenig wusste er, was er dort für sie tun sollte. Die Möglichkeit, dass er in Westeros einen fähigeren Schatteninder fand als in Essos war verschwindend gering, selbst ohne seherische Fähigkeiten war jedem klar, dass Westeros noch viele harte Jahre bevorstanden und die wenigen Schattenbinder die es dort gegeben haben mochte, waren sicher längst in die freien Städte zurückgekehrt.
Vor der gefährlichen Lage westlich der Meerenge fürchtete er sich nicht, eher davor, wie er eine allfällige Abreise rechtfertigen sollte. Kurz spielte er mit dem Gedanken, die Wahrheit offen zu legen. Erfreut wären sie sicher nicht und es kämen sicherlich Fragen über seine Loyalität auf, aber er brauchte nicht zu befürchten, sonderlich schwer bestraft zu werden. Doch dann wäre ihr ganzer Schwindel umsonst gewesen und Arya galt womöglich als Gefahr. Besonders nun, wo sich offensichtlich bereits Noridos´ Einfluss bemerkbar machte.
Arya war zwar aus seinem Kopf verschwunden, doch ein dumpfes Pochen blieb zurück und erinnerte ihn für den Rest der Nacht daran, dass die Angelegenheit keinen Aufschub duldete. Ihm blieben im Prinzip nur zwei Möglichkeiten. Entweder er sagte die Wahrheit, oder er log. Tat er Letzteres, dies war ihm klar, gab es kein Zurück mehr. Denn sollte das eines Tages auffliegen, aus welchem Grund auch immer, war seine Vertrauenswürdigkeit dahin.
Er erhob sich und wusch die Tinte von seinen Fingern so gut es ging. Die kleine Fensterluke die im oberen Teil der Wand eingelassen war verriet ihm, dass es bereits dämmerte. Nicht, dass es einen Unterschied machte, an Schlaf war für ihn nicht mehr zu denken.
Während des morgendlichen Gebets und des Frühstücks machte er sich Gedanken dazu, wie er die Angelegenheit unverfänglich ansprechen konnte. Doch zumindest diese Entscheidung wurde ihm letzten Endes abgenommen. «Es geht um den Auftrag, nicht wahr?» Der ältere Priester war neben ihn getreten. «Du weisst, sie hat den Auftrag aus freien Stücken angenommen.» Dem konnte er nicht widersprechen. «Aber das heisst noch lange nicht, dass sie auch bereit dazu ist. Die Nähe zu ihrer Familie und deren Feinden könnte alles zu Nichte machen.» Ohne es sich noch einmal zu überlegen, hatte er den zweiten Weg gewählt, die Lüge. Von nun an gab es kein Zurück mehr, er musste seine Rolle weiterspielen. «Du scheinst kein allzu grosses Vertrauen in sie zu setzten. Ist irgendetwas vorgefallen, das dich so zweifeln lässt?»
Er sah seinem Gegenüber in die Augen, nichts deutete darauf hin, dass mehr hinter der Frage versteckt war. «Nein. Doch ein Mann weiss, dass sie ihrem Bruder sehr nahestand. Diese Nähe könnte sie daran hindern, ihn zu hintergehen.» Nach seinen Worten herrschte für einige Augenblicke Schweigen. «Irre ich mich, oder bist du in Bezug auf sie etwas zu fürsorglich?» Er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte, doch der andere Priester schien auch gar nicht wirklich auf eine Antwort aus zu sein. «Ich weiss, als du sie damals hier aufgenommen hast, hast du zugleich auch die Verantwortung für sie übernommen. Doch du darfst nicht zulassen, dass dies dein Urteilsvermögen trübt. Dennoch hast du Recht, vielleicht war es wirklich unklug, ihr das alleine zuzumuten.» Er schwieg noch immer, seine Frage erübrigte sich gerade von selbst. «Folge ihr. Doch greife nur in den Auftrag ein, wenn es sich nicht vermeiden lässt.» Er wandte sich zum Gehen. «Noch etwas Letztes. Sollte sie eines der Gesichter für ihre Zwecke missbrauchen... Wie schon gesagt, du trägst die Verantwortung.»
~
Unaufhaltsam frass sich die Kälte durch die Schichten seiner Kleidung. Noch nie hatte er etwas Vergleichbares gespürt. Während des letzten Winters war er schon einmal in Westeros gewesen, jedoch nicht im Norden. Schon fast bereute er es, die Reise auf sich genommen zu haben, keinem war es damit geholfen, wenn er hier draussen erfror. Er war sich nicht einmal sicher, wo genau Arya sich befand, doch am wahrscheinlichsten war Winterfell. Es war reines Glück, dass er ein Schiff gefunden hatte, welches Richtung Norden segelte. Offenbar hatten einige Lords des Nordens viel dafür bezahlt, eine Lieferung nach Weisswasserhafen zu erhalten, da die Handelswege nach Süden zurzeit sehr beschränkt waren. So war es also gekommen, dass sie drei Tage zuvor dort angelegt hatten. Der Kapitän hatte erzählt, das viele vorangegangene Schiffe nach Süden abgedriftet waren und sie es den günstigen Strömungen zu verdanken hatten, dass ihnen nicht dasselbe passiert war. Im Nachhinein wäre es ihm aber lieber gewesen, wenn das Wetter damals schon verrückt gespielt hätte, denn nun, wo der Schneesturm über ihm hereinbrach, war er schon zwei Tage von der Stadt entfernt und wusste nicht, wie weit er von der nächsten Siedlung entfernt war.
Der Himmel war zwar schon in den letzten beiden Tagen bedeckt gewesen und dass es im Winter kalt war musste man ihm nicht erst erklären, aber vergleichsweise mit jetzt war es noch fast angenehm zu nennen gewesen.
Innerhalb kürzester Zeit hatten sich die dunklen Sturmwolken aufgebauscht und obwohl es noch mitten am Nachmittag war, dämmerte es. Aber selbst die dunklen Vorboten hatten nicht gereicht um ihn auf die Schneeböen vorzubereiten, welche über die ebene Landschaft hinwegfegte. Es gab keinen Baum und keinen Felsen, unter dem er hätte Schutz finden können, nicht einmal eine Anhöhe, hinter deren Windschatten er sich kauern konnte.
Er war dem Wetter hilflos ausgeliefert und obwohl er drei Schichten Kleidung übereinander trug, drohte er zu erfrieren.
Ein heftiger Windstoss erfasste ihn und diesmal schaffte er es nicht rechtzeitig, sich dagegen aufzulehnen. Wie ein Grashalm wurde er von den Füssen gerissen und landete im Schnee.
Wie ein Tier, dass sich auf seine Beute stürzte, fiel der Wind über ihn her und liess ihm nicht den Hauch einer Chance, sich aufzurichten. Als ihm klar wurde, dass ihm dies niemals gelingen würde, kniete er sich hin und legte den Oberkörper an den Boden um dem Wind so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten.
Mit der Zeit verlor er jegliches Zeitgefühl. Ihm kam es so vor, als stürme es schon seit Stunden, während langsam jegliche Wärme seinen Körper verliess. Lange durfte er nicht mehr in dieser Position verharren, es fiel ihm immer schwerer, einen klaren Gedanken zu fassen.
Irgendwann, als er wirklich das Gefühl hatte, dass der Wind etwas nachgelassen hatte, stiess er sich noch einmal mit ganzer Kraft vom Boden hoch und kam tatsächlich taumelnd auf die Füsse. Der Schnee raubte ihm die Sicht und er hatte keine Ahnung in welche Richtung er ging, Hauptsache, er kam voran und brachte Bewegung in seine Muskeln. Doch der Sturm hörte nicht auf.
Es dauerte nicht lange, bis die Naturgewalt ihn das nächste Mal niederriss und diesmal, das ahnte er, kam er von alleine nicht wieder hoch.
Keuchend lag er im Schnee und versuchte die Müdigkeit mit fieberhaftem Nachdenken fernzuhalten. Sein Gepäck hatte er mitgeschleppt, aber die Felle und Decken würden vom Wind innerhalb kürzester Zeit fortgerissen werden.
Er hatte gewusst, dass der Auftrag ihm einiges abverlangen würde und der Tod ihn irgendwann zu sich holen würde, aber ausgerechnet vom Wetter? Bei jedem Kampf rechnete er mit dem Schlimmsten, damit er es auch abwenden konnte, doch diesen Feind hatte er eindeutig unterschätzt. Noch war er aber nicht tot und das so lange es sich vermeiden liess.
Da es ohnehin düster war, bemerkte er die Gestalt, die sich über ihn schob zu erst gar nicht, doch als er in ihre Augenblickte kämpfte er sich innerhalb eines Lidschlags auf die Beine. Natürlich gaben diese sofort wieder unter ihm nach, aber jetzt kniete er immerhin.
Der Tod wäre ihm willkommener gewesen als diese Frau, diese Kreatur, die vor ihm stand. Etwas Leben kehrte in seinen Körper zurück, aber es würde nicht reichen, um wegzulaufen, geschweige denn zu kämpfen.
«Dein Wille war schon immer deine stärkste Eigenschaft. Wenn du gewillt bist zu leben, solltest du jetzt aber keine Dummheiten machen.» Er sah ihr in die Augen, selbst bei diesem Licht schienen sie zu glühen. Es gab keinen Zweifel. Sie war die einzige Person, die es schaffte, ihn aus der Bahn zu werfen und wären seine Finger nicht schon längst taub gewesen, wer wusste, ob er nicht doch nach seinem Dolch gegriffen hätte. «Melisandre.»
~
Als er die Augen aufschlug brauchte er ein paar Momente um sich zu orientieren. Nach und nach sickerten die Erinnerungen in sein Gedächtnis zurück und er sprang auf. Suchend sah er sich nach seiner Tasche und dem Schwert um und rechnete schon fast damit, dass sie ihm beides abgenommen hatte. Dem war nicht so, beides stand neben die Tür gelehnt, als warteten sie darauf, dass er sie mitnahm und von hier verschwand. Das Ende des Sturmes war jedoch noch nicht erreicht, wie das Zerren des Windes an der Tür verriet.
«Bist du jetzt dazu bereit mit mir zu reden?» Nur noch bruchstückhaft erinnerte er sich daran, wie sie ihn mit sich gezerrt hatte. Auch an den Umriss einer kleinen steinernen Hütte glaubte er sich zu erinnern. Alles was nach der Tür kam versank allerdings in zäher Dunkelheit.
«Nein.» Seine Stimme klang ruhig und gefasst, obwohl er sie bis gerade eben nicht bemerkt hatte. Es wäre ja auch zu einfach gewesen, wenn sie von selbst verschwunden wäre. «Dann rede eben nur ich.» Ihre Worte ignorierend öffnete er die Tür, nur um von der Wucht des Sturms ein paar Schritte zurück zu stolpern. Offensichtlich hatte der vorige Abend ihn ausgelaugter hinterlassen, als ihm zuerst bewusst gewesen war. Bei diesem Wind kam er keine zehn Schritte weit. Also schlug er die Türe - mit einer gewissen Mühe - wieder zu und setzte sich, liess Melisandre dabei jedoch nicht einen Augenblick aus den Augen. «Es hat einen Grund, warum R'llhor mich gestern zu dir geführt hat.» Eisiges Schweigen war die einzige Antwort, die sie darauf erhielt. Auch wenn es ihm auf der Zunge brannte ihr zu sagen, sie solle nicht die Namen der Götter in den Schmutz ziehen. Aber jegliche Diskussion mit ihr wäre verschwendete Luft. Stattdessen verwendete er seine Energie darauf, den schwelenden Hass zu unterdrücken, der alleine bei ihrem Anblick in ihm aufkam. Es war schon über zwanzig Jahre her, seit sie sich zuletzt gesehen hatten und er war sich sicher gewesen, den Hass, wenn auch nicht vergessen, so zumindest endgültig begraben zu haben. Aber dieser Frau, diesem Dämon noch einmal gegenüber zu sitzen erforderte all seine Selbstbeherrschung. «Was genau das ist konnte ich noch nicht erkennen, aber offensichtlich brauchst du meine Hilfe.» Er dachte an Arya, verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder. Dieser Frau konnte man kein Leben anvertrauen.
Als er noch immer nicht antwortete, seufzte sie.
«Es ist über zwanzig Jahre her und mir ewig danach zu zürnen macht es nicht ungeschehen.» Das Feuer knackte und eine kleine Glutwolke stob empor, als wolle das Feuer ihn damit verhöhnen. «Das soll keinesfalls eine Entschuldigung werden, denn ich bereue wenig von dem, was ich getan habe. Aber das Feuer sagt mir, dass meine Arbeit hier noch nicht zu Ende ist.» Da er noch immer nicht antwortete, war es wieder Melisandre die sprach- und ihr Lächeln trug nicht gerade dazu bei, seine Wut zu besänftigen.
«Dein Trotz ist kindisch. Ich habe vielleicht nicht alles in den Flammen gesehen, aber genug um zu wissen, dass an deinen Händen nicht weniger Blut klebt als an meinen.» Dieser Schlag hatte gesessen, denn was die Anzahl der Leben anging, mochte sie mit ihrer Behauptung sogar Recht haben. Für ihn machte es jedoch einen bedeutenden Unterschied, wie die Opfer zu Tode kamen. Die Ironie an dem Ganzen war, dass sie den Tod anderer so einfach dahinnahm, wo sie selbst sich doch so sehr davor fürchtete. Sie war in den letzten Jahrzehnten keinen Tag gealtert, was hiess, dass sie sich noch immer an der Lebenskraft anderer bediente.
In dem Schweigen welches nun folgte fiel ihm auf, dass es um sie herum ruhiger geworden war, der Sturm hatte nachgelassen und es gab für ihn keinen Grund, noch länger hierzubleiben.