Für einen Moment herrschte vollkommene Stille, wer auch immer sich hier befand hatte vor Aryas Zimmer Halt gemacht. Jaqen erhob sich und ging in die andere Ecke des Raumes, um sich nötigenfalls zu verstecken- oder zumindest nicht auf den ersten Blick sichtbar zu sein. Doch wer auch immer dort stand überlegte es sich offenbar anders und kurz darauf hörte er, wie die Tür nebenan geöffnet wurde. Fragend sah er Arya an.
«Das war Jon», meinte sie flüsternd.
«Ist sein Zimmer nicht weiter östlich?» Er hatte sich in den letzten Tagen ein genaues Bild der Burg gemacht.
«Ja. Das Zimmer nebenan gehörte meiner Schwester.» Ihm entging die Vergangenheitsform keineswegs. Nun wo er darüber nachdachte, fiel ihm auch auf, dass sich Lady Sansa in den letzten Tagen nicht hatte in der Öffentlichkeit blicken lassen. Und er dachte daran, wie überstürzt Arya weggerufen worden war.
«Sie hatte Schwindsucht», bestätigte sie seine Vermutung. Valar Morghulis. Bei manchen traf das etwas früher zu als bei anderen.
«Dann hätte ihr keiner mehr helfen können.» Manchmal dauerte es Jahre, bis die Schwindsucht jemanden dahinraffte, manchmal nur Monate. Letzteres war um einiges gnädiger.
«Ich weiss. Trotzdem frage ich mich, warum der Tod alle aus meiner Familie zu früh holt. Selbst diejenigen, die nicht im Krieg gestorben sind.»
«Nicht alle.» Nun wo er sicher war, dass vorerst niemand hereinkam, trat er nochmals zu ihr ans Bett und besah sich die Wunde am Bein. Es hatte aufgehört zu bluten. Arya wirkte blass und fiebrig, aber etwas Fieber liess sich bei einer Wunde dieses Ausmasses selbst bei guter Behandlung nicht vermeiden. Besonders wenn man danach noch Stunden in der Kälte zugebracht hatte.
«Ein Mädchen muss sich ausschlafen. Morgen reden wir weiter.» Auch er brauchte ruhe und wollte lieber von hier verschwinden, ehe er doch noch entdeckt wurde. Ihnen wäre zwar sicher eine Ausrede eingefallen, aber besser war es, gar nicht erst eine zu benötigen. Sie nickte verstehend. «Danke. Für alles.» Gerne hätte er erwidert, dass das doch selbstverständlich sei, doch dem war nicht so. Trotzdem sah er es nach wie vor als richtig an, sie rekrutiert zu haben. Nun mussten sie nur noch dafür sorgen, dass die Mühe nicht umsonst gewesen war und Noridos sie nicht tatsächlich noch in den Wahnsinn trieb.
Er antwortete nicht auf ihr Dankeschön, lächelte ihr nur flüchtig zu und trat dann lautlos aus dem Zimmer. Die Tür lehnte er nur an, damit kein Geräusch entstand. Denn auch die Tür zum Nebenzimmer war einen Spalt breit geöffnet.
Zum Glück ermöglichte es der mit Teppichen ausgelegte Steinboden ihm, sich ohne Geräusche davon zu machen.
Es kam ihm so vor, als hätte er gerade erst die Augen geschlossen, da wurde er bereits unsanft wachgerüttelt. «Ich würde auch lieber ausschlafen», gestand ihm der Soldat, der diese Aufgabe übernommen hatte. «Aber wir müssen die Festungsmauer verstärken, bevor diese Dinger das nächste Mal zuschlagen.» Seufzend erhob er sich, was den Vorteil hatte, dass seine schmerzenden Muskeln sich etwas lockerten. Tage wie gestern gingen an keinem spurlos vorbei.
Er hatte zusammen mit einigen Söldnern in einem ursprünglich für Gartengeräte vorgesehen Schuppen geschlafen. Entsprechend verblüfft war er, als er ins Freie trat und es gerade erst dämmerte.
«Wie spät ist es?»
«Eigentlich müsste es schon Mittag sein.» Natürlich sorgte die dichte Wolkendecke dafür, dass alles noch etwas dunkler erschien, doch nicht so wie hier. Ihm war wirklich unbehaglich zu Mute. Das wurde nicht gerade besser, als sich einige Soldaten über die «lange Nacht» unterhielten, ein Ereignis, das Jahrtausende zurücklag.
Es war ein gespenstisch ruhiger Tag. Kaum jemand sprach ein Wort, selbst Tormund, der gerne auch mal prahlte schwieg, während er dabei half die Steinmauern auszubessern und die Zinnen zu reparieren. Neben dem Befestigen der Mauer war auch ein Drittel der Arbeiter damit beschäftigt, die neuen Waffen vorzubereiten. Köcher mit Pfeilen wurden so deponiert, dass der Feind, sollte er die Mauern erklimmen sie nicht sofort sah, für die Kämpfer aber mit einem Griff erreichbar waren. Die Natur half ihnen dabei, denn der leichte Schneefall verbarg innerhalb kürzester Zeit alles unter einer weissen Decke.
Da es ohnehin den ganzen Tag über dunkel war, konnte keiner genau sagen, wie lange sie gearbeitet hatten, als ein Ruf sie alle innehalten liess. Durch die Stille konnte jeder im Umkreis von hundert Schritten den Wachmann hören. «Da kommt jemand!» Der Blick aller Anwesenden ging erst nach Norden, bevor einer nach dem anderen klar wurde, dass die Bedrohung diesmal aus der entgegengesetzten Richtung kam.
Für den Moment waren nur Gestalten mit Fackeln und Fackeln erkennbar, es war unmöglich zu sagen, wie viele genau. Nach den Verlusten der letzten Tage wollte keiner ein Risiko eingehen, weshalb sich alle gefechtsbereit machten und abwarteten.
Die Armee, falls es denn eine war, bewegte sich langsam. Wenn es sich wirklich um die Streitmacht von Königin Cersei handelte, hatten die Truppen einen Wochen- wenn nicht gar monatelangen Marsch hinter sich und die Flusslords hatten es ihnen sicher auch nicht gerade einfacher gemacht. Schnell merkte er aber, dass er nicht besonders gut informiert darüber war, was genau im Süden dieses Kontinents vor sich ging. Spätestens nun würde er es erfahren.
Ein einzelner Reiter löste sich aus der Masse und hielt auf das Tor zu. Ein Bote. Mittlerweile war auch Jon erschienen, der sogleich das Wort ergriff- Daenerys dicht hinter ihm. «Zeigt Euch!» Der Bote liess die Kapuze nach hinten gleiten, woraufhin sich mehr als ein Dutzend Bögen auf ihn richteten. Es war zwar fast dunkel, doch die Laterne die der Bote bei sich trug, erhellte sein Gesicht. Jon gebot seinen Männern sogleich Einhalt. «Halt. Ich will hören, was er zu sagen hat.» Etwas lauter fuhr er fort: «Seid Ihr im Auftrag Eurer Schwester hier?»
«Nein. Sie ist im Moment nicht ganz zurechnungsfähig, wie Euch vielleicht aufgefallen ist. Die Männer die ich bei mir habe, haben jedoch mehr Angst von der Gefahr aus dem Norden als der Wut meiner Schwester.» Ein unzufriedenes Raunen ging durch die Männer, kaum einer glaubte dem Lannister. Auch der Assassine wusste nicht recht, was er davon halten sollte, selbst wenn er keine Lüge dahinter erkennen konnte.
«Wir können ihm nicht trauen.» Daenerys sprach nicht laut, doch seine Ohren waren geübt und er stand auch nicht besonders weit von den beiden entfernt.
«Wir müssen», lautete die trockene Erwiderung.
Tatsächlich wurde das Tor kurz danach geöffnet und der Königsmörder hereingelassen.
Für den heutigen Tag legten sie ihre Arbeit nieder, blieben aber wachsam. So wichtig das Befestigen der Burg auch war, für einen weiteren Kampf mussten sie auch ausgeruht sein.
Keiner nahm von ihm weiter Notiz, was es einfach machte sich umzuschauen. Er ging die Wehrgänge entlang und sah nach unten, aber ausser dem Trupp von schätzungsweise fünftausend Mann der in sicherem Abstand zur Burg haltgemacht hatte, waren keine weiteren Soldaten zu sehen. Auch im Norden blieb alles ruhig. Für den Moment zumindest.
______________________________________
«Das solltet Ihr wirklich nicht tun», riet Maester Ewalt. Offenbar hatte Sam ihn darüber informiert, dass sie verletzt worden war. Eine Nacht reichte ihrer Meinung nach aber um sich zu erholen, weshalb sie bereits wieder in ihrem Zimmer herumhumpelte. Den Maester hatte sie gar nicht erst an die Wunde herangelassen.
«Solange ich stehen kann, kann ich auch gehen. Habt Ihr denn keine anderen Patienten?»
«Aber Euer Bruder sagte…» «Wenn ein Bruder etwas von mir will, kann er mir das persönlich mitteilen.» Ohne weiter auf die Vorbehalte des alten Mannes einzugehen, verliess sie ihr Zimmer um sich eine sinnvollere Beschäftigung zu suchen, als im Bett herumzuliegen. Die hatte sie auch erstaunlich schnell gefunden, denn auf ihrem Weg durch Winterfell entdeckte sie Missandei.
Sie folgte dem Blick der jungen Frau und entdeckte Drogon sowie Rhaegal, die beide um die Burg ihre Kreise zogen, mal weiter und mal näher.
«Gibt es etwas Neues?», fragte Ara um ein unverfängliches Gespräch zu beginnen. «Nein, bisher nicht.» Für einen Moment schwiegen die beiden, bis Missandei das Gespräch in eine Richtung lenkte, die Arya so nicht erwartet hätte.
«Ihr mögt Dany nicht besonders, habe ich Recht?» Eine Erwiderung darauf zu finden fiel ihr nicht sonderlich schwer. «Könnt Ihr mir das verübeln? Oder dem Rest des Nordens? Sie benimmt sich jetzt schon so, als wäre sie die Herrscherin der sieben Königslande.» Ihre Blicke trafen sich. «Ohne Daenerys und ihre Drachen gäbe es den Norden bereits nicht mehr.»
«Wenn ich mich rechte erinnere, war es einer ihrer Drachen, der die Mauer überhaupt erst zum Einsturz brachte.» Kaum hatten die Worte ihren Mund verlassen, bereutet sie sie auch schon. Immerhin wollte sie Missandei kennenlernen und keinen Streit vom Zaun zu brechen. Zum Glück nahm sie ihr die Bemerkung offenbar nicht übel. «Ihr seid eine harte Gesprächspartnerin.»
«Das kann man von Euch auch behaupten. Ich nehme an, deshalb ist Daenerys auch so froh um Eure Unterstützung.» Sie lächelte. «Sicher einer der Gründe. Ausserdem könnte ich sie niemals im Stich lassen, nachdem sie mir die Freiheit schenkte.»
Aufmerksam betrachtete Arya Missandei. Ihre Haut war zwar dunkel, aber doch zu hell für die Sommerinseln. «Ich komme aus Naath.» Offenbar war ihr Aryas Blick nicht verborgen geblieben. «Die Herren von Astapor haben diese hier zur Schreiberin ausgebildet und Daenerys geschenkt. Sie gab mir die Freiheit, doch ich bin aus freien Stücken geblieben. Ich will, dass ihr das wisst, um zu begreifen, dass sie nicht nur eine gute Königin, sondern auch ein guter Mensch ist. «Ich werde mir Eure Worte zu Herzen nehmen.» Damit gab sich Missandei offenbar zufrieden. «Ich sehe mich draussen nach dem rechten. Kommet Ihr mit?»
«Vielleicht später.» Während Missandei von dannen zog machte Arya sich Gedanken darüber, wie sie sie am besten imitieren konnte. Doch blieb sie nicht lange alleine.
«Hier steckst du also.» Mit einem müden Lächeln gesellte sich Jon zu ihr. «Dann bist du also Maester Ewalt begegnet?» Wundern täte es sie keineswegs, wenn der alte Kauz sogleich ihren Bruder aufsuchte. Nach der Sache mit Sansa hatte Jon ihm wahrscheinlich aufgetragen, ihn über alles zu unterrichten, was seine Familie betraf.
«Nein. Aber ich kenne dich. Was macht das Bein?» Sie verlagerte das Gewicht auf die verletzte Seite und verzog das Gesicht. «Tut weh. Könnte aber schlimmer sein.» Zum Beispiel, wenn einer der weissen Wanderer sie berührt hätte. Sie sah, dass Jon sich zusammennehmen musste um ihr keine Standpauke zu halten. «Und wie geht es dir?», entgegnete sie. Seine Augenringe verrieten, dass seine letzte erholsame Nacht auch schon eine ganze Weile her sein musste. «Ich kann immer noch nicht glauben, dass sie weg ist.» «Ich weiss.» Sie lehnte sich an ihn und er schlang einen Arm um ihre Taille. Sie wusste nicht, wann sie zuletzt jemandem so nahe gewesen war und genoss das Gefühl, wusste aber zugleich, dass dies wohl die letzte Umarmung war, die ihr Bruder sie sie je teilen würden. Auch wenn er hoffentlich nie erfuhr, wer Daenerys auf dem Gewissen hatte, ihr nächster Abschied war endgültig. Nochmal kehrte sie nicht nachhause zurück. «Du weisst, ich will nur das Beste für dich.» Unsicher worauf er hinauswollte, nickte sie. «Wer war das gestern Abend in deinem Zimmer?»
«Jemand der mir geholfen hat, überhaupt bis dahin zu kommen.»
«Und warum hast du nicht Maester Edwalt oder Sam geholt?»
«Was ist deine eigentliche Frage, Jon?» Er rauftes ich die Haare und wirkte geradezu verzweifelt. «Bran und du- ihr benehmt euch in letzter Zeit so seltsam. Ich weiss, wir haben uns in den letzten Jahren alle verändert. Aber ich will euch nicht auch noch verlieren. Und so gern ich es auch anders hätte, ich kann hier nicht jedem vertrauen.» Sie fuhr ihm mit der Hand über den Rücken, in der Hoffnung, ihn wenigstens etwas zu trösten. «Du wirst uns nicht verlieren.» Entweder log sie besser als gedacht, oder er war so verzweifelt, dass er selbst ihre kläglichste Lüge glauben wollte.
«Es war nicht das erste Mal, dass du mit diesem Söldner gesprochen hast. Weisst du, Sansa hat da mal so etwas erwähnt…» Mit einem genervten Aufstöhnen verdrehte sie die Augen. Nicht, weil sie Angst um ihren Auftrag hatte, sondern weil sie es schon immer gehasst hatte, wenn man sie bevormundete.
«Bei den Göttern Jon, du solltest doch mittlerweile wissen, dass ich mehr männliche als weibliche Bekannte habe. Wo liegt das Problem?»
«Ich weiss nicht. Etwas an ihm gefällt mir nicht.»
«Ich denke es gibt im Moment ganz andere Dinge, um die du dich sorgen musst als mein Umfeld.» Sie war froh, dass er sich für den Moment geschlagen gab und sie noch einige Zeit schweigend geniessen konnten. Denn kurz nachdem draussen eine kleine Unruhe ausbrach, kam Daenerys zu ihnen um Jon zu holen. Eine Armee war ausserhalb von Winterfell gesichtet worden.
Wissend, dass sie draussen nichts ausrichten konnte, zog Arya sich in ihr Zimmer zurück und legte sich wieder hin. Nicht, um sich auszuruhen- obwohl ihr Bein sicherlich froh über die Entlastung war. Vor lauter Geschehnissen hatte sie es in letzter Zeit versäumt, von ihrer Gabe Gebrauch zu machen. Das änderte sich nun. Sie musste zugeben, so viel Schlechtes in Asshai auch vorgefallen war, in einem Punkt war die Reise ein voller Erfolg gewesen. Es gelang ihr nun meist auf Anhieb, ein Tier zu finden, dass sie für ihre Zwecke gebrauchen konnte. Mangels anderer Möglichkeiten wählte sie eine Krähe, konzentrierte sich aber darauf, sich nicht im Geist des Vogels zu verlieren.
Das Tier hatte auf einem alten Karren neben den Ställen gesessen, von dem aus es sich nun in die Lüfte erhob und sich der feindlichen Armee näherte. Alleine, dass die Männer aus südlicher Richtung gekommen waren, machte schon ziemlich klar, zu wem sie gehörten. Allerdings hatten sie ihre Waffen nicht erhoben, sondern warteten ab.
Die Krähe vollführte einen Kreis um die ganze Armee, schätzungsweise fünftausend Mann. Dann lenkte sie das Tier zur Burg zurück, nicht, ohne einen genauen Blick auf den bronzenen Drachen zu werfen, der unweit entfernt durch die Luft glitt. Es war das erste Mal, dass sie dem Drachen nahe genug war um die einzelnen Schuppen erkennen zu können. Die riesigen Flügel verursachten einen Luftzug, den sie selbst in dieser Entfernung fühlen konnte.
Bei ihrer Rückkehr zur Burg sah sie, wie das Tor geöffnet wurde um den Boten hereinzulassen. Neugierig flog sie über die Mauer hinweg und landete im Innenhof auf einer leeren Kiste, von wo aus sie einen guten Überblick hatte. Sie kannte das Gesicht sehr wohl und war mehr als erstaunt, dass er ohne Fesseln hier stand. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, ihm einfach die Augen auszupicken. Unfälle passierten ja schliesslich. Am Ende entschied sie sich trotzdem dagegen, besonders als sie hörte, was er zu sagen hatte. «Ich weiss, Ihr habt alle Gründe der Welt um mir zu misstrauen, ich bitte Euch dennoch, es nicht zu tun. Wenn ich diesen verkümmerten Rest von Armee richtig deute, seid Ihr auf jede Hilfe angewiesen, die Ihr kriegen könnt. Im Gegensatz zu meiner Schwester sehe ich was passiert, wenn diese Dinger den Norden überrannt haben. Dann werden sie nach Süden ziehen.» Sie sah, dass ausgerechnet Jon, der immer Hilfe aus dem Süden erbeten hatte nun mit seinen inneren Dämonen kämpfte. Verrat war in diesem Krieg alltäglich.
«Eure Worte klingen ehrlich, aber woher weiss ich, dass Ihr es ernst meint?»
«Schickt einen Boten nach Süden. Meine Schwester ist fuchsteufelswild und ich will Euch nicht belügen, viele haben mehr Angst vor ihr als vor einer Gefahr, die sie noch nie mit eigenen Augen gesehen haben. Deswegen stehen mir auch nicht mehr Männer zur Verfügung.» Jon schwieg und wirkte nachdenklich. «Ich muss mir die Sache erst durch den Kopf gehen lassen. Ihr könnt Euer Lager vorerst aufschlagen.» Jaime nickte, war aber offenbar noch nicht fertig. «Da ist noch etwas. Für den Weg nach Norden haben wir länger gebraucht als vermutet. Unsere Vorräte sind fast aufgebraucht.»
«Ihr verlangt viel, Ser Jaime. Ich werde mich mit meinen Männern beraten. Doch sollte sich herausstellen, dass Ihr hier ein falsches Spiel mit uns treibt, werdet Ihr das zutiefst bereuen. Das verspreche ich Euch.»
Und mit einem Mal lag sie wieder auf ihrem Bett. Es irritierte sie immer noch, wie dunkel es in ihrem Zimmer war und dass es den ganzen Tag über nicht heller geworden war. Wurde hier gerade eine Legende zur Wahrheit oder war der Winterhimmel einfach besonders dunkel?
Auf einmal stellten sich ihre Nackenhaare auf. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie sich nicht alleine im Raum befand. «Du hättest dich ruhig bemerkbar machen dürfen.» Wahrscheinlich hatte er das auch, aber wenn sie sich in einem anderen Körper befand, bekam sie überhaupt nicht mit, was um sie herum vor sich ging. Sie erhob sich und trat zu Jaqen. Er hatte auf dem kleinen Tisch, der sich in ihrem Zimmer befand eine Karte ausgebreitet, die von einer Kerze erhellt wurde. Die Karte zeigte Westeros und war erstaunlich detailliert.
«Was willst du damit?»
«Sobald der Auftrag erledigt ist, müssen wir so schnell wie möglich von hier weg. Ein Mann will den sichersten Weg finden.» Eine guter Plan. Nur war es schwer zu sagen, was der sicherste Weg war. Und ob es überhaupt noch Schiffe gab, die in Westeros anlegten.
«Wenn wir schon vom Auftrag sprechen… Ich hatte heute die Gelegenheit mit Missandei zu reden.» Jaqen sah sie abwartend an und so fuhr sie fort. «Jetzt weiss ich einiges mehr darüber, wie sie zu Daenerys kam. Über ihre Gewohnheiten konnte ich aber nicht viel in Erfahrung bringen.» Er rollte die Karte wieder zusammen.
«Ein Mädchen wird nicht die Zeit haben sich so vorzubereiten, wie es normalerweise für einen solchen Auftrag nötig ist. Sobald ein Mann das Gesicht von Missandei genommen hat, muss es schnell geschehen.» Er hatte Recht. Über kurz oder lang fiel es auf, wenn entweder Arya oder Missandei ständig verschwanden. Ein Doppelspiel war hier kaum möglich.
«An wann hast du gedacht?» Er wirkte nachdenklich und nicht zufrieden damit, was er nun sagen musste. «So bald wie möglich.»
__________________________________
Schweigend stand sie in der Ecke des Raumes, in welchem gerade harsche Worte hin- und hergeworfen wurden. «Nach allem was sie getan haben, wollt Ihr sie dafür auch noch durchfüttern?!» Diese Meinung hatte nicht nur Lord Cerwyn, der Grossteil aller Anwesenden teilte sie.
Jon gab sich gar nicht erst die Mühe, darauf einzugehen. Es artete sowieso nur in einer Diskussion aus, für die ihnen einfach keine Zeit blieb.
«Lord Cerwyn, wie viele Männer habt Ihr bei den letzten beiden Auseinandersetzungen verloren? Zweihundert, dreihundert?»
«Fast vierhundert», gab er zähneknirschend zu.
«Und genau deswegen brauchen wir jeden, den wir kriegen können. Was nutzen uns die Vorräte, wenn wir tot sind ehe wir sie brauchen können?» Wie Missandei wusste, war Jon durchaus ein Mensch, der für Gespräche bereit war, doch heute liess er keine Diskussion zu.
«Aber-»
«Kein Aber. Meine Entscheidung steht fest. Ihr müsst die Männer nicht mögen, ihr müsst ihnen auch nicht vertrauen, aber ihr müsst mit ihnen kämpfen. Und sagt euren Männern, dass jeder, der ohne Grund einen von ihnen tötet, bei der nächsten Schlacht in der ersten Reihe kämpft.»
Es folgten darauf einige empörte Ausrufe, doch im Inneren sahen wahrscheinlich die meisten ein, dass er Recht hatte. Oder sie hatten Angst, dass er seine Drohung doch noch wahr machte. Jedenfalls löste sich die Versammlung danach recht schnell auf und Daenerys wandte sich um. Missandei fand es schwierig zu sagen, was im Moment in ihr vorging.
«Ihr solltet Euch ausruhen», riet sie ihr. Nicht nur weil sie ihre Königin war, sondern weil sie ihr am Herzen lag und die letzten Monate sehr an ihren Kräften gezehrt hatte.
«Ich weiss. Aber das kann ich erst, wenn das alles hier vorbei ist. Ich bin mir sicher, die letzte Angriffswelle steht kurz bevor. Noch eine solche Niederlage wie gestern werden wir nicht verkraften.»
Kurze Zeit später zog sich Daenerys mit Jon in dessen Gemächer zurück. Für Missandei gab es nichts mehr zu tun und so zog auch sie sich zurück. Grauer Wurm war draussen und übte mit anderen Unbefleckten. Von denen, die ihnen gefolgt waren, waren nicht mehr viele übrig.
Die nächsten Tage erwiesen sich als eine wahre Belastungsprobe für ihre Nerven. Alle wussten zweifellos, dass der entscheidende Angriff folgen würde, lange war nur nicht klar, wann genau. Die Antwort darauf erhielten sie genau elf Tage nachdem Jaime Lannister mit seinem Trupp eingetroffen war. Daenerys hatte auf einem ihrer täglichen Rundflüge die Armee Untoter gesehen, welche auf Winterfell zumarschierten. Sie war ihnen anzahlmässig weit überlegen, doch diesmal hatten sie Zeit, auch ihre Truppen zu ordnen und ihnen standen zwei Drachen zur Verfügung. Ohne diese wäre es ein aussichtsloser Kampf gewesen.
Da ihre Dienste als Schreiberin bei der Schlacht nicht von Nöten waren, half sie stattdessen an einem Ort, wo immer helfende Hände gesucht wurden- beim Behandeln von Verletzten.
Sie war gerade dabei, eine Pfeilwunde zu säubern. Der Dothraki hatte ihn sich selbst aus der Schulter gezogen und sich dabei reichlich ungeschickt angestellt, wodurch die Wunde nun grösser war als nötig.
Die Tür wurde aufgestossen und ein junger Mann trat herein. Er konnte kaum älter als zwanzig sein, das strohblondes Haar war vom Schnee durchnässt.
«Ich brauche hier draussen Hilfe mit einem Verletzten! Bitte kommt schnell!» Suchend sah sie sich um, aber ausser ihr befand sich im Moment nur eine Helferin in der Halle und die war mit einem Schwerverletzten beschäftigt. Der Dothraki würde nicht verbluten. Ohne zu zögern folgte sie dem Soldaten. Wohl ein Söldner, jedenfalls trug er kein Wappen.
Draussen führte er sie durch den hinteren Teil des Burghofes. Hatte er den Verletzten bis hierher geschleift? Sie blieb stehen, denn am Boden war nach wie vor niemand zu erkennen. Geschweige denn, dass hier gekämpft wurde. Noch waren die Feinde nicht durchgebrochen.
«Wo ist der Verletzte?»
Schneller als sie es mit ihren Augen erfassen konnte, drehte der Söldner sich um und sie sah etwas aufblitzen.
Der stechende Schmerz liess sie ihren Blick nach unten senken, wo sie der Klinge gewahr wurde, die aus ihrer Brust ragte. Keiner war in der Nähe, der ihr hätte helfen können und ihr blieb nicht mal mehr genügend Zeit, um nach Hilfe zu schreien. Ihre Welt versank in Dunkelheit und ihr letzter Gedanke galt der Frage, warum um alles in der Welt sie sterben musste.
______________________________
Die Wehrholzbäume wirkten in dieser Nacht nicht göttlich, sondern bedrohlich. Und dennoch erweckten die knorrigen Äste zumindest ansatzweise so etwas wie das Gefühl nach Schutz, als Arya neben Bran am Boden sass.
«Du brauchst nicht hier zu sein», wiederholte er, so wie sie sich auch bei ihrer Erwiderung wiederholte. «Ich weiss. Aber draussen bin ich auch keine Hilfe.» Auf den Wehrmauern hätte sie vielleicht auch noch helfen können. Ihre Spezialität war zwar der Schwert- oder auch Nahkampf, doch mit Pfeil und Bogen konnte sie ebenfalls umgehen. Die Wahrheit war, dass sie hier sein wollte, etwas sie dazu trieb. Sie hatte sich nie wirklich wie eine grosse Schwester gefühlt, doch diese Nacht tat sie es. Brans Worte an Sansas Totenbett hatten sie nicht mehr losgelassen und sie glaubte, dass er mehr über seine- und vielleicht auch ihre Zukunft wusste, als er ihr preisgab.
Ein blauer Lichtschein durchzuckte den Himmel. Es war kein Blitz, sondern Viserion, der sein vernichtendes Feuer gegen den eigenen Bruder spie. Und zu ihrem Unbehagen hatte Viserion die Oberhand. Drogon war wohl dabei, die feindlichen Streitmächte auseinanderzutreiben, denn der Drache kam seinem Bruder nicht zu Hilfe.
Sie schlang ihren Mantel etwas enger um sich. So ganz ohne Bewegung war es selbst dann bitterkalt, wenn es gerade windstill war. «Du machst das hier schon länger als ich. Hast du schon mal versucht einen Drachen zu kontrollieren?» Immerhin war dieser ja auch auf gewisse Art ein Tier, ihrer Meinung nach müsste es also funktionieren. «Nein. Aber Viserion steht unter der Kontrolle des Nachtkönigs, das könnte dich töten.» Keine Besonders angenehme Vorstellung. Aber irgendetwas mussten sie tun.
«Hast du eine bessere Idee?» Arya hatte schon vieles überlebt, das andere nicht getan hätten. Vielleicht hatte sie dieses Glück nochmal.
«Habe ich nicht. Aber ich werde es tun.» Entgeistert sah sie ihren Bruder an. Hatte er vorhin nicht noch davon gesprochen, wie gefährlich es war?
«Willst du so dringend sterben?»
«Nein, aber wie du schon gesagt hast, ich mache das hier etwas länger als du. Und meine Visionen lassen mir keine Wahl.» Während er sprach, richtete er seinen Blick zu den beiden kämpfenden Drachen. Rhaegal hielt sich wacker. «Daenerys schlägt sich nicht schlecht», musste sie schliesslich einräumen. Es war ein furchteinflössender Anblick, wenn zwei Drachen gegeneinander kämpften, aber auch faszinierend.
«Das ist nicht Daenerys, das ist Jon.» Verblüfft sah sie ihn an. «Warum sollte Jon…»
«Ich würde dir gerne alles erklären, aber dazu fehlt uns die Zeit. Wenn du die Wahrheit erfahren willst, frage Sam.» Arya verstand die Welt nicht mehr. Alles was Bran in den letzten Minuten getan hatte, war ihr weitere Rätsel aufzugeben, auf die er sehr wohl eine Antwort kannte. Sie sah, dass er sich konzentrierte, sich dazu bereit machte, in den Geist des Drachens einzudringen. Doch so leicht kam er ihr nicht davon.
«Bran!» Sie packte ihn an der Schulter, wollte ihn zur Vernunft bringen. Doch sein Geist war bereits fort. Das erkannte sie auch daran, dass Viserion einen Laut ausstiess, der ihr das Blut in den Adern gefrieren liess.