Als sie am nächsten Morgen ihr Lager abbrachen, herrschte Schweigen. Wie durch ein Wunder waren beide Reittiere unversehrt geblieben und sie konnten zu ihrer beider Erleichterung sofort aufbrechen.
Während der ersten Tage ihrer Weiterreise behielt er Arya besonders gut im Auge. Es gab zwar kein Anzeichen dafür, dass etwas von Noridos noch lebte, doch das Messer in seiner Brust hatte ihn vorsichtig werden lassen. Trotzdem versuchte er sich möglichst nicht anmerken zu lassen, wie sehr der Stich mittlerweile pochte, nun wo er sich etwas entspannen konnte. Ihm war klar, dass sie sich Vorwürfe machte.
Ihr ursprünglicher Plan war es, von Weisswasserhafen aus ein Schiff nach Osten zu nehmen. Doch wie sich herausstellte, wagte es aufgrund der rauen See kaum ein Handelsschiff so hoch in den Norden vorzudringen. Wenn sie Pech hatten, mussten sie unter Umständen mehrere Monate lang ausharren. Also nahmen sie lieber den Umweg nach Süden in Kauf, der sie ebenfalls einige Wochen kostete. Doch Reiten war weitaus angenehmer als einfaches Warten.
Der Königsweg war am Anfang völlig zugeschneit und wurde erst im Verlauf ihrer Reise etwas deutlicher. Nicht zuletzt, weil kaum ein Tag verging, an dem ihnen kein Soldatentrupp mit rot-goldenem Wappen begegnete. Kaum hatte der Norden den Feind jenseits der Mauer besiegt, kam das nächste Unheil schon von Süden. Doch das ging sie nun nichts mehr an. Selbst Arya wirkte ehre unbeteiligt, trieb ihr Pferd jedoch immer wieder zum Galopp. Etwas, das er aufgrund der Wunde weitestmöglich zu verhindern suchte.
Am Ende lohnte sich der Umweg jedoch. Sie fanden noch am selben Tag, an dem sie in Salzpfann eintrafen ein Schiff, welches sie über die Meerenge bringen würde. Trotz des eisigen Windes blieben sie beide an Deck und starrten auf den immer kleiner werdenden Landstreifen hinaus. Er hoffte, den Kontinent nicht mehr sehen zu müssen, solange der Winter andauerte.
«Was kommt eigentlich als Nächstes?» Fragend wandte er sich nach links, wo Arya auf die graue See hinausblickte, die an diesem tristen Nachmittag kaum vom Himmel zu unterscheiden war.
«Nach dem was in den letzten Wochen passiert ist, hätte ein Mann nicht gedacht, dass ein Mädchen bereits wieder an einen Auftrag denkt.»
Sie schnaubte. «Das tue ich auch nicht. In nächster Zeit gebe ich mich liebend gerne mit Fegen und Kerzen auswechseln zufrieden.» Er verkniff sich ein genervtes Seufzen. Man diente dem Gott eben nicht nur, indem man ihm Leben opferte, sondern auch indem man seinen Tempel ehrte.
«Ich meine wie es danach mit mir weitergeht. Vor der Abreise sagte man mir, wenn der Auftrag erfolgreich sei, wäre ich soweit. Nur hat mir bis jetzt keiner wirklich erklärt, was das bedeutet.» Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie dieses Thema zur Sprache brachte. Doch konnte er ihr keine Antwort darauf geben. Zumal sie sich, wenn sie die ganze Wahrheit kennen würde, sicher nur unnötig Gedanken dazu gemacht hätte.
«Das alles wird ein Mädchen erfahren, wenn die Zeit reif ist. Zuerst muss der ganze Orden einstimmig seine Zustimmung dafür geben – und wie ein Mädchen weiss, kommt es nur sehr selten vor, dass alle Mitglieder zusammenkommen.» Wenn er sich richtig erinnerte, hatte sie das während ihrer Zeit im Orden noch gar nicht erlebt. Das letzte Mal war über zehn Jahre her, kurz bevor er nach Westeros aufgebrochen war.
Er kannte sie gut genug um zu wissen, dass die Antwort ihr nicht reichte, aber sie fragte nicht weiter nach.
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Als sie Braavos einige Tage später erreichten, fiel eine Spannung von ihm ab, von der er gar nicht gemerkt hatte, dass sie überhaupt da gewesen war. Ein kleiner Teil seines Bewusstseins war wohl davon ausgegangen, dass wieder etwas schiefging, wie es bei der Belagerung der Weissen Wanderer der Fall gewesen war. Doch dem war nicht so.
Rund um den Hafen herrsche wie immer ein wildes Durcheinander, auch wenn die Ausläufer des Winters selbst hier dazu geführt hatte, dass die Leute dickere Kleidung trugen. So früh am Morgen war die Luft sogar so kalt, dass sich beim Sprechen kleine Wölkchen vor dem Mund bildeten.
Es war angenehm, in die gewohnte Umgebung des Tempels zurückzukehren, der sich nicht im Geringsten verändert hatte. Beim Vorübergehen warf er einen Blick auf die Statuen und schickte ein stummes Stossgebet an ihn mit den vielen Gesichtern für die einigermassen sichere Rückkehr.
Die Priesterin empfing sie mit einem erleichterten Lächeln, was besonders auffiel, da sie nicht gerade eine Frohnatur war. «Valar Morghulis.»
«Valar Dohaerys», erwiderten er und Arya fast zeitgleich.
«Im Moment erhalten wir kaum Neuigkeiten aus dem Westen. Doch da ihr zurückkehrt, gehe ich davon aus, dass der Auftrag erledigt wurde?» Arya neben ihm nickte bloss. Immerhin war es ihr Auftrag gewesen und wenn man die widrigen Umstände bedachte, hatte sie sich dabei wirklich gut geschlagen.
«Wurdest du gesehen?»
«Nur von Daenerys. Und sie ist tot. Alle anderen glaubten, es sei ihre Dienerin gewesen.» Sie war zufrieden und Jaqen sah nichts, was darauf hindeutete, dass sie immer noch misstrauisch war. Mit dem Verschweigen von Aryas Besessenheit durch Noridos hatte er sich auf sehr dünnes Eis begeben, doch im Moment sah es nicht danach aus, als hätten sie Verdacht geschöpft.
«Gut. Verstaut euer Gepäck und ruht euch aus, heute Abend steht eine Zusammenkunft bevor.» Nachdenklich runzelte er die Stirn. Der Himmel war zwar in den letzten Tagen bedeckt gewesen, doch nach allem was er wusste, würde es noch zehn Tage bis zum nächsten Neumond dauern.
«Eine unplanmässige Zusammenkunft», bestätigte die Priesterin, die seinen Blick aufgefangen hatte. Das bedeutete selten etwas Gutes.
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Sie mochte zwar noch eine Akolythin sein, doch sie musste nicht mehr während der ganzen Zusammenkunft einen Krug mit Wasser oder verdünntem Wein in der Hand dastehen, sondern konnte sich voll und ganz auf die Zusammenkunft konzentrieren. Immerhin gab es zwei neue Akolythen, die diese Aufgabe nun übernahmen, wobei einer von ihnen mindestens zehn Jahre älter war als Arya.
Vielleicht bildete sie es sich auch nur ein, weil sie so lange nicht mehr hier gewesen war, doch die Diskussion wirkte hitziger, als sie sie gewohnt war. Jedenfalls ab dem Zeitpunkt, ab dem der Auftrag welche den ältesten Sohn des Seelords betraf angesprochen wurde.
Ferrego Antaryon war schon Zeit seines Lebens ein kränklicher Mann gewesen und im Moment sah es so aus, als würde er sich nicht mehr erholen. Und ausgerechnet jetzt, wo sein Ableben nur noch eine Frage von Wochen war, begehrte auf einmal jemand den Tod seines ältesten Sohnes.
Im Gegensatz zu den Königen in Westeros, wurde der Titel des Seelords nicht von Vater zu Sohn vererbt, der Regent wurde gewählt. Trotzdem war in diesem Fall die Wahrscheinlichkeit gross, dass sein Sohn die Folge antreten könnte, denn dieser erfreute sich beim Volk von Braavos grosser Beliebtheit und hatte die Regierung ohnehin schon mehr oder weniger im Alleingang geführt. Man musste also nicht besonders schlau sein um sich auszumalen, was das Ziel dieses Auftrags war. Einen möglichen Gegner frühzeitig aus dem Weg zu räumen.
Jaqen schaffte es aber, das Gespräch wieder in etwas ruhigere Bahnen zu lenken und der Auftrag wurde anschliessend mit einer grossen Mehrheit abgelehnt. Sie waren sich zwar alle darüber im Klaren, dass, wenn sie es nicht taten, jemand anderes den Mord ausführen würde, aber das war dann nicht ihr Problem.
Als nächstes berichtete ein anderer der Gesichtslosen von Unruhen in Volantis.
«Wenn ich es nicht besser wüsste», endete er seine Erzählungen, «könnte man meinen sie wollen sich wieder mit den umliegenden Städten anlegen. Lys und Tyrosh nehmen das alles noch nicht sehr ernst, aber Myr hat viele neue Söldner angeheuert.» Myr… Sie war noch nie dort gewesen, kannte die Stadt höchstens durch Thoros` Namen her.
«Das ist nun aber wirklich nichts Besonderes», wandte ein anderer Ordensbruder ein. «Das machen sie alle paar Jahre.»
«Ja, aber normalerweise handelt es sich um zwei-, wenn es hoch kommt dreihundert Söldner. Diesmal sollen es zehntausend sein. Und Volantis lässt das natürlich nicht auf sich sitzen.» Was folgte, war eine ungemütliche Stille, die wirkte wie die Spannung vor einem Gewitter. Arya stand da wie schon in den beiden Stunden zuvor, sah aber auf einigen Gesichtern das, was sie selbst auch dachte. Freie Städte die sich bekriegten und Braavos, das vielleicht bald ohne Herrscher dastand. Dagegen tun konnten sie allerdings nicht, nur abwarten, wie sich alles entwickelte. Sie für ihren Teil hatte genug vom Krieg und hoffte, dass es beim typischen Kräftemessen der Städte blieb.
«Bevor wir diese Zusammenkunft beenden, sollten wir auch von den gelungenen Aufträgen sprechen.» Die Heimatlose warf ihr einen Blick zu und sie spürte, wie sich auch alle anderen Blicke auf sie legten.
«Es sind erste Meldungen eingetroffen, dass Daenerys Targaryen tot ist. Man sagt, sie wurde von ihrer eigenen Dienerin hinterrücks erschlagen.» Sie liess den Satz einfach so in der Luft hängen, weshalb Arya nichts anderes übrig blieb, als darauf einzugehen.
«Ich habe sie nicht erschlagen, sondern beim Baden ertränkt.» Es wunderte sie nicht, dass gewisse Einzelheiten falsch berichtet wurden, das war meistens der Fall.
«Und bist du stolz darauf?», fragte eine Gesichtslose an dem Ende des Tisches, der am weitesten von ihre entfernt war. Die einzige andere Frau neben ihr und der Heimatlosen. Solche Provokationen war sie sich mittlerweile gewöhnt. Die wenigen Male, die sie während einer Versammlung zu sprechen aufgefordert worden war, hatte eines der Ordensmitglieder versucht sie zu provozieren. Sie hatte schnell erkannt, dass das wie alles andere der Übung galt und nicht persönlich gemeint war.
«Nein, bin ich nicht. Ich habe einen Auftrag erledigt, nicht mehr und nicht weniger.» Sie sah in die Augen der Gesichtslosen. Es bereitete ihr keinerlei Probleme, den Blick zu erwidern, denn was sie sagt meinte sie auch so.
«Ihr könnt gehen», beendete Jaqen schliesslich das wortlose Kräftemessen. Diese Worte richtete sich gegen alle Akolythen, einschliesslich Arya. Die Versammlung war jedoch nicht aufgehoben, was hiess, dass noch etwas besprochen wurde, was nicht für ihre Ohren bestimmt war.
Da sie ihre täglichen Pflichten soweit schon erledigt hatte, zog sie sich in die Bibliothek des Tempels zurück. Sie wusste zwar schon viel über die Geschichte der freien Städte, alles war ihr allerdings nicht in Erinnerung geblieben.
Es dauerte nicht lange bis sie fündig wurde und ein altes, leicht verstaubtes Buch hervorzog. Es war in Hochvalyrisch verfasst, in dem sie aber mittlerweile fast so sicher war wie in ihrer Muttersprache. Zumindest beim Lesen.
Jahrhundert des Blutes. So wurde das Jahrhundert nach dem Untergang Valyrias genannt, so viel wusste Arya noch. Sie wusste auch, dass Volantis damals eine tragende Rolle gespielt hatte und die umstrittenen Lande noch heute von den Folgen jenes verheerenden Krieges zeugte.
Doch ein Absatz, den sie anfangs nur kurz überflog, dann aber genauer las, liess sie aufhorchen. Tyrosh gelang es als erste Stadt, sich gegen die Volantene zu behaupten. Wenngleich sie den Sieg nicht zuletzt Aegon I. Targaryen sowie ihrer Schwesterstadt Pentos zu verdanken hatte. Ohne die Mithilfe dieser Parteien, wäre der Plan, welcher schier an Wahnsinn grenzt, vielleicht sogar aufgegangen und Volantis hätte die Oberherrschaft über die freien Städte erlangt.
Gedankenverloren drehte sie sich um, um das Buch an seinen angestammten Platz zurückzulegen. Dabei wäre sie beinahe mit der Gesichtslosen zusammengestossen, mit der sie sich ein Blickduell geliefert hatte. Wenigstens konnte Arya sich genug Würde bewahren, um das Buch nicht vor Schreck auf den Boden fallen zu lassen.
Sie wartete bereits auf eine Belehrung, erhielt aber nur ein spöttisches Grinsen. «Das muss aber sein sehr spannendes Buch gewesen sein.» Ohne auf eine Antwort zu warten, zog die Frau ihr das Buch aus den Händen und las den Titel.
«Man sagte mir bereits, dass du neugierig bist. Das ist gut. Jedenfalls, solange du es für deine Aufträge einsetzt.» Sie stellte das Buch ins Regal zurück und wandte sich dann wieder Arya zu.
«Worüber hast du nachgedacht?»
«Garnichts.»
«Und du lügst wirklich so schlecht wie alle sagen.» Arya schluckte den Anflug von Wut herunter, der in ihr brannte. Die Wut richtete sich nicht gegen die Frau vor sich, sondern gegen sich selbst und diese eine Schwachstelle, die sie offenbar noch immer nicht im Griff hatte. Wenn sie schon vorhin ruhig geblieben war, schaffte sie das auch jetzt. Aber offenbar erwartete ihr Gegenüber auch gar keine Antwort.
«Wenn es dich irgendwie beruhigt, kaum einer von uns kann den anderen anlügen. Das dürfen wir auch gar nicht.» Jaqen hatte gelogen. Und nicht zum ersten Mal fragte sie sich, was es für Konsequenzen nach sich zog, wenn die Angelegenheit mit Noridos ans Licht kam. Obgleich sie sich darüber eigentlich keine Gedanken mehr zu machen brauchte. Noridos war tot und die Einzige die neben Jaqen und ihr davon wusste ebenfalls. Es gab also nichts zu befürchten.
Trotzdem war sie dankbar, als die Frau den Blick von ihr abwandte und zu einem der Bücherregale hinüberging. Erst jetzt fiel Arya auf, dass sie humpelte. Ziemlich heftig sogar.
«Was ist mit deinem Bein passiert?» Es war ehrliche Neugierde die aus ihr sprach. Es kam selten vor, dass sie etwas genaueres über Aufträge hörte.
«Anfängerfehler in Sothoryos. Wenn du von einem Tier gebissen wirst, solltest du immer daran denken, das Vieh einzufangen damit du weisst, was dich erwischt hat. Ich hätte es besser wissen müssen.» Sie zog ihre Robe bis übers Knie hoch. Nur, dass sie am rechten Bein kein Knie mehr besass. Alles, was sich abwärts ihres Oberschenkels befunden hatte, war durch eine Holzkonstruktion ersetzt worden. Wobei der Stumpf rot und die Wunde nicht gerade schön aussah. Arya, die nun wirklich nicht zimperlich war, spürte wie ihr leicht flau im Magen wurde. Nicht wegen dem eiternden Wundrand, sondern alleine von der Vorstellung, ein Bein oder einen Arm zu verlieren. Die Frau verzog nur das Gesicht zu einem gequälten Lächeln. «Du wirst dich in nächster Zeit wohl noch öfters mit meiner Anwesenheit herumschlagen müssen.» Mit diesen Worten wandte sie sich endgültig von Arya ab und diese nutzte die Chance, um sich aus der Bibliothek davonzustehlen.