«Hat Inneo Hestin etwas gesagt?» Die Stimme der Heimatlosen riss sie aus ihren eigenen Gedanken. Als Arya ihr Gewicht verlagerte, pochte es in ihrem Unterleib, als wolle der Schmerz ihr die vergangene Nacht noch etwas genauer ins Gedächtnis brennen. Doch sie schluckte alle Emotionen herunter und antwortete ohne das geringste Zittern in der Stimme.
«Er hat gesagt, wir Braavosi sollen nicht so stolz sein, immerhin seien wir doch bloss eines Sklavenkolonie.» Doch nie hätte sie gedacht, dass so viel hinter diesen Worten stecken könnte. Wusste er denn nicht, mit wem er es hier zu tun hatte? Sie waren vielleicht nicht zahlreich, doch Arya war überzeugt davon, dass die Männer ohne Gesicht es mit einem zahlenmässig vielfach überlegenen Gegner aufnehmen konnten.
«Das ist sicher kein Zufall», wandte der Gesichtslose ein, der zwischen Jaqen und Sera stand. Der, mit der blutverschmierten Kleidung. «Aber ein Mann alleine würde das Risiko nicht auf sich nehmen. Hestin ist nur ein kleiner Teil des richtigen Problems.» Da hatte er recht. Hestin musste mächtige Unterstützung hinter sich haben, sonst würde er wohl kaum so selbstsicher auftreten.
«Jetzt darüber zu sprechen führt zu nichts. Wir müssen alle Diener zurückrufen. Sie sollen ihre Aufträge zu Ende führen und danach nach Braavos zurückkehren. Bis diese Sache geklärt ist, werden wir keine Aufträge mehr annehmen», entschied der gütige Mann. Alle teilten seine Meinung, auch Arya, die nach der Zeit in Westeros eigentlich genug vom Krieg hatte.
«Ist es sinnvoll, abzuwarten bis alle hier sind? Das kann Monate dauern. In der Zwischenzeit müssen wir doch etwas tun können.» Wieder der Gesichtslose mit der blutverschmierten Kleidung. Arya vermutete, dass er es gewesen war, der den Toten gefunden- und hergebracht hatte.
«Um eine Konfrontation zu riskieren, ist es zu früh», erklärte der gütige Mann. «Aber natürlich können wir etwas tun. Ich bin dem Hinweis mit den Schiffen nachgegangen.» Bei diesen Worten sah er kurz in ihre Richtung. «Es ist schon vielen Kapitänen aufgefallen. Keiner wusste, was für Fracht sie geladen haben, doch nun scheint es recht offensichtlich.» Arya runzelte die Stirn. «Doch woher sollten sie die Sklaven nehmen? Es würde doch auffallen, wenn plötzlich Leute verschwinden», sagte Arya.
«Genau das ist die Frage, um die wir uns als erstes kümmern sollten. Zum jetzigen Zeitpunkt sind wir nicht sicher ob sie sich die Sklaven wirklich von hier holen, oder ob sie Sklaven hier verkaufen.» Es wurden zwei Gesichtslose ausgewählt, welche die Schiffe genauestens beobachten und so viel wie möglich in Erfahrung bringen sollten. Gegen Ende des Gespräches hörte Arya kaum noch zu, so sehr war sie in ihre eigenen Gedanken versunken.
Als die kleine Gruppe sich auflöste war sie versucht, sich in ihre Kammer zurückzuziehen. Sie musste ja noch die Überreste des Kleides verbrennen.
«Komm mit.» Es war die Heimatlose und Arya konnte noch gerade so ein entnervtes Seufzen unterdrücken. Ihr stand weder der Sinn nach weiteren Gesprächen, noch nach weiterem Unterricht. Doch je schneller es vorbei war, desto eher hatte sie ihre Ruhe, also folgte sie der Priesterin. Ihr Weg führte sie hinunter zu den Giften, Heilkräutern und allem, was irgendwo dazwischen lag. Auf dem Tisch stand bereits eine Phiole, welche die Heimatlose ihr nun in die Finger drückte. Sie war noch leicht warm, was immer dort drin war, war frisch gebraut. Als Arya es nicht sofort öffnete, schnaubte die Heimatlose belustigt.
«Hast nicht du mir vor einiger Zeit die Ohren vollgejammert, dass du nie Kinder in die Welt setzen willst? Dann solltest du das vielleicht besser trinken.» Arya spürte, wie ihr heiss und kalt zugleich wurde. Wie hatte sie das nur vergessen können? Sofort leerte sie den Inhalt in einem Zug, wobei sie es nur mühsam schaffte, dass er auch drin blieb. Sie hatte seit Stunden nichts mehr gegessen und schmecken tat es auch nicht gerade.
«Falls du dich in den nächsten Tagen übergibst, sagst du es mir. Dann musst du es nochmal trinken. So oder so wirst du dich nicht besonders wohl fühlen.» Die Heimatlose räumte die leere Phiole weg und reichte ihr stattdessen einen kleinen Tiegel mit Salbe. Dazu sagte sie nichts, aber Arya konnte sich denken wofür die gedacht war.
Sie nahm sich das kleine Gefäss, griff beim Hinausgehen aber auch nach einer Flasche reinen Alkohols, der benutzt wurde, um die leeren Gefässe und auch die Werkzeuge zu reinigen. Dabei spürte sie den Blick der Heimatlosen im Nacken. «Ich werde das Kleid verbrennen. Anziehen kann man es ohnehin nicht mehr.» Ihren Worten liess sie Taten folgen. Sie klaubte sich die Überbleibsel des Kleides vom Boden ihrer Zelle und ging damit zu einem der Feuer im hinteren Bereich des Tempels. Dort warf sie es in die Flammen und schüttete die halbe Flasche Alkohol hinterher. Die hohe Flamme die dabei entstand, hüllte den Tempel in etwas mehr Licht als gewöhnlich. Als sie es sich wieder getraute in die Flammen zu schauen, war von dem blauen Stoff nichts mehr übrig. Zum ersten Mal verstand sie die Faszination, die manche Leute für das Feuer hegten. Innerhalb kürzester Zeit konnte es unliebsame Gegenstände, Gebäude oder Menschen zu Asche verwandeln.
Als sie sich vom Kamin umwandte, liess sie den Blick durch das Innere des Tempels gleiten, in der Hoffnung, dass Jaqen vielleicht alleine dort stand. Sie hatte seinen hasserfüllten Blick nicht vergessen, der so gar nicht zu dem ruhigen Charakter passen wollte, den sie bis jetzt an ihm kennengelernt hatte. Wobei er sich auch diese Wesenszüge vielleicht nur mühsam angeeignet hatte. Und selbst wenn er dort gewesen wäre, war es zweifelhaft, dass er ihr die Wahrheit darüber erzählte. Ihr Instinkt sagte ihr, dass es in Zusammenhang damit stand, wer er einmal gewesen war. Und je länger sie hier war, desto mehr realisierte sie, dass Quaithes Worte der Wahrheit entsprachen. Keiner der Männer ohne Gesicht war völlig identitätslos. Sie hatten zwar gelernt, sich völlig von ihrer Identität zu lösen, die sie einst hatten, doch es gab Situationen, die diese wieder zum Vorschein brachten. Doch er war nicht da.
Nachdem sie den verbliebenen Alkohol an seinen angestammten Platz zurückgestellt hatte, erlaubte sie es sich, sich etwas hinzulegen. Ihr war zwar nicht so übel, dass sie Angst hatte, das Gebräu zu erbrechen, doch sie fühlte sich nicht besonders gut und war froh, als sie nach langer Zeit endlich etwas schlaf fand.
~ ~ ~
Der Morgen war noch jung. Es bahnten sich gerade die ersten Morgenstrahlen durch den morgendlichen Dunst, ebenso wie sich die ersten Leute ihren Weg durch die Strassen bahnten. Je näher die beiden Männer dem Hafen kamen, desto lauter wurde es und schon kurz darauf nahm alles seinen gewohnten Gang.
Die beiden Gestalten fielen nicht weiter auf. Beide waren mittleren Alters, trugen einfache Kleidung und hatten nichts Nennenswertes an sich. Wer sie sah, vergass sie gleich wieder. Der eine trug für diesen Tag den Namen Yazem und hatte ein älteres, von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht. Der jüngere der beiden – wenigstens dem Gesicht nach- nannte sich Irros.
Gemächlich schlenderten die beiden an den noch nicht allzu zahlreichen Verkaufsständen entlang und behielten dabei immer mit einem Auge die Schiffe im Blick. Es war tatsächlich nicht besonders schwer, diese von den gewohnten zu unterscheiden. Nicht unbedingt wegen der Machart, in Braavos legten allerhand Schiffe in unterschiedlichsten Formen und Grössen an. Nein, besonders auffällig war, dass weder Waren be- noch entladen wurden und die Männer, die um das Schiff herumpatroullierten, etwas zu präsent waren.
«Am einfachsten kommen wir bei Nacht hinein», bemerkte Irros das Offensichtliche.
«Ja. Aber ich kann mir vorstellen, dass dann sehr viel mehr Leute auf den Beinen sind, die durch den Tag schlafen.» In der Nacht waren Wachleute meist aufmerksamer. Keiner rechnete damit, am helllichten Tag überfallen oder angegriffen zu werden.
«Was schlägst du vor?» Yazem liess seinen Blick über den Hafen schweifen. Dort blieb er an einem kleinen Ruderboot hängen.
Nur wenig später zog er sich an das Deck des Schiffes. Seine Kleidung war tropfnass, was zwangsläufig Spuren hinterliess. Er hoffte nur, dass keiner darauf aufmerksam wurde. Eine Alternative wäre es gewesen, sich das Gesicht eines der Wachmänner zu nehmen, doch das Risiko war zu gross. Es würden in dieser Auseinandersetzung auch so noch mehr als genug Blut vergossen werden.
Nach dem grellen Tageslicht brauchten seine Augen etwas um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, die im Inneren des Schiffes herrschte. Er liess die Kajüten links und rechts aussen vor, stattdessen begab er sich direkt in den Frachtraum. Dabei nahm er unterwegs eine der Laternen aus ihren Halterungen.
Im Frachtraum waren zwar ein paar Holzkisten gestapelt, doch musste man nur eine vom Stapel heben um den dahinterliegenden Käfig zu erkennen. Der Schein der Fackel reichte nicht um alles zu erhellen, doch mussten es mindestens um die zwanzig Leute sein. Keiner der Gefangenen reagiert im Geringsten auf die Geräusche oder das Licht. Alle lagen einfach nur da. Wahrscheinlich hatte man sie betäubt, damit sie keine Geräusche verursachen und so jemanden auf sich aufmerksam machten. Oder man hatte sie alle so lange gequält, dass sie keine Kraft mehr hatten, um sich zu wehren. Allen hatte man die Hände hinter den Rücken gefesselt. Es war schwer zu sagen, ob sie hier gefangen worden waren oder verkauft werden sollten.
Er hatte genug gesehen und war kurz davor, die Kiste wieder an ihren Platz zu stellen als er unweit von sich ein Wimmern hörte.
«Lasst uns raus.» Er konnte nicht sehen, zu wem die Stimme gehörte.
«Das würde ich sehr gerne. Aber ich kann nicht.» Es lag bedauern in seiner Stimme, denn nichts täte er lieber, aber es ging nicht. Selbst wenn die Gefangenen in besserer Verfassung wären, er wusste nicht, wie viele Leute sich sonst noch auf dem Schiff befanden. Und das Problem an sich wäre damit auch nicht gelöst, im Gegenteil. Nach einer solchen Flucht würden Hestin und wer immer ihm helfen mochte noch vorsichtiger werden.
«Aber vielleicht kannst du mir dabei helfen, dass das was dir wiederfahren ist nicht auch noch anderen geschieht.» Lange blieb es ruhig, dann kroch der Gefangene in sein Blickfeld. Es war ein Junge an der Schwelle zum Mannesalter, etwa fünfzehn. Sein Gesicht war voller Blut, welches von einer Platzwunde an seiner Stirn stammte. «Wie?»
«Erzähl mir, wie du und die anderen hierhergekommen seid.» Der Junge senkte beschämt den Blick. «Ich wurde beim Stehlen erwischt. Viele hier sind Straftäter, manche aber auch nur einfache Bettler von der Strasse. Aber…» Er schluchzte und sprach nicht mehr weiter. Der Gesichtslose liess dem Jungen die Zeit die er brauchte um sich etwas zu fangen, dann fuhr er fort.
«Das Schlimmste ist, meine Familie wird denken, dass ich sie im Stich gelassen habe. Und das habe ich auch. Ohne das Geld, das ich verdient – und notfalls gestohlen habe, werden sie nicht durchkommen.» Seine Verzweiflung war fast mit Händen greifbar.
«Doch, das werden sie. Ich kann dich nicht befreien, aber ich kann dafür sorgen, dass deine Familie nicht auf der Strasse landet. Wo leben sie?»
«Gleich hinter dem Hafen der Glückseligkeit. Ihr könnt es nicht verfehlen, es ist von allen Häusern das heruntergekommenste.» Yazem nickte, als Zeichen, dass er verstanden hatte. Wobei er sich nicht sicher war, ob der Junge das durch das Gitter überhaupt sehen konnte.
«Gibt es sonst noch etwas, das du mir sagen kannst? Weisst du irgendetwas über die Männer, die dich hierhergebracht haben?»
«S-Sie kommen nicht von hier. Ich habe zwei gehört, die von einem Fluss gesprochen haben. Es klang wie Wurm.»
«Nicht Wurm. Worm. Das liegt in Astapor.» Er hörte Schritte auf dem Deck und senkte seine Stimme noch etwas weiter.
«Ich muss jetzt gehen. Egal was in den nächsten Monaten und Jahren mit dir geschieht, denke daran, dass vor Ihm alle gleich sind.» Er stellte die Kiste wieder so hin, dass sie das Käfig gänzlich verdeckte. Hören tat er den Jungen trotzdem.
«Wer seid Ihr?» Er rückte die Kiste wieder an ihren Platz.
«Niemand.»
Beim Rückweg zum Deck stellte er die Laterne genau wieder dorthin wo er sie genommen hatte. Danach drückte er sich flach an die Wand und lauschte nach oben, wo sich auf dem Deck zwei Männer unterhielten. «Ich schwöre, da war ein Fischer, der hat unser Schiff beobachtet.»
«Und wenn schon. Schauen kann jeder so lange er will, solange bloss keiner an Deck kommt.»
«War trotzdem unheimlich. Jetzt ist er weg.» Also musste er eben an Land schwimmen. Es dauerte eine Weile, bis er sicher war, sich unbemerkt an Deck zu schleichen, doch letzten Endes hatte er Erfolg.
Aus der Entfernung behielt er den Marktplatz im Blick. Von Irros war nichts zu sehen. Doch nicht allzu viel später fuhr ein Händler mit einer Schubkarre an ihm vorbei. In der Schubkarre war etwas Grosses. Für ungeübte Augen vielleicht eine Karre voller Gemüse. Er wusste es besser.
«Wollten wir heute nicht nur beobachten?»
«Habe ich. Er wurde vor einer Stunde bei der Wache abgelöst und ist mir fast in die Arme gelaufen. Ausserdem lebt er noch. Ich dachte mir, vielleicht kann er ja ein paar Fragen beantworten.» Kein schlechter Gedanke. Und solange er nicht zu den engsten von Hestins Vertrauten gehörte, fiel es diesem nicht wirklich auf, wenn er weg war. Deserteure gab es überall. Während er kurz über die Situation nachdachte, blieb sein Blick plötzlich an einer roten Spur haften die sich über Irros rechten Ärmel zog. Er fing seinen Blick auf.
«Nur ein Kratzer. Lass uns zusehen, dass wir hier wegkommen. Konntest du wenigstens etwas in Erfahrung bringen?»
«Etwas zu viel sogar, wenn ich ehrlich sein soll.» Doch dafür war noch später Zeit. Erst mussten sie den Gefangenen in den Tempel bringen und das am besten über einen Umweg. Das dauerte zwar länger, es gab aber auch kaum Zeugen.
~ ~ ~
Vorsichtig zog er einen Armbrustbolzen nach dem anderen aus dem Körper des Toten. Zwei davon waren nahe nebeneinander in dessen rechtem Arm und der rechten Schulter gelandet, einer im linken Bein und ganze vier Stück in der Höhe des Bauchraums. Doch keines der Geschosse war auch nur ansatzweise in der Nähe seines Herzens gewesen. Es musste ein langsamer und äusserst qualvoller Tod gewesen sein.
Schlimmer noch, indirekt trug er die Schuld daran, dass sein Ordensbruder hier lag und nicht er selbst. Denn der Auftrag, welcher in einem Hinterhalt geendet hatte, war eigentlich seiner gewesen. Nachdem es gestern zu dem Disput wegen der Lüge gekommen war, hatte man ihn von sämtlichen Aufträgen entbunden. Er hatte so lange hier im Tempel zu bleiben, bis man ihm ausdrücklich erlaubte, dass er diesen verlassen durfte. Das konnten in drei Monaten, aber auch erst in drei Jahren der Fall sein. Entsprechend war auch dieser Auftrag weitergegeben worden.
Die Armbrustbolzen legte er beiseite. Es war in den freien Städten ungewöhnlich, mit dieser Waffe zu töten. Vieleicht liess sich herausfinden, wer die Waffe herstellte und wie viele derjenige an den Seelord verkauft hatte. Dass Inneo Hestin dahintersteckte, daran bestand für ihn seit Aryas Aussage kein Zweifel. Noch immer verspürte er heisse Wut, wenn er auch nur an den Zettel dachte. Aber er hatte es wieder soweit verdrängt und widmete sich seinen Aufgaben.
Als nächstes entledigte er den Toten seiner Kleidung um die Wunden zu nähen und den Leichnam zu waschen. Vor dem Tod mochten alle gleich sein, aber jeder von ihnen, dessen Leiche gefunden wurde, bekam eine Beisetzung je nachdem, welche Gestalt des Vielgesichtigen Gottes sie verehrt hatten. Der Mann auf dem Tisch vor ihm war ein Anhänger des Meeresgottes gewesen. Seine Leiche würde also der See übergeben werden.
Nachdem er den Toten wieder zugedeckt hatte, besah er sich die Armbrustbolzen etwas genauer, doch ihm blieb nicht lange Zeit dazu.
Es klopfte leise an der Tür, ehe einer der jüngeren Akolythen eintrat. «Es wurde ein Söldner gefangengenommen, der für Hestin arbeitet. Gleich soll es ein Verhör geben.» Noch während der Akolyth ihm davon erzählte, wusch er das Blut von seinen Händen und rieb sie sich mit Teebaumöl ein. Ihm war von vorne herein klar, wo das Verhör stattfand. Der Anblick von hunderten Gesichtern liess die Zunge des Gefangenen vielleicht schon etwas locker werden, bevor sie zu anderen Mitteln greifen mussten.
Sie erreichten die Halle. Nun waren sie zu zehnt, der Gefangene, vier Männer- und zwei Frauen ohne Gesicht sowie die drei Akolythen. Diese standen etwas abseits, sie durften die Szene beobachten, sich aber nicht einmischen. Während Arya konzentriert aber ansonsten ausdruckslos zusah, stand der älteste der Akolythen mit gerunzelter Stirn da. Der jüngste Akolyth, der ihn vorhin geholt hatte, hatte keinen Blick für den Gefangen übrig, sondern starrte nur die Wände mit den Gesichtern an. Er war ganz offensichtlich noch nicht oft hier gewesen.
Was hier besprochen wurde, betraf die Zukunft des ganzen Ordens und so war es nur richtig, dass auch alle dabei waren. Jedenfalls alle bis auf die zwei von ihnen, die oben Wache hielten. Bei Hestins offensichtlicher Verachtung ihnen gegenüber war es nicht auszuschliessen, dass er versuchen würde, den Tempel zu stürmen. Für diesen Fall hatten sie bereits die ein oder andere Vorkehrung getroffen. Wobei er natürlich hoffte, dass sie diese nie gebraucht wurden.
Der Gefangene war auf einen Stuhl gefesselt. Dies so fest, dass er es nicht mal schaffte, den Stuhl umzustossen, egal wie sehr er sich gegen seine Fesseln stemmte.
«Am Ende dieses Tages werdet Ihr uns verraten, was wir wissen wollen. Es ist allerdings Eure Entscheidung, ob Ihr dies mit- oder ohne Schmerzen tun wollt. Ob Ihr diesen Ort lebend verlasst oder nicht, liegt in Eurer Hand.» Das Verhör wurde vom ältesten Priester geführt. In diesem Moment war von seinem nahenden Ende nur wenig zu spüren, sein Blick war so kraftvoll wie eh und je. Es war, als wolle er zumindest lange genug durchhalten, bis diese Kriese überstanden war.
«Ihr tötet mich doch sowieso.»
«Nicht unbedingt. Wenn Ihr uns sagst, was wir wissen wollen- und wer der Auftraggeber ist, wissen wir bereits- könnt Ihr ihm eine Nachricht von uns überbringen.»
«Wenn Ihr schon wisst, wer mein Auftraggeber ist, was wollt ihr dann von mi?» Der Gefangene zerrte wieder an seinen Fesseln, doch bis auf die Tatsache, dass seine Handgelenke wund wurden hatte das keine Wirkung.
«Wissen, was er als nächstes geplant hat. Wer genau ihn unterstützt.»
«Ich weiss es nicht.» Der Söldner log, weil er Angst hatte. Wobei er schon jetzt nicht mehr zu wissen schien, wen er mehr zu fürchten brauchte. Diese Zweifel würden sie bald ausräumen.
Sie waren kein Freund der Folter. Entweder ein Leben wurde geopfert oder nicht. Ausserdem war dem Gefangenen schnell anzusehen, dass er für einen Söldner nicht besonders widerstandsfähig war. Entsprechend versuchten sie es nochmals mit einer Drohung, diesmal unausgesprochen. Der Priester zückte ein Messer und hielt es dem Gefangenen an die Kehle. Das Metall berührte nicht einmal dessen Hals, da brach es schon aus ihm heraus.
«Ich weiss nur, dass Hestin aus Astapor kommt. Er hat sich das Schweigen einiger hochrangiger Braavos erkauft, die von seinen Geschäften bescheid wissen. M-mehr weiss ich nicht, ich schwöre es!» Der Gefangene sagte nicht die ganze Wahrheit, dessen war er sich sicher.
Ein Keuchen rechts neben ihm zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Das Geräusch war so leise, dass er ihm nur Beachtung schenkte, weil er es direkt neben sich vernahm. Der Gesichtslose, welcher das Geräusch ausgestossen hatte, war blass wie der Schnee im Norden. Schweiss stand ihm auf der Stirn. Bei dem Anblick den er bot, wunderte es ihn schon fast, dass er sich überhaupt noch aufrecht halten konnte.
«Was ist los?» Der Anblick den er bot, deutete auf mehr hin als nur leichtes Unwohlsein.
«Ich hatte heute eine kleine Auseinandersetzung. Es war nur ein Kratzer…» Der kurze Wortwechsel war nun auch den umstehenden Aufgefallen, doch er beachtete sie nicht. Ihm dämmerte, was hier vor sich ging und er sah zum Priester. «Keine Schonung mehr. Der Gefangene muss sagen, welches Gift verwendet wurde.» Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, ging der Mann neben ihm in die Knie. Er half ihm dabei, sich langsam auf den Rücken zu legen.
«Wo ist die Wunde?»
«Rechter Oberarm. Ich habe es nicht mal verbunden, es ist nur ein Kratzer.» Er schob den Ärmel, der dafür zum Glück weit genug war zurück. Tatsächlich war es nur eine sehr oberflächliche Wunde, doch diese war stark gerötet. Dunkle Linien, ähnlich wie bei einer Blutvergiftung, zogen sich weit durch den Arm.
Er hörte zwar nur mit einem Ohr zu, doch der Gefangene schrie die Antwort so laut heraus, dass er gar nicht anders konnte, als diese mitzubekommen. «Ein Schlangengift! I-Ich weiss aber nicht welches», schluchzte der Söldner. Das war die schlimmste aller Möglichkeiten. Sie hatten Gegenmittel für zahlreiche Pflanzengifte, Tiergifte waren weitaus schlimmer, weil es dafür nur in den wenigsten Fällen ein Gegenmittel gab.
Während die Befragung weiterging, überlegte er fieberhaft, wie er ihn vielleicht doch noch retten konnte. Ihm gegenüber kniete der zweite der Männer, die den Auftrag erledigt hatten. In seinem Gesicht konnte er dasselbe lesen, dass er selbst auch befürchtete. Sehr wahrscheinlich gab es hierfür keine Heilung mehr.
Wie um ihre Vermutung zu bestätigen begann der Verletzte nur wenig später nach Atem zu ringen und griff nach seinem Arm wie ein Ertrinkender. Es war ein heftiger aber kurzer Kampf gegen einen Gegner, der nicht zu besiegen war.
«Valar Morghulis», murmelte er als er dem Toten die Augen schloss. Zwei Tote in weniger als zwei Tagen. Das musste aufhören.
«Ich bringe ihn ins Allerheiligste», murmelte sein Gegenüber und brachte den Toten fort. Wahrscheinlich fühlte er sich für dieses Opfer ähnlich verantwortlich, wie er sich für das gestrige.
Auch wenn es nicht einfach war, das gerade geschehene beiseite zu schieben, erhob er sich und trat wieder zu dem Gefangenen, von dessen anfänglicher Sturheit nichts mehr übrig war. Er beantwortete all ihre Fragen, nur wusste er nicht viel zu erzählen. Jedenfalls nichts, dass sie nicht schon selbst vermutet hatten. Hestin hätte Unterstützung aus sämtlichen Sklavenstädten. Das Gift verwendete er, weil es keine Zeugen geben durfte. Noch war die Stadt nicht völlig unterwandert. Wenn die Leute jetzt davon erfuhren, brach eine Rebellion los und Braavos – so stolz die Stadt auch sein möchte- würde sich Unterstützung aus anderen Städten holen, wenn es darauf ankam. Natürlich nur, wenn Lys und Myr nicht viel zu sehr damit beschäftigt waren, sich gegenseitig zu bekriegen.
Als es keine Fragen mehr gab, erhob sich der Priester und sah den Mann schon fast mitleidig an. «Bleibt noch die Frage, wie wir mit Euch verfahren. Ich fürchte, die Freiheit können wir Euch nicht mehr schenken.»
«N-Nein, I-ihr habt doch gesagt, ihr lasst mich laufen!»
«Das geht jetzt nicht mehr. Es ist besser, wenn Euer Herr nicht erfährt, wie viel wir schon wissen.»
«Nein B-Bitte…» Das Flehen des Gefangenen stiess auf taube Ohren.