In der Stadt gibt es einige einzigartige Geräusche, die ihr allein vorbehalten zu sein scheinen. Das Quietschen der Straßenbahnen, wenn sie um eine Kurve biegen, das Rollen hunderter, langsam dahin ziehender Reifen einer Wagenkolonne auf dem Weg in die Randbezirke, das Klackern von Absätzen auf den nassen, dreckigen Betonsteinen des Fußwegs.
Die schweren Regentropfen des Herbstes trommelten auf das Glasdach der Haltestelle Hauptbahnhof. Eine Gruppe von fünf Fußballfans steht unweit von mir. Sie trinken Frustbier, Dynamo hat verloren. Durchnässt, enttäuscht und angetrunken starren sie auf den Boden oder in ihre hohlen Gesichter. Einer spuckt unablässig auf den Boden, nach jedem Zug aus seiner E-Shisha. Ein anderer kratzt sich sichtlich genüsslich am Hals, über die deutlich sichtbaren Pickel. Das Bild erinnert zwanghaft an einen haarlosen, hungrigen Straßenhund.
Auf der anderen Straßenseite stiert mich eine ungefähr 35 Jährige Frau an, mit kurzen, blondierten Haaren. Sie hat müde Augen, von schweren Tränensäcken untermalt. Ich weiche ihrem Blick aus, sie verstört mich und raubt mir die Ruhe, ich habe sie noch nie gesehen, habe definitiv keine Verbindung zu ihr, aber sie wirft mir unablässig einen verurteilenden Blick zu.
Unweit von ihr steht ein älteres Ehepaar und redet laut über die alte Zeit, als noch alles besser war. Der Mann hällt eine Rewe-Tüte aus Papier in der Hand. Die Frau hat eine kleine, altmodisch anmutende Handtasche um. Wahrscheinlich wollen sie zum Friedhof, da er einen Strauß Lilien dabei hat. Passend, es ist wirklich Friedhofswetter.
Gerade, als ihr Mann sich zur Anzeige umblickt, auf dem die kommenden Busse und Bahnen samt Wartezeit stehen, rennen drei Teenager, nicht älter als 15 Jahre von hinten auf die Frau zu. Einer schubst sie leicht, ein anderen greift ihre Tasche und zieht sie ihr vom Arm, der dritte scheint nur dabei zu sein und blickt den Umstehenden herausfordernd entgegen. Dann rennen die drei Kinder laut kreischend weg, die Tasche der Frau in die Luft haltend. "Verdammte Flüchtlinge!" ruft ihnen die Alte hinterher. Ich bin mir da nicht so sicher, wer weiß woher sie kommen, wahrscheinlich sind sie genauso in Dresden geboren wie ich, wie das Paar. Sie sind halt Teenager.
Keiner der gut hundert Menschen an den Haltestellen stimmt mit ihr ein, keiner holt eine Deutschlandflagge raus oder knüpft einen Strick. Allerdings rügt auch niemand die Frau, alle sind einfach nur erschöpft vom Tag und haben wohl vielleicht auch Mitleid mit ihr. Das Paar schimpft eine Minute vor sich hin, dann blicken beide traurig und müde zu Boden.
Auf den Treppen zum Kugelhaus, hinter mir, sitzt Julienka. Als sie sich vor einem Jahr einen Undercut hat machen lassen und ihre Haare modisch grau-silbern gefärbt hatte, wahr für sie der Moment gekommen, sich von ihrem Freund Sebastian zu trennen. Mit grellem Make-Up, was überhaupt nicht ihr Ding ist, hatte sie ihre Kriegsbemalung gefunden und aufgetragen. Mutig zog sie in den Kampf. Doch es gab keinen Streit, keine Szene.
Sie saßen im Trotzdem, einer der vielen ikonischen Neustadtkneipen, voll mit Stickern die zu Demos gegen Rechts, gegen Polizeigesetze und gegen das Establishment aufrufen. Es war die Bar gewesen, in der sie sich kennen gelernt hatten, hier sollte es also auch enden.
Als sie ihm sagte, dass sie nicht mehr weiter mit ihm könne, dass sie unglücklich sei und sogar ihre Sexualität in Frage stellte wurde er nicht wütend, nicht laut. Er bettelte nicht einmal oder heulte vor Trauer und gebrochenem Herzen. Er lächelte nur sehr traurig und blickte dann mit tränenfeuchten Augen auf sein Bier. Er wollte nur wissen, ob es jemand anderen gebe, ob dies der Anlass (nicht die Ursache, ein Unterschied, der viel zu oft ignoriert wird und meist zu Missverständnis führt) gewesen sei. Sie sagte ja, sie hieße Marie. Wieder dieses traurige Lächeln. Er freue sich natürlich für sie, auch wenn es ihm schmerzte.
Drei Stunden redeten sie noch miteinander, lachten sogar an manchen Stellen. Dann ging sie und ließ ihn an Ort und Stelle sitzen, mit seinem traurigen Lächeln. Julienka fühlte sich lächerlich und albern. Sie hatte in eine Schlacht ziehen wollen, hatte sich emotional zu panzern versucht. Doch dann war es nur ein leise, hoffnungslose Kapitulation, ein trauriges Lächeln.
Sie sahen sich nur noch selten wieder. Wenn sie sich zufällig auf Feiern mit gemeinsamen Freunden sahen zum Beispiel. Er hatte nach einem halben Jahr wohl wieder genug Fassung und Selbstbewusstsein gehabt und jemanden kennen gelernt, doch nie etwas festes gefunden. Sie hatte ihm Marie vorgestellt, sie vertrugen sich erstaunlich gut, obwohl Julienka das nicht so mochte.
Nun saß sie hier, auf den nassen Stufen vor einer einstigen Dresdner Sehenswürdigkeit, und starrte auf die schimmernde Oberfläche ihres Smartphones, auf den Whatsappverlauf mit Marie. Tränen rollten ihre Wangen hinunter.
Aus einer inneren Regung, einer plötzlichen, tief in ihr verorteten Explosion, sprang sie auf und ging auf den ersten Raucher zu, den sie sah. Ein großer Typ mit schlampiger Haltung, Wollmütze und faltigem Flannellhemd, der hin und her blickte und nervös auf die Bahn zu warten schien.
Sie hatte verweinte Augen oder war sehr müde. Mit ihren gut 1,70 baute sie sich vor mir auf und fragte nach einer Zigarette. "Sorry, ich hab nur Drehzeug, aber wenn du willst kannste dir selber eine drehen." antwortete ich mehr verdutzt als freundlich. Sie lächelte dankend und antwortete: "Klar, krieg ich schon hin." und dann nach einer kurzen Pause, ich weiß nicht warum oder woher es kam, sie hatte schon den Filter im Mundwinkel und streute Tabak auf das Pape, blickte sie mich ernst an und fragte: "Sag mal, kann ich kurz mit dir reden?"
Wir saßen jetzt zu zweit auf den Stufen, ich hatte mir einen Kaffee geholt, die Bahn fiel aus, also hatte ich Zeit. Sie hatte sich die Kippe schon angesteckt und rauchte etwas gehetzt. Ihre Freundin hatte sie gerade verlassen und nun war sie aufgelöst, wusste nicht wo sie wohnen sollte, da sie sich eine Wohnung geteilt hatten. Sie hatte natürlich Freunde und Bekannte, bei denen sie unterkommen konnte, hatte auch noch ihr Kinderzimmer in der Wohnung ihres Vaters, dennoch war sie verzweifelt, orientierungslos, heimatlos.
"Weißt du, es is ja nicht so, dass ich obdachlos bin, offiziell lebe ich auch noch bei meinem Papa, aber ich fühl mich so. Einfach beschisssen. So verloren in einem riesigen Haufen Dreck." Sie blickte auf ihre Springer, zupfte an den knallbunten Schnürsenkeln mit Hippiemotiv rum. Nach einer kurzen Pause setzte sie fort: "Ich weiß nicht mal warum ich dir das erzähle." Ihre Hände schienen zu zittern. Ich lachte kurz auf. "Ich hab auch keine Ahnung warum, is nich grad das normalste." Sie musste lächeln. "Nein, oder? Aber warum eigentlich? Wenn man tindert, dann redet man doch auch mit wildfremden drauf los, meistens vögelt man mit ihnen sogar noch am selben Tag, dabei könnten das Mörder, Vergewaltiger oder diese Bastarde sein, die sich als Lesbe ausgeben und dich dann verprügeln. Einer Freundin aus Russland ist das passiert, scheint dort ein regelrechter Sport zu sein." Ihre Hände zitterten stärker.
Wir beschlossen uns irgendwo ins Warme zusetzen. Ich wusste immer noch nicht, warum sie mit mir redete, mir ihr Vertrauen schenkte, aber ich hinterfragte es auch nicht. Es schien mir zu besonders, zu lächerlich absurd, als dass ich es durch Zweifel kaputt machen sollte. Schließlich erschlägt man auch keinen Vogel, der durch das offene Fenster in die Wohnung fliegt und sich auf das Bücherregal setzt.
Im Starbucks im Hauptbahnhof war es uns zu voll und zu laut. Die Bahndurchsagen, die Angestellten, die die Namen von Kunden falsch ausriefen und in ordentlichem Sächsisch die Getränke ausriefen: "Ladde Magiadoh mit extra Milsch!" "Wendie Fildagaffeh und'n Schokokohkie" und so weiter.
Nach einer Odyssee von Fastfoodketten und amerikanischen Franchiseläden gingen wir solange durch die verregneten Straßen, bis wir zum Nürnberger Ei kamen und setzten uns dort in ein vegan/vegetarisches, arabisches Bistro. Ich kannte den Laden, er war quasi der Hipsterhotspot des Stadtteiles. Das Essen war frisch, sehr gut und kostete fast nichts, ein Traum für alle Studenten.
"Ist schon komisch, oder? Ich mein, als wir noch Kinder waren (Julienka war so alt wie ich), wirkte die Welt noch irgendwie lustig. Ich mein, klar, 9/11 und der Irakkrieg waren da Thema und alles, aber ich hatte keine Angst. Meine Eltern, glaube ich, auch nicht. Aber jetzt? Ich hab ständig Angst. Angst vor Nazis, Angst vor dem Klimawandel, Angst vor Atomkrieg und vor allem Angst um mich. Was, wenn ich keinen Job bekomme, was wenn doch, ich ihn aber hasse? Was, wenn ich allein sterbe? Was wenn ich doch irgendwann den oder die eine finde, wir Kinder bekommen, ein Haus kaufen und ich mit 80 oder 90 feststelle, dass ich das alles hasse und mein Leben verwirkt habe?" Ich wusste keine Antwort darauf, sondern schwieg.
Nach einer halben Stunde kam unser Essen. Wir hatten bis dahin nur noch geschwiegen und ohne Pause geraucht. Beim essen schwiegen wir auch. Sie wirkte erschöpft, hungrig und ermattet. Als wir fertig waren drehte sie sich sofort die nächste. "Hast du schon mal dran gedacht, alles zu beenden?" fragte ich sie und bevor sie antworten konnte, fuhr ich fort "Ich meine nicht, dich umzubringen, das ist zu einfach. Ich meinte, einfach weg zu gehen, irgendwohin, wo es friedlich ist, einfacher und unbedenklicher. Irgendwohin, wo es leiser ist?" Den letzten Teil musste ich fast schreien, weil gerade ein Löschzug mit Blaulicht und Sirene an uns vorbei zog. Sie sah mich verwirrt, irritiert an, dann aber warf sie die Stirn in Falten und schien tatsächlich darüber nachzudenken.
Nach drei Zügen legte sie das erste mal seit unserer Begegnung ihre Zigarette in einem Ascher ab, legte die Hände zusammen und sagte, ihre Finger betrachtend, schließlich: "Mexico. Da wollte ich schon immer hin. Nach Baja California. Dort gibt es richtige Hippiekommunen, ganze Dörfer und Städte. Ich glaube, dort würde es mir gefallen. Dort hätte ich wohl weniger Angst, oder? Ich mein, wer hat was gegen ein paar bekiffte Hippies irgendwo im Nirgendwo?" Daraufhin lächelte sie.
Wir redeten vielleicht noch eine halbe Stunde über Baja California, über Mexico und das leben im Exil, im Nirgendwo, in Frieden. Sie lachte, als ich ihr erzählte, ich wolle vielleicht nach Portland oder einfach allgemein nach Oregon, in die weiten Wälder, vielleicht auch nach Sibirien. Dabei zeigte sie auf mein Flannellhemd und nannte mich Hipster, ich schmunzelte.
Die Geschichte mit ihrem Ex-Freund erfuhr ich erst einige Wochen später, auf einer Party. Offenbar hatten wir einen gemeinsamen Freundeskreis. Was aus ihr geworden ist, weiß ich nicht sicher. Einige Leute, die sie besser kannten, meinten, sie hätte Europa verlassen. Andere meinten, sie vor Kurzem in der Stadt gesehen zu haben, waren sich aber nicht sicher.
Ich würde mich freuen, wenn sie gerade mit ein paar Leuten am Pazifik sitzt und in einer alten, geflickten Hollywoodschaukel dem Tanz der Wellen zu sieht und, ohne Angst, fröhlich lächelt.