Eine Schöpfungsgeschichte
„Sieh mich an“, sprach die Krähe ruhig, aber klar, den kleinen Kopf dabei erwartungsvoll schieflegend.
In ihren aus Obsidian geschlagenen Augen wuselten Lichtreflektionen unruhig hin und her, sodass es unmöglich war zu sagen, ob ihr Blick, der diese neugierig gespannte, jedoch keinesfalls ungeduldige, Geste der Erwartung begleitete, sich in eben dieser Spannung auf das Wesen vor ihr richtete oder sich , im Gegenteil, ermattet in Betrachtung der erbrachten und viel mehr noch der noch zu vollbringenden Arbeit, in zielloser Ferne verirrte. Beide Gemütszustände ebenso natürlich wie unangebracht, ebenso aufrichtig wie trügerisch, ebenso richtig wie falsch. Vielleicht blickte die Krähe auch gar nicht, sondern war nur, genau wie das Licht war und mit ihm der Schatten, wie des Feste war, auf dem Wesen und Krähe zum Stehen gekommen waren, und mit ihm das Durchlässige, wie die Form war und mit ihr das Formlose.
Ähnlich lag das Wort im Raum; Es hallte nicht nach wie der leidenschaftliche Orgelklang in den Menschen buchstäblich überragenden Kirchenbögen. Es erklang nicht, wie der einsame, aber von Leben strotzenden Ruf des Wanderers, wiederkehrend in einem Echo. Es brannte sich nicht in dem Raum ein, in das es gesetzt wurde, als wäre es Teil einer mit aller Macht dahingeschmetterten Propagandarede. Aber es war und es versiegte nicht.
Ebenso wenig war das Wort ein Befehl, der dem Wesen, das ihn vernimmt, einem Zwang unterworfen und dessen lebendig kitzelende Eingeweide marionettenartig verstummen lassen hätte, denn die Krähe, und deshalb das Wort der Krähe, existierten abseits von Autorität, von Herrschaft oder Zwang; So blickte das Wesen, sowohl mit der Selbstverständlichkeit als auch mit der Gleichgültigkeit, mit der ein Bach plätschert oder sich die Grashalme im Wind wiegen, ohne Regung, aber trotzdem lebendig in die glänzenden Augen der Krähe. Ob die kristallenen Krähenaugen den Blick erwiderten bleibt unsagbar.
Das Wesen war klein – Zwar ragte es um ein Vielfaches weiter nach oben vom Boden hinweg als die Krähe es tat, schien in den Dimensionen des Raumes aber nahezu winzig, sodass Wesen und Krähe schonwieder beinahe gleich groß sich erhoben. Neben der Krähe schien auch die Form des Wesen völlig fremd: Es hatte Beine und Füße, die es mit dem Festen verbanden. Es hatte Arme und Hände, die, noch fremd und in ihrem Nutzen unentdeckt, schwer an den Seiten seines Torsos wogen, wo Flügel hätten sein sollen. Es hatte einen Kopf mit roten Lippen anstelle eines Schnabels und eine Ausstülpung direkt im Zentrum, die Nase heißen sollte. Die Augen waren nicht aus Obsidian geformt, sondern aus Marmor, der von einem Ring aus Edelstein besetzt worden war und mit einem Tropfen Teer inmitten des bunt schillernden Kontinuums verschlossen wurde. Vor allem aber war eine glatte Schicht Haut an die Stelle des prächtigen, schwarzen Federkleids der Krähe getreten, mit der das Wesen geradezu entblößt dastand. Im Vergleich zum Raum aber war das Wesen beinahe ein Ebenbild der Krähe.
„Komm her“, sprach die Krähe, nun offenbar ermuntert vom Fortschritt ihrer Schöpfung. „Komm her“, und das Wort legte sich, ebenfalls ohne Gewicht und doch den Raum in seinem Klang gänzlich ausfüllend, neben das zuvor gesprochene. Das leise Summen ihrer Präsens begann sich zu einer sanften Melodie zu formen.
Und ebenso wie zuvor, sog das Wesen das Wort auf und folgte ihm, als seine Zeit gekommen war. Unbeholfen hob es ein Bein, mit dem Fuß, schwankte ein paar Augenblicke vor und zurück, bevor es den Fuß, mit dem Bein, wieder auf dem Festen aufsetzte und das Gegenstück schon etwas geschickter nachzog. Dieses Prozedere wiederholte sich einige Male, - einmal fiel das Wesen fast, gewann aber insgesamt doch mit jedem seiner Schritte etwas mehr an Sicherheit und damit Bestimmtheit - bis es ganz nahe bei der Krähe stand.
So ging es nun einige Zeit vor und zurück. Der Vogel sprach, das Wort legte sich in den Raum und das Wesen folgte wie in einem Tanz zur Melodie des Wortes. Die Krähe ließ es noch einige Schritte vollführen, manche schnell und hektisch, andere müßig und träge. Sie brachte ihm bei, die Arme zu heben und zu schwingen sowie die Hände zu einem nützlichen Griff formen. Das Wesen lernte, sich weit in die Höhe zu streckten, sich ganz klein am Boden zusammenzukauern oder sich, zur Arbeit oder zur Ehrfurcht oder zu beiden, da diese beiden Dinge doch zu ein und demselben verschmelzen würden, auf der Erde niederzuknien.
Wort – Melodie – Tanz
Wort – Melodie – Tanz
Dabei folgte das Wesen nicht nur dem offenkundig ausgesprochenen Appell der Schwarzgefiederten, sondern vernahm die ebenso ungreifbare wie das Geschehe fest einzurrende Schwingung des Stücks, zu dem es seinen Tanz aufführte. Auch dieser war ein schleichender, ja deutlich langsamer und von mehr Rückschlägen gekennzeichneter Prozess als das Erlernen der Motorik: Zunächst musste man einen Moment lang mit Schrecken vermuten, das Wesen sei taub für die stimmungsvollen Klänge, konnte aber glücklicherweise diese Fehleinschätzung nach etwas geduldiger Betrachtung wieder revidieren, als sich das Gefühl, zu Beginn nur wie ein Windhauch bald aber schon als Gewittersturm, auf das Gesicht der tanzenden Gestalt legte. Ja, einmal begann das Wesen sogar so bitterlich zur Schluchzen, dass sich die Welt vor Mitleid ganz verbog und nur langsam, nach einem frohmutigen Voranschreiten der Choreographie, in ihre bestimmte Form zurückkehrte.
Neben der Motorik und dem Gefühl lernte das tanzende Wesen auch den Schmerz kennen und den Hunger, aus deren Leid es die Tapferkeit entwickelte, ebenso wie es beides, die Vorsicht nicht weniger als den Mut, aus der Angst geschöpft hatte.
Wort – Melodie -Pendant, Äuqivalent, Annex – Motiv
Wort – Melodie -Pendant, Äuqivalent, Annex - Motiv
Und so kam es, dass, als die Lichtkugel am Himmel, den Kompromiss, den Hell und Dunkel unter Verhandlung der Krähe geschlossen hatten, befolgend, ihren Platz räumte und die Nacht zum Zuge kam, beinahe alles erschöpft war, das die Krähe dem Wesen hätte lehren können. – Nicht, weil das Wissen oder die Kraft des göttlichen Vogels ein Ende gefunden hatte, sondern, im Gegenteil, da alles weitere die Grenzen des für das Wesen zu Erfassenden zu sprengen drohte.
„Ruhe nun“, sprach deshalb die Krähe, der Klang ihrer Stimme durchzogen von einer im Ursprung des Seins verwurzelten Selbstsicherheit, die keine Zurschaustellung durch Überheblichkeit oder Triumph mehr bedurfte, auch nicht nach einem solch arbeitsamen Tag. „Ruhe nun. Und lass dir meine Lehren und noch viel mehr die Gabe, die ich dir hiermit zum Abschied, vor allem aber im Vertrauen, übergebe, wegweisend sein“, mit diesen Worten legte die Krähe dem Wesen die Vernunft in die Hände, welches noch gar nicht verstand, sondern nur etwas aufgeregt sowie mit einer zuvor unbekannten Ambivalenz von Klarheit und sich wundernder Suche im Blick einige Male blinzelte. Die Krähe war inzwischen in den tiefen Nachthimmel des Formlosen entschwunden, womit auch der der tosende, bannende Klang ihrer Worte einem kaum vernehmbaren Summen gewichen war, das den Raum anleitend und schützend füllte. Deshalb legte sich nun das Wesen, erschöpft von seiner Inkarnation, auf ein Nachtlager nieder und verfiel alsbald in eine wohlig erholsame Trace.
Nach einiger Zeit, die nicht zu beziffern war – klar war nur, dass die Lichtkugel, die inzwischen Sonne hieß, wieder an der Reihe war, den Tag willkommen zu heißen – erwachte das Wesen mit einem zum ersten Mal erfahrenen Bewusstsein und Verbundenheitsgefühl zu seiner selbst, deren Stelle zuvor von den Worten der Krähe gefüllt worden waren. Doch nicht alleine, wie es sich, erschöpft von der tiefen physischen und geistigen Anstrengung, zu Bett gelegt hatte, richtete es sich an diesem Morgen auf, sondern in Mengen von vielen seiner Art; Sie unterschieden sich in Größe, Form der Brust und Beine, Farbe der Augen, der Haare, der Haut, in Stimmung und Liebe, in dem Klang ihrer Worte und des Umgangs. Verglichen sie aber ihre Körper mit dem, was sie umgab, so sahen sie einander zum Verwechseln ähnlich, und gingen sie noch weiter, verglichen das Wesen ihres Seins und dessen, was sie umgab, mit dem Formlosen, dessen Existenz sie spüren, aber unmöglich begreifen konnten, so waren nicht nur die Wesen alle einer Art, sondern auch die Gräser, die bis zu den Knien empor ragten und das ein oder andere Wesen kitzelten, die friedlich summenden Insekten, die Schattenspenden Baumkronen und die Erde, in denen sie verwurzelt waren. – Das alles betrachteten, erkannten und verarbeiteten, wohl aber nicht verstanden, sie, auch wenn sie tausende von unterschiedlichen Worten, Appellen, Lehren daraus zogen.
„Vernunft“, war das erste Wort, das das Wesen sprach, und „Mensch“ das zweite.