Ich öffne die Tür. Wie gewöhnlich renne ich zum Bus, warte einige Minuten und fahre schließlich zur Schule. Heute bin ich erstaunlicherweise extrem motiviert; jeder Lehrer fragt mich was mit mir los ist, denn plötzlich melde ich mich. Denn plötzlich verstehe ich auch alles im Unterricht. In den Pausen werde ich wieder von Damon verfolgt, und wenn Maria ihn dann auch mal bemerkt läuft er mit uns durch die Hallen. Ich halte mich dabei möglichst fern von ihm, aber Maria sorgt dafür, dass wir immer nebeneinander laufen. Teilweise versucht er auch meine Hand zu ergreifen, bis ich dann meine Hände in die Jacke stecke.
"Maria?" Ich drehe mich zu ihr.
"Was gibt’s?"
"Kommst du später mit? Lisa abholen?"
"Natürlich!" Sie lächelt mich an und hakt sich bei mir ein.
"Alles klar. Kommst du dann mit zu mir? Martina holt mich ab und dann fahren wir zum Flughafen."
Sie nickt. Ich lächle. Freut mich dass sie mitkommt. Irgendwie. Martina ist übrigens die Mutter von Lisa.
"Wer ist Lisa?", wirft Damon ein. Ich drehe mich zu ihm.
"Sie ist meine Freundin und kommt heute aus Neuseeland wieder." Mein Herz macht einen kleinen Satz. Ein Glück, dass heute Freitag ist. Dann kann ich das Wochenende über bei ihr bleiben und endlich wieder ihre Nähe genießen.
"Deine Freundin?", fragt er.
"Ja.", zische ich etwas unabsichtlich. Damon sieht etwas verwirrt aus.
"Hä?"
"Wir sind zusammen verdammt.", sage ich leicht genervt.
"… Hä?"
Ich bleibe stehen und drehe mich zu ihm. "Bist du so blöd, oder tust du nur so?"
"Ich dachte du bist hetero."
"Ich dachte du bist etwas heller im Kopf. Tja. So kann man sich irren."
"Jessie, jetzt sei nicht so gemein!", meldet sich Maria. Ich drehe mich zu ihr.
"Ist ja gut." Sie hakt sich wieder bei mir ein und wir gehen weiter.
"Darf ich mitkommen?", fragt Damon nach einem kurzen Schweigen.
"Was denkst du denn?!" Ich sehe zu ihm rauf. "So jemand wie du sollte niemals in die Nähe von Lisa kommen." Maria stößt mich leicht in die Seite.
"Also wirklich, Jessie. Sei nicht immer so gemein. Vielleicht wäre es ja eine gute Idee wenn Damon sie kennen lernt?" Maria ist echt seltsam wenn es um Damon geht.
"Ist das jetzt wirklich dein Ernst?"
"Das sind zwei gegen eins!", sagt Damon triumphierend. "Also komme ich mit." Ich seufze laut. Dieser Tag sollte so schön werden.
Also kommen Damon und Maria mit zu mir. Am Abend holt uns Martina ab. Die scheint ja auch ganz schön fasziniert von ihm zu sein. Ich will mich nach vorne setzen, aber Maria ist schneller und so muss ich die Fahrt über neben Damon sitzen. Als wir dann endlich einen Parkplatz gefunden haben springe ich aus dem Auto und gehe schnurstracks zu der Ankunft. Lisa hat mir geschrieben dass sie gleich kommen wird, ihr Koffer ist nur noch nicht da.
Mit jeder Sekunde die ich da stehe werde ich nervöser. Ich wibble auf und ab, immer schneller. Mir wird warm, und jedes Mal wenn die Tür aufgeht will ich über das Geländer springen um Lisa in die Arme zu fallen. Und dann sehe ich es. Eine kleine Person kriegt die Tür nicht richtig auf, bis ein großer Mann die Tür auf macht und Lisa anlächelt. Mein Herz macht einen großen Satz und springt mir gleich aus der Brust. Lisa bedankt sich, und dann sieht sie mich. Dann sehen wir uns endlich wieder.
"Jessie!" Ihre Stimme lässt etwas in mir vor Freude sterben. Sie rennt auf mich zu und umarmt mich über das Geländer. Und da ist auch schon die erste Träne.
"Hey Lisa." Ich drücke sie ganz fest, jedenfalls so fest es geht.
"W-wie wärs wenn wir das gleich fort setzen?" Fragt sie nach einer kurzen Weile. Sie löst sich von mir und ich streiche ihr eine Träne aus dem Gesicht. Ich nicke. Sie nimmt ihren Koffer und läuft das Geländer entlang, ich laufe mit ihr.
Und dann kann ich sie endlich in meinen Armen halten. Sie rennt so schnell auf mich zu das sie kurz hochspringt. Ich halte sie fest. Ich atme ihren süßen Duft ein. Ihr Shampoo. Ihr Parfüm. Lisa. Als wir es schaffen uns kurz voneinander zu lösen, landen unsere Lippen aufeinander. Es fühlt so gut an. Es fühlt sich so richtig an. Wir vergessen alles was um uns herum passiert. Es sind nur wir beide da. Nur sie und ich. Ich wusste gar nicht wie sehr ich sie eigentlich vermisst hatte.
Das nächste woran ich mich erinnern kann, ist das Lisa und ich beide mit angeschwollenen Augen und roten Gesichtern da stehen und zu den anderen sehen. Ich lache leicht.
"Verdammt wir sind solche Heulsusen." Ich hole ein Taschentuch raus und gebe es ihr. Sie putzt sich damit die Nase und wischt sich die Tränen weg. Das ist so niedlich.
"Wie recht du doch hast.", stimmt sie mir zu. Ich nehme ihren Koffer, während Lisa auf ihre Mutter zu geht und auch mal die anderen Begrüßt. Maria stellt ihr fröhlich Damon vor, allerdings wirkt sie etwas schüchterner als sonst. Ich ergreife Lisas Hand und zusammen gehen wir zum Auto. Ich kann Damons Blick auf mir spüren, aber das kann ich gekonnt ignorieren. Jetzt, wo Lisa wieder da ist, wird er keine Beachtung von mir kriegen.
Im Auto kann ich mich sogar dazu überwinden mich neben ihn zu setzen, damit Lisa nicht in seiner Nähe ist. Maria will natürlich wieder vorne sitzen. Aber ich wette das macht sie nur, gerade damit ich neben Damon sitze. Allerdings finde ich nur Aufmerksamkeit für Lisa. Wir spielen ein bisschen mit unseren Händen während Lisa auf meiner Schulter lehnt und noch ein bisschen schnieft.
"Bist du müde?", frage ich etwas vorsichtig. Sie nickt. So süß, ich muss mich echt zurück halten. "Dann schlaf mal ein bisschen." Sie nickt wieder und nach ein paar Momenten merke ich wie ihr Körper immer schlaffer wird. Ich gebe ihr einen Kuss auf die Stirn und sehe nach vorne. Das ist das Gute daran in der Mitte zu sitzen: Geiler Ausblick. Obwohl man hier auch geil definieren muss, ich meine, ich sehe nur die Straße. Aber es ist trotzdem geil.
"Hey, brauchst du ein Taschentuch?" Ich sehe zu Damon. Seltsam. Meine ganze Angst um ihn ist weg. Ich könnte wirklich normal mit ihm umgehen.
"Ja. Danke." Er reicht mir eins und ich putze mir die Nase.
"… Kann ich mal mit dir reden?"
"Wenn's sein muss." Ich packe mein Taschentuch weg und sehe ihm in die Augen. Maria schläft, und Martina ist in ihre Musik vertieft. Angenehme Ruhe hier im Auto.
"Warum bist du eigentlich so abweisend zu mir?"
"Was meinst du?"
"Du weigerst dich ständig mit mir zu reden. Und was war das mit deinem Heulanfall letztens?" Oh Gott, das hat er sich gemerkt? "Du gehst mir aus dem Weg."
Ich kann verstehen dass ihn das verletzt. In dem Sinne ist er ja auch nur ein 'Mensch'. "Frag dich mal warum." Er sieht mich fragend an.
"Das mache ich doch schon. Aber ich verstehe es nicht."
"Ernsthaft?" Ich sehe kurz zu den anderen um sicher zu gehen dass sie nicht zuhören, dann sehe ich wieder zu Damon. "Du verstehst nicht, dass ich so wenig Zeit wie möglich mit dir verbringen möchte weil du mein Blut trinkst?"
"Ich dachte du wärst einverstanden damit!?"
"Ich musste es ja akzeptieren. Ganz ehrlich, ich habe keinen Bock dass du Maria und Lisa umbringst, nur weil du ein bisschen Hunger hast." Er scheint es zu verstehen. "Ach und das mit dem Heulanfall. Ich könnte dich genauso fragen warum du mitten in der Nacht durch mein Fenster springen musstest. Das war verdammt gruselig. Vor allem weil du auch noch vorher aus meinem Handgelenk getrunken hast, Idiot! Ich hatte Angst vor dir, klar?" Jetzt versteht er glaube ich was für ne Scheiße er gebaut hat. Jedenfalls hoffe ich es.
"Ja… Sorry."
"Mit einem Sorry ist es nicht getan. Erst verpasse ich eine Scheiß Woche vom Unterricht weil du mich fast leer saugen musstest, dann kommst du mitten in der Nacht an und sagst mir dass du nur mein Blut trinken willst, und dann, wenn ich mir endlich wieder ein bisschen Ruhe erhoffen kann kommst du die ganze Zeit angerannt und willst trinken! Du verfolgst mich in den Pausen, du versuchst ständig meine Hand zu halten, sag mal bist du völlig bescheuert? Und dann kommst du zu allem Überfluss auch noch in mein Zimmer und machst gruselige scheiße as fuck? Glaubst du ernsthaft mit einem Sorry ist es getan?" Ich muss flüstern um die anderen nicht zu wecken.
"Hey! Vergiss nicht dass ich auch nur ein Vampir bin! Das sind verdammt noch mal meine Urinstinkte. Und jetzt vergiss das endlich."
Ich verstumme für einen Moment. "Ich kann das nicht vergessen, Damon. Du bist ein Vampir, und du willst mein Blut trinken. Sowas vergisst man nicht. Das kannst du doch verstehen, oder?"
Er nickt. Zum Glück.
"Und was ist mit Lisa?"
"Was soll mit ihr sein?"
Er seufzt leise. "Du liebst sie wirklich, oder?"
"Natürlich, warum denn nicht?"
Irgendwas scheint in ihm gebrochen zu sein. Er wirkt auf einmal so traurig…
"… Sag bloß, Maria hatte Recht.", sage ich vorsichtig. Damon sieht mir in die Augen. Er… hat ziemlich hübsche Augen, das muss ich zugeben.
"Womit?"
"Na dass du in mich…" Ich stocke.
"Ich sage dazu nichts. Also bist du bi?"
"Das geht dich einen Scheißdreck an."
Den Rest der Fahrt bleibt er still. Ich frage mich zwar, ob alles in Ordnung ist, aber ich glaube es wäre besser wenn ich nicht frage. Schließlich lasse ich ihn dann doch meine Musik mit hören. Das heute ist aber auch echt ne Ausnahme. Denn wir haben etwas zu feiern, Lisas Ankunft natürlich, und deswegen bin ich etwas besser drauf. Mit der Zeit werden meine Augen immer schwerer. Als ich das letzte Mal auf die Uhr sehe ist es 23:07. Okay, meine Energie ist aufgebraucht. Dann kann ich auch ruhig einschlafen.