Während Amalia ihre Gedanken ordnete, schaffte es Shizo, mit einer gut gezielten Ohrfeige Nyla aus ihrer Schockstarre zu holen.
„Jetzt dich reiß dich mal zusammen. Wenn das hier wirklich echt wäre, dann hättest du allen Grund, in der Ecke zu sitzen und zu verzweifeln. Aber das hier ist eine Prüfung. Die würden uns niemals etwas antun, mit dem wir nicht irgendwie fertig werden würden“, tadelte die Itari die junge Frau und Nyla nickte traurig. Shizo war anzuhören, wie sehr sie den Lehrern vertraute und das sorgte dafür, dass sich Nyla mühsam versuchte zu beruhigen und hilfreich zu sein.
Bis der zweite unheilvolle Glockenton erklang und Nyla wieder einen leeren Blick bekam. Der jedoch sogleich von Shizo unterbrochen wurde, nachdem sie Nyla einmal kräftig schüttelte.
„Was passiert jetzt? Aber ohne leeren Blick und Ausrastern.“
Nyla schluckte schwer und rezitierte den nächsten Vers: „Der zweite Ton erklang so dumpf und mit ihm kam der Donner/ und der Donner erschütterte den Himmel und das Land/ und ließ den Tapferen und Narren die Gebeine erzittern.“
Und kaum, dass sie diese Worte ausgesprochen hatte, ertönte ein mächtiger Knall und es ging ein Ruck durch das Zelt und ein Jeder spürte enorme Vibrationen in sich niedergehen.
Es war beinahe wirklich so, als ob ihre Knochen mit dem Donner widerhallten und ihre Seelen förmlich aus ihren Körpern geschüttelt wurden.
Auch Amalia hatte ihre liebe Sorge damit. Nicht nur, dass noch immer das Unheil über ihr und jedem anderen dräute und sie deswegen ohnehin schon zitternde Hände hatte, nun musste es auch noch so was sein.
Sie hatte die Abhandlung endlich gefunden und versuchte sich daran zu erinnern, in welcher Passage die Organe angesprochen wurden. Irgendwie kam ihr 'Returius Verbindung' in den Sinn. Ein Zauber der verschiedene Elemente in sich vereinte und den geschädigten Körper wiederherstellen konnte.
„Äh.. äh... Returius Verbindung? Klingt das gut?“, fragte sie versuchshalber und Lisel sog scharf die Luft ein.
„Unter gar keinen Umständen. Bei den Organschäden, die er davon getragen hat, würde ihn das sofort umbringen“, erklärte die Sanitäterin.
„Verdammt. Götter, wie war das nochmal...? Bei multiplen Schäden an den Organen, bietet sich am besten... am besten... komm schon, du kennst die Antwort.“ Amalia kniff ihre Augen zusammen und fokussierte sich so stark auf die Antwort, dass ihr Gesicht rote Flecke bekam. Die Antwort war da. Irgendwo in ihren Erinnerungen.
„Tianas Faden!“, kam ihr die Erleuchtung. Sofort streckte sie ihre Hände über das Loch aus begann die Elemente zusammen zu formen. Tianas Faden war in seiner Beschaffenheit her einfach, doch um so komplexer, wenn man damit tatsächlich heilen wollte.
Die wachsamen Augen der beiden Königinnen betrachteten die Elfe bei ihrer Arbeit. Yuna trat sogar näher, um das Ganze besser sehen zu können.
„Eine Anwärterin mit einem solchen Potenzial. Dass muss dich schon richtig hibbelig machen“, meinte Sezuna, die ihrer Schwester einen belustigen Blick zuwarf.
„Eine derartige Magie ist einfach zu lernen und schwierig zu meistern. Ich muss gestehen, dass ich doch ein wenig aufgeregt bin.“
„Mhm~ So siehst du auch aus.“
Shizo und Nyla kamen ebenfalls an den OP-Tisch und drehten sich sofort um, als sie den Soldaten dort liegen sahen.
„Kommst du voran?“, fragte Shizo und Amalia antwortete mit einem gepressten Stöhnen.
Die Elfe formte die Magie zu filigranen Fäden, mit denen sie nach und nach, die beschädigten Organe reparierte. Mit der Unterstützung von Lisel schafften es die beiden Frauen schließlich, die schwere Verletzung zu heilen und das Gewebe vollständig zu reparieren. Nach der Operation wurde der Soldat von zwei Schwestern auf eine Trage gelegt und zum nächsten freien Feldbett getragen.
„Das war großartig. Habt vielen Dank, werte Magistra“, lobte Lisel Amalia und klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter.
„Mir tut der Kopf weh“, klagte die Elfin und massierte sich ihre Schläfen. So viel Magie zu nutzen war sie nicht gewohnt und ihr Körper reagierte entsprechend. Außerdem hatte sie sich sehr stark auf das konzentrieren müssen, was sie tun wollte und nicht nur einmal war ihr ein Fehler unterlaufen, der den Soldaten hätte töten müssen. Was aber aber nicht hatte. Amalia hatte es geschafft.
Doch noch war es nicht vorbei. Denn schon erklang erneut die Glocke und Nyla fröstelte.
„Bevor du jetzt wieder mit einzelnen Phrasen kommst; wenn du das Gedicht auswendig kennst, dann sage es einmal komplett auf. Damit wir wissen, was uns noch erwartet“, schlug Shizo vor und Nyla nickte. Die junge Frau schloss ihre Augen und strich sich einige Strähnen ihrer schokoladenfarbenen Locken aus dem Gesicht.
Dann war ihre Stimme im ganzen Zelt zu vernehmen. Die Anwärter starrten sie gebannt an und hörten ihr zu, während sie folgende Worte sprach: „Der dritte Ton erklang so dumpf und mit ihm kam der Wind/
und der Wind heulte und tobte und brachte den Duft süßen Todes heran/
und die Tapferen und Narren vergingen in des fahlen Windes Rausch/
Der vierte Ton erklang so dumpf und mit ihm kamen die Blitze/
und die Blitze zuckten gleich den beinernen Fingern des Todes aus dem brennend Himmel/
und bleich und strahlend griffen sie nach den Tapferen und Narren um jene zu schlagen die da noch standen und klagten/
Der fünfte Ton erklang so schrill und mit sich brachte er den Tod/
und der Tod ritt heran auf des fahlen Windes weiter Strom und stieg herab/
und mit beinernen Fingern bleich und strahlend griff er nach dem blut'gen Morast.“
Nach ihrer Rezitation herrschte eine unnatürliche Stille im Zelt. Nicht einmal die Verwundeten wagten es ihre Unbill kundzutun. Lisel trat an ihre Seite und legte ihr sanft die Hand auf die Schulter.
„Magistra. Wenn das wirklich stimmt, was Ihr da sagt, dann müssen wir die Verwundeten und Geschlagenen beschützen. Ich werde nach draußen gehen und um das Zelt eine schützende Barriere errichten. Wir müssen unsere Patienten vor diesem grässlichen Schicksal bewahren“, verkündete die Sanitäterin und lief an den jungen Frauen und den restlichen Anwärtern vorbei. Als sie den Eingang erreicht hatte, rief ihr Nyla hinterher.
„Ihr dürft nicht gehen! Ihr werdet da draußen sterben, wenn Ihr geht!“
Lisel drehte sich in ihre Richtung und schenkte ihr ein sanftes, ruhiges Lächeln. „Wir sind dem Leben unserer Patienten verpflichtet und wenn ich ihre Leben retten kann, in dem ich dass meine opfere... dann zahle ich diesen Preis mit Freuden.“ Ihre Stimme war fest und klar, und mit einem letzten Lächeln, drehte sie sich wieder um und verließ das Zelt.
Zurück blieben die Anwärter und der Nachklang der Worte der tapferen Sanitäterin.
Die Anwärter spürten wie eine andere Form der Magie gewirkt wurde. Eine Form des Schutzes und der Unterkunft.
„Das wird nicht reichen“, kam es von Nyla.
„Was soll das heißen?“, fragte Shizo zurück und ihre Katzenohren zuckten aufgeregt.
„Erinnert ihr euch nicht mehr. Lisel Hunbach und die drei Heilerinnen starben bei dem Versuch, die Soldaten zu beschützen. Die drei Magistra. Wir.“
„Können wir das nicht irgendwie verhindern? Ich meine, wir müssen doch etwas haben, was die damals nicht gehabt hatten. Oder?“ Shizos Stimme klang mit Verzweiflung und Angst.
Nyla richtete ihren Blick auf die Elfin. „Wir haben Amalia“, sagte sie und Amalia richtete ihre Augen auf die junge Frau.
„W-wie? Was soll denn an mir so anders sein?“
„Du bist eine Elfin“, konstatierte Nyla.
„Ja und?“ Amalia verstand nicht, worauf sie hinaus wollte und legte den Kopf etwas schief.
„Da wir weder eine Sirene, noch eine Korrigane haben, bist du unsere beste und einzige Gelegenheit, dass hier zu schaffen. Elfen besitzen doch überaus mächtige Lieder, richtig?“
Amalia sah sie mit einer Mischung aus Verstehen und Überraschung an. „Haben wir. Aber wie kommst du darauf , dass ich die kenne?“
„Kennst du sie oder nicht?“
Wieder knetete die Elfe ihre Finger und sie schloss für einen Moment die Augen, als sie antwortete, „M-meine Mutter hat mir ei-einige beigebracht. A-aber ohne Vorbereitung und Unterstützung, wird uns das nichts bringen.“
Shizo wandte sich plötzlich um und ihre geschlitzten Augen richteten sich auf die anderen Anwärter. „Hergehört! Wer von euch, kennt sich mit den Unstertützungzaubern aus.“
Drei Hände stiegen in die Luft. Eine junge Frau mit kleinen Schnurrhaaren oberhalb ihrer Lippen, eine Vampirin mit kurzen, schwarzen Haaren und eine weitere Elfe.
„Gut, wie heißt ihr?“
„Aislyn“, antwortete die Elfe dünn.
„Hayden“, kam es von der Vampirin, die es aufgegeben hatte, ihre Natur zu unterdrücken und die Itari mit leuchtend roten Augen anblickte.
„Stella“, stellte sich die junge Frau vor und Shizo bemerkte, dass ihre Augenfarbe von einem stechendem Gelb zu einem sachten Azur wechselte.
„Sehr schön. Unsere Freundin hier, wird ein Ritual abhalten, damit wir alle hier geschützt sind. Dafür brauch sie jedoch viel Magie. Mit anderen Worten, werdet ihr Drei sie mit sämtlichem Sternenstaub unterstützen, wie sie braucht. Alles klar?“ Shizo stellte ihre Ohren etwas nach hinten und nach dem ein allgemeines Kopfnicken durch die drei Frauen ging, brachte sie sie in Position. Sie hätten zwar Hüter gebraucht, doch als Heiler waren auch sie in der Lage den Sternenstaub in andere Körper zu leiten. Die Frage war nur, ob Amalia das Ganze händeln konnte.
Anschließend betrat Amalia den entstandenen Kreis und wirkte nervöser denn je. Soviel Verantwortung wie jetzt auf ihren Schultern lastete, war sie nicht mal von Zuhause aus gewohnt.
Shizo und Nyla blieben abseits des Kreises, aber doch in ihrer Sichtweite, um ihr moralische Unterstützung zu geben.
Aislyn, Hayden und Stella hoben ihre Arme und richtete anschließend ihre Handflächen auf Amalia. Konzentrierte Magie, in Form von goldenen Strahlen, verbanden sich mit ihrem Körper und die Elfe spürte, wie sie mit einer nie gekannten Macht erfüllt wurde.
Sie breitete ihre Arme aus und begann mit ihrem Lied, in der Sprache der Altelfen. Amalia kannte ihre Kräfte und vor allem die der Königinnen nicht und dennoch nutzte sie diese. Sie schaffte es die fremden Magien miteinander zu verbinden und mit ihren Worten und der Melodie in die richtige Bahn zu lenken, um einen Zauber zu wirken, wie es nur Königinnen gelang.
Nor krokedanz braute bjargenhell unfin bleis sera horendel
Shie eta kla skahasum blieve gro hontu wej
Tumei ve Hroon
(In den Tiefen der Berge und in Tälern aus Fluss und Wald)
(liegt verborgen Stein und Fels, wartend auf tapfere Männer)
(Segen von Hroon)
Fjia netin bei iisklov hedinwrei
Hijl sindes glov honles gly
Mentai saharenbo mejusef fehtai
Tumei ve suf fine Hroon
(Hammer, Meißel und Schlag kommen all herbei)
(Hügel leuchtend Gold und fallend Glühen)
(versteckt sie liegen und niemand sie je gesehen)
(Segen finden sie von Hroon)
Dain verefo verejen nendidju
belise kon gehdi ses
Uso sings juton sohumba setalein
For meinka vielken so Hroon
(Schneiden zurecht und errichten)
(Mauern, groß und mächtig)
(Und wir singen, jubelnd zu seinen Ehren)
(Denn Ehre sei glorreich dir Hroon)
Vi sing vi fra verjun steen najut nol
stedin anstehe nhut jai
belke heritnu nedunhein neeheto
ihigran ne'an nene tune Hroon
(Wir singen, wir arbeiten in seinem gelobten Namen)
(Wälle sollen zieren uns)
(keine Gefahr soll uns mehr drohen)
(denn wir leben im gesegneten Schutze Hroons)
Ihr Gesang, ihr Lied, erfüllte das ganze Zelt und drang bis an die Palisaden. Ätherische Mauern, mit strahlenden Ziegeln und leuchtenden Fugen entstanden um das Lazarett und bildeten eine schützende Kuppel, welche sie vor der Mächte der Glocke beschützen sollte. Sternenstaubsränge wurden geknüpft, die sich miteinander verbanden und immer mächtigere Zauber schafften. Von den Tiefen der Melodie getragen, kam das Geräusch von hallenden Steinmetzarbeiten heran, welche den Fels abschlugen und zurecht schnitten, damit diese schützende Mauer schließlich ihren Abschluss fand.
Als das Lied ein Ende fand, und die drei Frauen ihre Händen niedersinken ließen, wurden sie sich gewahr, dass eine Königin für sie gerade gesungen hatte. Ein jeder konnte ihre Aura, ihre Ausstrahlung spüren und sie alle mussten dagegen ankämpfen auf die Knie zu fallen. Nicht nur wegen der Erschöpfung.
Während ihres Liedes war der vierte Glockenschlag zu vernehmen gewesen und Blitze zuckten vom Himmel herab. Krachten auf die magische Barriere, doch zeigte sich das verzauberte Gemäuer davon unbeeindruckt.
Schließlich und endlich ertönte der letzten Glockenschlag und ein geisterhaftes Wiehern und Poltern war zu hören, als würden hundert Rösser wild heran galoppieren.
Und dann nichts mehr. Völlige Ruhe. Bis aufbrandender Applaus an ihre Ohren drangen.
Die Anwärter sahen sich verwirrt an und plötzlich lichtete sich die Zeltplane. Flog einfach davon und löste sich auf. Die vermeintlich verwundeten Soldaten erhoben sich von den Feldbetten und applaudierten ebenfalls.
Die Anwärter der Heiler befanden sich wieder in der Arena und nur langsam kam die Erkenntnis.
„Was für ein Spektakel! Was für ein Schluss!“, donnerte Ceridwens Stimme über den Platz. „Ein Lied zu hören, in der alten Sprache der Elfen... damit hat nun wirklich niemand gerechnet!“ Die Königin war hin und weg und warf Amalia einen fliegenden Handkuss zu.
„Damit endet die Heilerprüfung! Geht nun! Ruht euch aus! Ihr habt es euch wahrlich verdient!“
~*~*~
Und hier noch mal das vollständig Gedicht für euch:
Und siehe und sah, ein Himmel rot wie Blut und brennend Gewölben/
und darunter fielen die Tapferen und Narren gleichermaßen/
und über allem thronte des Königs gestrenger Blick/
In seiner Rechten sein Symbol und in seiner Linken die Glocke/ Verkünderin aller Unheil/
Und er sprach die Worte voll Inbrunst/
und über allem thronte die Glocke/ Verkünderin des Unheils/
Und der König hob seine Rechte/ in seiner Hand ein schwarzes Seil gesponnen aus Nacht und Finsternis/
und das Seil umfasste die Krone und des Königs Rechte zog an des Raben schwarzen Strang/
Der erste Ton erklang so dumpf und mit ihm kam der Regen/
und rot fiel der Regen auf die Erde und verwandelte sie blut'ges Morast/
Der zweite Ton erklang so dumpf und mit ihm kam der Donner/
und der Donner erschütterte die Himmel und das Land/
und ließ den Tapferen und Narren die Gebeine erzittern/
Der dritte Ton erklang so dumpf und mit ihm kam der Wind/
und der Wind heulte und tobte und brachte den Duft süßen Todes heran/
und die Tapferen und Narren vergingen in des fahlen Windes Rausch/
Der vierte Ton erklang so dumpf und mit ihm kamen die Blitze/
und die Blitze zuckten gleich den beinernen Fingern des Todes aus dem brennend Himmel/
und bleich und strahlend griffen sie nach den Tapferen und Narren um jene zu schlagen die da noch standen und klagten/
Der fünfte Ton erklang so schrill und mit sich brachte er den Tod/
und der Tod ritt heran auf des fahlen Windes weiter Strom und stieg herab/
und mit beinernen Fingern bleich und strahlend griff er nach dem blut'gen Morast/
Und siehe und sah da kam hernieder aus brennend Gewölben und rotem Himmel ein Engel/
und ein jeder sah die strahlend Schwingen und seiner Hand ein Speer glühend von Feuer/
und der Engel warf seinen Speer und alle Macht/
und die Spitze glühend bohrte sich in der Verkünderin ehernes Fleisch/
Der Verkünderin Schrei hallte über der Welten Anlitz und alles ward stumm und taub/
und alles war vorüber als die Glocke hernieder fiel und zerbrochen ward/
Und der König fiel anheim dem wilden Engel und ward umschlugen von strahlend Schwingen/
und alles war vorüber/
und alles war vorbei.