Sie stand am Fenster, stützte ihre schmerzenden Hände auf dem Fensterbrett ab. Es war dunkel. Schon jetzt. Im gegenüberliegenden Wohnblock sah sie blinkende Girlanden und Sterne an den Fenstern. Hinter einigen Gardinen konnte sie geschmückte Tannenbäume erkennen.
In ihrem Radio lief Weihnachtsmusik. Laut.
Heute war Heiligabend. Aufgeregte Menschen liefen, schwer bepackt, die Straße entlang. Sie nahm die Streichholzschachtel und entzündete die Kerze auf dem Gesteck am Fenster. Feiner Bienenwachsduft erfüllte den Raum. Keine elektrische Beleuchtung, nein, eine goldgelbe Kerze, die Letzte aus der Packung.
Sie schaute hinaus. Am Himmel zeigten sich die ersten Sterne. Ob Er von da oben zu ihr schaute?
Hatte es geklingelt? Sie nahm ihren Stock und humpelte zum Eingang. Es polterte auf der Treppe. Sie öffnete die Tür, vorsichtig, nur einen Spalt. Die Kinder des Nachbarn hasteten die Treppe hinunter. Kein Besuch für sie. Die Schwester, die sie sonst jeden Abend besuchte, um ihr die Medikamente zu geben und die Kompressionsstrümpfe auszuziehen, würde heute nicht kommen.
»Kann ihre Tochter das an den Feiertagen übernehmen?«, hatte die Pflegerin gefragt. »Wir sind so schlecht besetzt.«
Sie hatte genickt. »Kein Problem, meine Tochter kommt vorbei.«
Sie hatte der Schwester nicht gesagt, dass ihre Tochter über Weihnachten in Mexiko ist. Sie würde die Strümpfe einfach ein paar Tage anbehalten, was war schon dabei. Die Medikamente konnte sie selbst nehmen, hat sie früher auch gemacht. Hatte sie die für heute Abend schon genommen? Sie war sich plötzlich unsicher. In der Küche lag die Wochenbox. Welcher Tag war heute? Mit zitternden Händen versuchte sie, den Behälter zu öffnen. Das Teil fiel auf den Boden. Die Tabletten verteilten sich auf dem Linoleum. Ächzend bückte sie sich. Welche war für abends? Die große Blaue, eine Weiße? Sie klaubte sie auf und schluckte sie mit etwas Wasser. Und dann fiel ihr ein, dass sie ihre Abendmedizin schon genommen hatte. Heute. Oder war das gestern gewesen? Ihr Herz klopfte. Sie musste etwas essen. Und trinken. Sie stellte den Wasserkocher an, nahm einen Teebeutel und suchte eine Tasse. Sie würde eine Gute nehmen, aus dem Wohnzimmer. Langsam tappte sie zur Vitrine. Was wollte sie hier noch einmal? Ihr Blick fiel auf den handgeschnitzen Engel. Vorsichtig nahm sie ihn in beide Hände. Dann trug sie ihn zum Fenster und stellte ihn neben die Kerze. Der Kerzenschein beleuchtete sein feingemaltes Gesicht, es sah aus, als wäre er lebendig. Sie lächelte. Sie war doch nicht allein!
Der Wasserkocher in der Küche gab ein Signal und stellte sich ab. Sie hörte es nicht. Selig lächelnd saß sie in ihrem Sessel und schaute auf den Engel. Er leuchtete, immer heller wurde das Leuchten. Glücklich schloss sie ihre Augen. Nur ein bisschen ausruhen. Ein Tannenzweig begann zu glimmen. Das Gesteck war trocken. Ein Zweig berührte die Vorhänge. Die schweren Übergardinen fingen an zu schwelen. Sie verlor das Bewusstsein, bevor Flammen, nach Nahrung suchend, ihren Engel erfassten.
Die Feuerwehr kam schnell und doch zu spät.