"Johnson, Brown, seid ihr da?", krächzte das alte Funkgerät im Pickup-Truck der beiden Park Ranger. Dienstagnachmittag im Yellowstone Nationalpark, eigentlich sollte es ausgesprochen still sein. Die meisten Touristen sind nur über das Wochenende zu Besuch, die Aufräumarbeiten finden Montags statt. Dienstag bis Donnerstag waren die schönsten Tage der Woche. Normalerweise.
Seit Freitag ein Camper, Daniel Kim, in den dichten Nadelwäldern verschwand, war jeder Ranger in Alarmbereitschaft. Leute verirrten sich schon einmal in den Weiten des Parks, aber es dauerte nie länger als zwei Tage, sie wiederzufinden."Ja, wir hören Sie laut und deutlich", antwortete Peter Johnson seinem Vorgesetzten am anderen Ende der Leitung.
"Es wird langsam dunkel draußen, fahrt noch eine Runde durch die Nordwälder und kommt dann zurück."
Sie nickten einander an. Endlich Feierabend. Endlich nach Hause. Die letzten Tage waren so anstrengend gewesen, und die nächsten drei Tage hätte er frei.
"Na komm, die Runde schaffen wir auch noch". Joshua lachte. "Sollen wir die wirklich noch machen? Dann müssen wir uns aber echt beeilen. Es wird wirklich langsam dunkel draußen."
"So lang wird es nicht dauern, wir fahren ja schnell", entgegnete sein Kollege ihm und trat auf das Gaspedal, dass der Motor aufheulte.
Peter wünschte sich aktuell nichts mehr als eine warme Dusche, eine Jogginghose und ein Bett. Und endlich seine Freundin wiedersehen. Diese ständigen Überstunden machten ihm zu schaffen, und so sehr er seine Arbeit im Nationalpark auch liebte, er würde sich langfristig nach einer neuen Stelle umsehen müssen, diese machte ihn zu sehr fertig. Peter legte seinen Kopf an die kühle Scheibe und sah die kräftigen Stämme riesiger Nadelbäume an sich vorbeirauschen, während Joshua den Wagen mit hohem Tempo die Schotterpfade entlangleitete. Bis die Umgebung in einem Meer as grün-braunen Streifen und Flecken verschwamm.
Er wurde abrupt aus seinem Tagtraum gerissen, als er mit einem Ruck in seinem Sitz nach vorn schnellte. Joshua trat auf die Bremse wie ein Wahnsinniger.
"Hey, was machst du da?", fuhr er ihn an.
"Siehst du das Rote da, hinten bei der Lichtung?", antwortete Joshua und zeigte auf einen Fleck zwischen den Bäumen, etwa zweihundert Meter von ihnen entfernt.
"Ein Camper?", wunderte Peter sich.
"Hier im Norden ist Campen verboten. Vielleicht ist das ja unser verlorenes Schaf. Oder zumindest sein letzter Aufenthaltsort. Und selbst wenn nicht, alle anderen dürfen hier auch nicht sein."
"Willst du mal gucken gehen?", fragte er.
"Ja. Bleib' du hier beim Wagen, damit nichts geklaut wird. Ich will mir das näher anschauen".
"Sei vorsichtig", meinte er noch geistesabwesend, während Joshua schon die Tür aufschwang. Eine Weile sah er ihm noch hinterher, mit einem Finger am Türinneren tippend. Irgendwann sah er nur noch eine entfernte Bewegung eines grünen Männchens in den Tiefen des Waldes. Um seiner Müdigkeit nicht stattzugeben, zog er die Beifahrertür auf und stieg hinaus. Die Luft war angenehm, die Hitze des Tages war schon verzogen und ein kühler Wind bahnte sich seinen Weg durch die Nadelbaumkronen. Er strich sich durch die mittellangen, braunen Haare und wischte mit der Hand den Schweiß von seiner Stirn. Im Auto stand noch die Hitze des Tages, und der penetrante Gestank von angebranntem Gummi machte es kaum besser. Umso besser tat ihm die kühle Waldluft. Sein Blick wanderte nach oben, wo dutzende, kleine Vögel ein Lied sangen, dann zurück in die Weite des Waldes.
"Sag bloß, er ist schon wieder da...", sagte er sich, als in vielen hundert Metern Entfernung eine Gestalt zwischen den Bäumen auftauchte."Scheint ja nicht besonders erfolgreich gewesen zu sein, die Suche."
Peter wollte schon einen Schritt Richtung Wald gehen, seinem Freund entgegen, als er etwas seltsames bemerkte.
Die Gestalt hatte eine rote Jacke an."Hey? Josh! Josh, bist du's?", rief er in die Stille des Waldes hinein. Die Gestalt reagierte nicht, sondern lief weiter in seine Richtung, langsam und gleichmäßig.
"Sir?", rief er jetzt energischer, seine Hand wanderte in seine Weste, wo seine Pistole steckte. Die Gestalt reagierte nicht.
Langsam erreichte sie Sichtweite, und Peter strengte sich an, das Gesicht zu erkennen.
"Sind Sie Daniel Kim?", rief er, zum ersten Mal erhielt er eine Reaktion. Wenn man es eine Reaktion nennen kann. Immerhin blickte sie auf, sah ihm aus etwa 50m Entfernung direkt in die Augen.
Peter lief zu dem Verschollenen hinüber, seine Waffe dabei in der Hand. "Sir, Sie werden seit Tagen vermisst!"
Er sah Peter nur wortlos mit leerem, ausdruckslosem Gesicht an.
"Sir, ich muss Sie mit zur Basis nehmen, kommen Sie mit", befahl er dem Camper. Seltsamerweise befolgte dieser den Befehl sofort. Erst dachte er, er würde nicht verstanden, aber scheinbar war die Gestalt des Englischen mächtig.
Er schaute sich um. Die Situation kam ihm allgemein merkwürdig vor. Diesen Wanderer umgab eine seltsame Aura, er konnte spüren, wie ihm kalt wurde.
"Steigen Sie bitte hinten ein", befahl er dem seltsamen Camper, während er versuchte, herauszufinden, was ihn so störte. Falls ihn etwas störte. Falls es nicht nur ein dummes, schlechtes Gefühl ist.
Peter blickte noch einmal durch das hintere Fenster des Pickup-Trucks. Der Camper saß dort, angeschnallt, und schaute aus dem Fenster auf der anderen Seite.
"Warten Sie hier", rief er, sodass der Mann es auch durch die Scheibe hören konnte, und ging zur Motorhaube des Wagens. Die Wärme des Motors tat gut, seit die seltsame Kälte eingezogen war. Er griff zu seinem Walkie Talkie.
"Hey Josh. Hörst du mich?"
Einen Moment war es still. Sehr still. Peter merkte jetzt, was sich verändert hatte. Der Wind wehte nicht mehr durch die Baumkronen, das säuseln der Natur verstummte, und kein Vogel war mehr zu hören.
"Ja, ich kann dich hören", antwortete es rauschend durch den kleinen Lautsprecher des Funkgeräts.
"Du wirst es nicht glauben, aber ich habe den Camper gefunden! Den Verlorenen, du weißt schon!", lachte er leise ins Mikrofon.
"Peter, hast du deine Waffe bei dir?"
"Was? Ja, ich meine... klar. Wieso?", fragte er perplex.
"Ich habe den Camper gefunden", klang es durch das Rauschen des Walkie Talkies.
"Du... was?""Ich weiß nicht, was bei dir los ist, aber ich habe Daniel Park gefunden. Pass auf dich auf, und lass es nicht entkommen, ich bin so bald wie möglich bei dir!"
Adrenalin raste durch seine Adern, er konnte spüren, wie sein Herz seinen Rhythmus beschleunigte, bis ihm schlecht wurde. Er zuckte zusammen. Eine kalte, leichte Hand legte sich auf seine Schulter. Er wirbelte herum, aber es war niemand zu sehen. Nichts. Totenstille.
Mit langsamen, vorsichtigen Schritten bewegte er sich auf die hintere, rechte Tür des Wagens zu. Seine Übelkeit nahm mit jeder verstreichenden Sekunde zu, bis er endlich einen Blick in den Innenraum werfen konnte.Er war leer.
Lediglich die rote Jacke lag noch auf dem Sitz der Rückbank, über den sogar noch ein Gurt gespannt war. Aber von der Gestalt fehlte jede Spur. Hinter ihm hörte er einen Ast knacken. Ohne zu sehen, wer oder was dort überhaupt war, löste er einen Schuss.
Joshua hatte den sichtlich verwirrten Camper angewiesen, beim roten Zelt zu bleiben, bis er wieder da war. Mit seiner Shotgun in der Hand bewegte er sich zurück zum Pfad, an dem sie den Wagen stehen ließen. Plötzlich hörte er einen Knall, der die Stille des Waldes wie ein Messer durchschnitt. "Peter!", schrie er und sprintete los, vorbei an all den Baumstämmen, über Stöcke, Äste und durch Dornen, bis er endlich am Wagen angelangte. Dort fand er einen sichtlich erschöpften Kollegen vor.
"Peter! Was ist los? Du hast geschossen! Und wo ist diese Person, die du gefunden hast? Was zur Hölle ist hier los?!"
Peter atmete schwer, kreidebleich. Der Schock war ihm ins Gesicht geschrieben.
"Hast du dahin geschossen? Was war da, ist er entkommen?", röchelte Joshua, der nach dem Sprint ebenfalls nach Luft ringen musste, und trat näher an Peter heran, um zu sehen, worauf er schoss.
"Peter? Was ist denn jetzt?"
Er rieb sich die Arme."Es ist verdammt kalt, was ist denn passiert hier? Jetzt antworte, verdammt!"
Peter starrte ihn mit leerem, ausdruckslosem Gesicht an, schweigend. Dann trat er einen Schritt näher.