Ich liege auf meinem Bett in der Wohnung meiner Grosseltern und starre an die Decke.
Gerade frage ich mich was meine Familie wohl macht. Ich weiss, dass ich das alles eigentlich hinter mir lassen sollte, aber ich kann es nicht. Ich weiss nicht, wie oft ich bis spät in die Nacht wach liege und mir wünsche, dass alles anders wäre.
Theo, mein kleiner Bruder mit seinen blonden Haaren und den braunen Augen, die mich immer spitzbübisch angeschaut haben.
Und Naomi, meine kleine Schwester mit den hübschen blauen Augen und den hellbraunen Haaren.
Vermissen sie mich?
Denken sie noch an mich?
Es ist jetzt über zwei Jahre her, aber ich habe es immer noch nicht ganz realisiert. Ich bin froh über die Lage und ich würde mich jedes Mal wieder so entscheiden, aber manchmal frage ich mich, was wäre, wenn ich mich anders entschieden hätte.
Ich denke die ganze Situation wäre noch schlimmer geworden.
Durch mich.
Durch das, was ich bin.
Meine Geschwister und ich stehen noch in Kontakt. Wir schreiben uns oft, was bei uns los ist und wir machen manchmal auch etwas zusammen, aber es ist nicht mehr das gleiche.
Ich liebe Theo, ich liebe Naomi, ich liebe auch meinen Dad, aber meine Mum kann ich einfach nicht lieben. Ich habe meine Geschwister und meinen Vater verlassen, nur um von ihr wegzukommen.
Ich weiss, dass man in seinem Leben Opfer bringen muss, aber wieso musste es ein so grosses Opfer sein?
Wieso?
Für meine Geschwister ist es das Richtige bei unseren Eltern zu leben, aber mich hat es kaputt gemacht.
Theo wird nächstes Jahr ins Sport-Internat gehen. Um seine American Football und seine Basketball Fähigkeiten unter Beweis zu stellen.
Das ist das Richtige für ihn. Er lebt für den Sport. Aber das Internat ist in Coconut Creek, Florida. Und wir leben in Redondo Beach Kalifornien. Damit er nicht ganz alleine da ist, wird Dad mit ihm nach Florida ziehen.
Und Naomi wird in drei Jahren ebenfalls weggehen. Nach New York City an die School of Ballett. Die berühmteste Ballettschule von ganz Amerika. Auch Mum wird mit ihr nach New York ziehen.
Dann verliere ich meine Geschwister noch einmal.
Ich drehe meinen Kopf und mein Blick landet auf den verschiedenen Verpackungen der Tabletten. Seit fast zwei Jahren muss ich sie täglich einnehmen. Manchmal will ich jedoch nicht von diesen Tabletten abhängig sein.
Ich will nicht, dass sie mich beruhigen, mich kontrollieren.
Ich will nicht, nichts fühlen. Aber ich will auch nicht den ganzen Schmerz fühlen.
Die sieben Packungen der Tabletten scheinen mich anzuziehen, auch wenn ich sie verabscheue.
Alle Leute sagen , dass es mir besser geht, wenn ich sie nehme, aber das stimmt nicht. In Wahrheit haben sie keine Ahnung wie man sich fühlt, wenn man von diesen Tabletten abhängig ist.
Ich fühle mich betäubt, alles ist gedämpft.
Ich fühle den Schmerz zwar nicht, aber ich fühle mich auch nicht wie ich.
Langsam rolle ich mich auf die Seite und greife nach den Schachteln. Aus der Packung Quilonorm nehme ich eine Tablette. Dreimal täglich sollte ich eine nehmen, aber heute ist das meine erste. Die Tegretol Tablette schlucke ich mit ein bisschen Wasser herunter. Die Neuroleptika und Convulex lasse ich weg, die sind bloss als Beruhigungsmittel tätig. Aber ein Lamictal und 100mg Antidepressiva muss ich noch nehmen.
Und zu guter Letzt noch ein Schlaftablette, die meine Träume unter Kontrolle hält. Die nehme ich am liebsten. Denn mit ihnen werde ich einfach in ein schwarzes Loch gezogen, schlafe traumlos und wache Stunden später auf.
Früher habe ich immer geträumt.
Jede Nacht.
Doch die Albträume sind erst gekommen, seit ich hier bei meinen Grosseltern lebe.
In einer halben Stunde werden die Medikamente ihre Wirkung erfüllen und mich wie ein Gerät in den Stand-By-Modus runterfahren. Es ist schon Viertel nach Elf, aber ich bin noch hellwach.
Momentan habe ich eine manische Phase. Vor fast zwei Jahren hat ein Arzt mir erklärt, dass ich krank bin. Er hat mir gesagt, dass ich an der Bipolar-2-Störung erkrankt bin.
Ich sehe den Tag vor mir.
Es war vor knapp zwei Jahren. Ein regnerischer Tag im April. Ich war dreizehn und mein vierzehnter Geburtstag stand vor der Tür.
Ich sass bei Dr. Dris im Behandlungszimmer, meine Grosseltern sassen neben mir. Die Tür ging auf und Dr. Dris betrat das Zimmer. Ich musste nur einen einzigen Blick auf sein Gesicht werfen und ich wusste, dass er keine guten Neuigkeiten hatte.
Er setzte sich auf den Stuhl uns gegenüber und richtete seine Notizen. Dann faltete er die Hände und schaute mir in die Augen.
»Es sieht nicht gut aus, Lucy«, sagte er. »Die Ergebnisse zeigen, dass du unter der Bipolaren Störung Typ 2 mit ausgeprägter Neigung zur Manie leidest. Dabei wechselst du zwischen...«
»Ich weiss was eine Bipolare Störung ist. Bei einer Bipolaren Störung wechselt die betroffene Person zwischen einer gedrückten, depressiven Stimmung und einer euphorischen, manischen Stimmung. Aber beim Typ 2 ist die Manie Phase weniger stark ausgeprägt.«, unterbrach ich ihn.
Dr. Dris schaute mich an. Mit Mitleid in seinem Blick. Einer seiner Söhne war auch krank. Auch wenn körperlich und nicht psychisch.
»Du wirst jeden Tag Tabletten einnehmen müssen. Du wirst zu einem Psychiater gehen und einmal im Monat musst du dich einer ärztlichen Kontrolle unterziehen.«
Seine Worte drangen wie durch einen Schleier zu mir durch.
»Sie kann aber weiterhin zu Hause wohnen, oder«, fragte meine Grandma ihn. »Ja. Solange sich ihr Zustand nicht enorm verschlechtert.«
Dr. Dris fing wieder an zu reden, doch ich blendete seine Stimme aus.
Ich wusste, dass die Anfälligkeit für eine solche Krankheit grösser war, wenn jemand in der Familie diese Krankheit hatte. Der Auslöser konnte aber auch eine schlimme, traumatisierende Erinnerung sein.
Von meiner Vaters Seite kam sie sicher nicht, also blieb nur noch die mütterliche Seite. Und ehrlich gesagt, konnte ich mir das auch gut vorstellen. Denn ich wusste rein gar nichts über meine mütterliche Seite.
Ich wusste nicht, weshalb sich die Eltern von meiner Mum haben scheiden lassen.
Ich wusste nicht, weshalb mein Grossvater Edward epileptische Anfälle hatte.
Ich wusste nicht, weshalb mein Grossonkel Octavius tot war.
Ich wusste nicht, weshalb mein Grossonkel Frederick tot war. Aber es gab Andeutungen, die mich fragen lassen, ob er Selbstmord gemacht hatte. Und wenn ja, weshalb?
War er krank?
Ich geriet in eine Gedankenspirale.
Auf eine Frage folgte eine andere. So schnell, dass ich nicht mehr mitkam.
Ich fragte mich, ob das ganze etwas zum Prozess nächste Woche beitragen würde.
Würden meine Grosseltern ihn so schneller gewinnen?
Ich fragte mich, weshalb meine Eltern ihnen nicht einfach das Sorgerecht überliessen. Ich vermutete, dass meine Mutter meinen Grosseltern gegenüber einfach nicht nachgeben konnte.Jemand berührte mich an der Schulter
»Lucy.«
Ich blinzelte die Gedanken weg und mein Blick fokussierte sich auf das vor mir.
»Dann bis in einer Woche«, verabschiedete sich Dr. Dris.
Wir standen auf, schüttelten ihm die Hände und verliessen die Praxis.
Ich spürte wie ich ganz still wurde.
Ich sagte kein Wort mehr, aber in mir drin brodelte es. Im Auto lehnte ich meinen Kopf gegen die Scheibe und beobachtete die Regentropfen dabei, wie sie langsam an der Scheibe hinunterliefen.
In meinem Inneren ballten sich meine Gefühle und wollten wie ein Katapult losgelassen werden.
Ich wollte schreien und weinen gleichzeitig.
Ich wollte auf etwas einschlagen, meine Wut rauslassen, und zugleich wollte ich Musik hören und einfach nur in meinem Bett liegen.
Doch ich wusste, dass ich nichts davon durfte. Ich durfte meine Gefühle nicht rauslassen, das endete nie gut.
Mein Grandpa Elliot blickte starr geradeaus, aber meine Grandma Lilian schaute immer wieder nach hinten. Ich sah die nackte Sorge in ihren grünen Augen und sie kaute auf ihrer Lippe herum. Sie wollte etwas sagen, aber sie tat es nicht. Denn es gab nichts zu sagen.
Nichts.
Ich mag dieses Wort. Manchmal wünschte ich, ich müsste nichts fühlen.
Nichts denken.
Nichts tun.
Nichts sagen.
Ich wäre nichts.
Und jetzt blinzle ich, um die Erinnerung verblassen zu lassen.
Jeden Tag leide ich unter dieser Krankheit.
Sie schränkt mich körperlich zwar nicht ein, aber psychisch schon. Ich hasse diese Krankheit, denn sie isoliert mich noch mehr von den anderen, als ich es sowieso schon bin. Ich spüre wie die Tabletten ganz langsam ihre Wirkung entfalten.
Meine Augenlider werden schwerer und die Gedanken in meinem Kopf werden langsamer.
Und dann werde ich in das schwarze Loch gesogen.