Jack blinzelte träge. Nicht ein einziger Windhauch fuhr ihm übers Gesicht und es stank nach verfaultem Essen.
Sie hatten seit Wochen weder Land noch ein anderes Schiff gesehen und dümpelten nur auf dem offenen Meer herum. Er wusste: Wenn nicht bald Wind aufkam, würde die Stimmung der Mannschaft vollends kippen und dann möge Gott denjenigen bewahren, der auf diesem Schiff das Kommando hatte.
Er war das zum guten Glück nicht. Jack war der Schiffszimmermann und gern gesehen bei der Mannschaft.
Der junge Mann gähnte und streckte sich. Dann stand er auf und rückte seinen Hut zurecht, unter dem seine dunklen Locken hervorlugten.
Als er vorhin eingeschlafen war, hatte sein kleines Plätzchen noch im Schatten gelegen, aber jetzt brannte auch dort erbarmungslos die Sonne vom Himmel.
Er schlenderte hinüber zu einem der grossen Fässer mit Wasser und spritze sich eine Ladung davon ins Gesicht.
Als sich der Pirat mit dem Ärmel übers Gesicht gefahren war, lehnte er sich an die Reling. Sein Körper wurde starr und seine Augen stumpf.
Fox.
Das war also sein Name? Und war der kleine Junge wirklich Milo? Und wenn ja, wer war Milo eigentlich? Fox konnte es kaum fassen.
Aber er hatte so viele Lücken in seinem Gedächtnis, dass er sich noch nicht mal zusammenreimen konnte, was ungefähr geschehen war. Seine ganze Erinnerung bestand nach wie vor aus einzelnen Bruchstücken, die überhaupt keinen Sinn ergaben.
Vielleicht wäre es das Beste, einfach wider von hier zu verschwinden, denn eines hatte er mittlerweile begriffen. Er konnte mit der Hilfe von Wasser offenbar durch Zeit und Raum reisen, und das, indem er von einem Körper zum nächsten wechselte. Und Wasser gab es hier auf diesem öden Schiff, ja wirklich reichlich.
Andererseits, er wusste nie, wo er auftauchen würde und es war sicher nur eine Frage der Zeit, bis er im Körper irgendeines Sklaven, oder mitten in der Wüste erwachte. Also war es wohl das Beste, so lange es ging, hier zu bleiben.
Fox musste erst noch lernen, wie er die Informationen, die er von seinem Träger bekam, nutzen und einsetzen konnte.
Bisher ging das allerdings ziemlich gut. Der Mensch, in dem er steckte, schien irgendwie mit seinem Geist verschmolzen zu sein, sodass er Fox eine Hilfe war, dieser jedoch die Oberhand behielt.
Es war total irre und ohne Erinnerungen zu leben, war auch nicht gerade toll, aber die schienen mit der Zeit ja wieder zurückzukommen und sobald er Scheisse baute, konnte er immer noch abhauen. Das war wirklich keine schlechte Art zu leben.
Ein Grinsen breitete sich auf Fox’ und auf Jacks Gesicht aus, bevor die beiden sich von der Reling abstiessen und in Richtung Bug verschwanden.
Die Tage zogen übers Wasser und nichts geschah. Jack lungerte herum, genoss das Faulenzen. Für ihn gab es nur nach einem grossen Sturm oder nach einem Überfall, egal von welcher Seite aus und ob erfolgreich oder nicht, etwas zu tun, und selbst dann nicht immer.
Glücksspiele und Kämpfe waren an Bord verboten, sodass Fox seine neuen Fähigkeiten, die er als Pirat besass, gar nicht ausprobieren konnte. Erinnerungen waren auch keine weiteren zurückgekommen.
„Soll uns doch der Klabautermann holen!“, polterte die Stimme vom Steuermann übers Deck und riss Jack aus seinen Gedanken.
„Was ist los, Peter?“ Jack erhob sich von der Treppe, auf der er gesessen hatte.
„Was los ist? Du fragst was los ist? Haben die Möwen dir etwa schon die Augen aus dem Schädel gepickt?“
Jack runzelte die Stirn und schaute Peter fragend an.
Dieser drückte ihm ein Fernglas in die Hand und deutete zum Horizont.
„Wir dümpeln hier seit Wochen umher und bewegen uns nicht vom Fleck und da drüben, da fährt eine dicke Galeone mit bestem Fahrtwind an uns vorbei. Und wir können absolut nichts tun.“
Wütend hieb er mit seinem Messer auf die Reling ein und stiess ein gefährlich klingendes Knurren aus. Jack, der das Fernglas mittlerweile wieder gesenkte hatte, verzog ebenfalls das Gesicht.
Lange sollte ihr Pech allerdings nicht mehr wären, oder zumindest von anderer Natur sein, denn als Jack ein, zwei Tage später unsanft wachgerüttelt wurde, hörte er sofort, dass ein Sturm sie mit voller Wucht getroffen hatte.
„Jack? Jack! Komm schon, alter Knabe! Wir brauchen jeden Mann an Deck, also beweg endlich deinen Hintern hoch!“
Als der junge Mann die Augen geöffnet hatte, war der Matrose schon zur nächsten Hängematte geeilt. Überall um ihn herum rannten Seeleute und stürmten in Richtung Leiter, die zum Deck hinaufführte. Jack überlegte nicht lange, griff nach seinen Stiefeln und warf sich seinen Mantel über.
Als er das Deck erreichte, musste er sich weit nach vorne beugen und am Geländer abstützen, um nicht weggeblasen zu werden.
Der Regen peitschte ihm ins Gesicht und machte es unmöglich, weiter, als ein paar Meter zu sehen. Die riesigen Wellen, die ihr Schiff hin- und herwarfen, waren nur als schwarze Schemen vor dem dunklen Himmel zu erahnen.
„Na Jack, endlich mal wieder was los, nicht wahr? Komm mit! Wir brauchen Hilfe beim Runterholen der Segel.“ Peter schien bester Laune zu sein, als er Jack auf die Schulter klopfte und ihm mit sich zog.
Die beiden Männer hasteten durch den Sturm, bis hinüber zum Grossmasten, unter dem sich ein ganzer Trupp Seeleute versammelt hatte.
„Wenn wir das Segel nicht sofort einholen, bricht der Mast und spaltet und das Boot glatt in Zwei“, rief einer aus der Menge.
„Aber jemanden hochzuschicken ist viel zu riskant“, wandte ein anderer ein.
Nach einem prüfenden Blick zum Segel sagte Jack bestimmt: „Wenn niemand hochgeht, bekommen wir richtige Probleme.“
Die Menge murrte. Wenn der Schiffszimmermann sowas sagte, dann stimmte es sicher. Dennoch machte niemand Anstalten, nach oben zu klettern.
„Niemand? Kommt schon Jungs! Wo sind eure Eier? Ist das euer erster Sturm?“
Einige schauten verlegen zu Boden, aber es half nichts. Keiner regierte.
„Wieso gehst du denn nicht selbst rauf, du Weichei?“, schrie einer.
Sein Nebenan stiess ihm den Ellenbogen in die Seite. „Weil er der einzige ist, der das Schiff hinterher wieder flottbekommt, du Depp.“
Ein lautes Knarzen, liess alle die Luft anhalten.
„Der Mast tut’s nicht mehr lang…“, setzt Jack einen weiteren Versuch an.
„Wisst ihr was, ihr elenden Landratten? Ich gehe.“
Überrascht drehten sich alle zum Peter um, der sich bereits das klitschnasse Hemd über den Kopf zog, und es achtlos beiseite warf.
„Bist du wahnsinnig?“, Jack hielt der Blonden am Arm fest.
„Wer soll das Schiff denn bitteschön steuern, wenn du jetzt draufgehst?“ Jack konnte nicht verhindern, dass er besorgt klang.
„Hör mir mal zu Junge, wenn niemand hochgeht, dann gibt es gleich kein Schiff mehr, das ich steuern könnte. Hast du doch selbst gesagt. Also entweder gehe ich hoch, oder wir sterben alle. Es wird sich schon jemand finden, der das Schiff lenken kann und im nächsten Hafen würdet ihr sicher auch einen Ersatz für ich finden. Ausserdem habe ich eigentlich nicht vor, draufzugehen, weil ich mein Leben verdammt noch mal mag!“
Mit diesen Worten ergriff er die Strickleiter und schwang sich empor.
„Verdammt!“, dachte Jack. Die Seile waren bei Regen extrem rutschig. Wenn Peter das überlebte, grenzte es an ein Wunder.
Die gesamte Mannschaft stand nur da, schaute zu.
„Los Peter! Du schaffst das!“, riefen sie im Chor.
Dem Mann stand die Anstrengung und Konzentration ins Gesicht geschrieben, als er sich auf der ersten Querstrebe langsam aufrichtete und eine Hand vom Mast löste.
Erneut krachte eine Welle gegen den Rumpf des Schiffes und Peters Welt geriet ins Wanken.
Krampfhaft klammerte er sich an ein loses Seil, bevor er sich weiter vorankämpfte.
Jack fühlte sich klein und hilflos, wie er da so auf dem Deck stand und nichts weiter tun konnte, als seinem Freund beim Kampf um Leben und Tod zusehen konnte.
„Verdammt!“, entfuhr es Peter, als er erneut abrutschte.
Verzweifelt suchten seine Hände etwas zu fassen, an dem er sich wieder hochziehen konnte, aber das Holz war viel zu glatt.
Blitze zuckten über den Himmel und der Donner grollte ihm laut in den Ohren. Halb lag, halb sass er auf der Querstrebe, konnte weder vor, noch zurück. Er hörte das Ächzen des Schiffes und das Flattern des Segels, aber sehen konnte er nichts.
Plötzlich schlossen sich Finger um seinen Fussknöchel und hielten ihn fest.
„Alles gut, Peter. Ich hab’ dich.“ Jack musste direkt hinter ihm stehen, aber der Wind trug seine Stimme davon und liess es klingen, als ob er weit weg wäre.
Als sich der Griff um sein Gelenk verstärkte, kam er in die Realität zurück. Langsam kroch er zu den Seilen nach draussen und begann, das Grosssegel einzuholen.
Drei Tage und drei Nächte dauerte der Sturm an. Drei Tage und Nächte, in denen keiner aus der Besatzung ein Auge zu tat.
Als der Sturm sich nach einer schieren Ewigkeit endlich verzog, fielen sie allesamt halb tot auf die Planken und schliefen auf der Stelle ein.
Als die Besatzung endlich wieder einsatzfähig war, behoben sie gemeinsam die grössten Schäden am Schiff und beklagten die beiden Mitglieder ihrer Mannschaft, die nach dem Sturm unauffindbar waren. Peter war der Held aller und stand mit stolz geschwellter Brust am Steuer der Black Fortune, als sie sich aufmachten, einen Hafen anzulaufen, um ihre Vorräte aufzufüllen und das Schiff wieder instand zu setzen.
Die Mannschaft war bester Laune, als sie von weitem einen Streifen Land sehen konnten. Es wehte ein kräftiger Wind, der sie schnell voranbrachte und das laue Wetter der Karibik tat das Übrige. Bei der Arbeit wurde kräftig geschwatzt und die Matrosen grölten ein Piratenlied nach dem anderen.
Im Hafen von Port Royal herrschte reger Betrieb und die Besatzung der Black Fortune hatte sich schnell unter die Kaufleute, Dienstmädchen, Trunkenbolde und Sklaven gemischt.
Fox spürte, wie Jacks Körper sich beim Anblick der Sklaven verkrampfte. Obwohl er schon seit Jahren frei und ein sogenannter Bukanier war, fühlte er sich nach wie vor schrecklich, wenn er seine ehemaligen Leidensgenossen, schwarz, halbnackt und angekettet, sah.
Peter, der das Schiff hinter ihm verlassen hatte, legte ihm eine Hand, sicher und fest, auf die Schulter. Er schien Jacks Vergangenheit zu kennen und der junge Mann entspannte sich sofort.
„Na Junge, lass und mal schauen, was die Stadt so zu bieten hat.“ Peter lachte und schlug Jack auf die Schulter.
„Klar doch, Steuermann.“ Auch der Dunkle musste grinsen.
Gemeinsam schoben sie sich in das Gedränge der Menge und liessen sich von den Eindrücken der Stadt verführen.