TRALLIEN
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»VERDAMMTES DRECKSPACK, macht dass ihr wegkommt!« Der korpulente Straßenhändler polterte hinter der Gruppe Kinder hinterher und warf mit Steinen nach ihnen. Körbe und Kisten mit Obst und anderen Kleinwaren waren umgefallen und verstreuten sich quer über den feuchten Asphalt. Erschrockene Schreie von Marktfrauen und Kunden erklangen und vermischten sich mit dem gehässigen Lachen der fliehenden Kinder, die in abgerissenen Kleidern steckten und von oben bis unten verdreckt zu sein schienen.
Der Tumult führte dazu, dass sich alle zu dem Geschehen umdrehten. Niemand bemerkte den mürrisch aussehenden jungen Mann in dem abgewetzten Umhang, der flink durch die Menschen huschte und schließlich in einer Seitenstraße verschwand. Er grinste, als er in ein leerstehendes Haus schlüpfte, die Treppe in den Keller hinunter sprang und in Thaleas Kanalisation abtauchte. Viele Abbruchhäuser hatten einen direkten Zugang zu den Katakomben unter der Stadt, in denen sich Ratten, anderes Ungeziefer und all die Menschen versteckten, die man in Thaleas Straßen nicht gern sah. Solche Menschen wie ihn.
Doch sicher waren sie hier unten auch nicht. Die Stadtregierung wollte die ganzen Krüppel, Straßenkinder und Obdachlosen loswerden und machte förmlich Jagd auf sie. Wer geschnappt wurde, landete in einem der vielen Arbeitshäuser der Stadt und musste schuften, bis er tot umfiel. Man wurde auf Karren geladen und dorthin geschafft, wo man billige Arbeitskräfte brauchte.
Der junge Mann wusste, dass viele seiner Kameraden in den Steinbrüchen der trallischen Berge landeten und dort bis zum letzten Atemzug ausgebeutet wurden, um Häuser und Paläste für die Adeligen des Landes zu bauen. Für die Armen interessierte sich niemand, sie wurden wie Kriminelle behandelt. Die Bewohner Thaleas wollten nicht, dass die »schmuddeligen Krüppel und Bettler« die Straßen verschandelten oder die Besucher der Stadt belästigten oder bestahlen. Besonders schwierig war es für die Kinder, die auf sich allein gestellt in den Gassen, Abrisshäusern und unter den Brücken und Unterführungen lebten. Niemand kümmerte sich um sie, sie wurden verscheucht wie schmutzige Hunde. Aber sie bevorzugten das harte Leben auf der Straße vor dem Leben in einem der vielen Waisenhäuser. Dort zu leben bedeutete nicht, dass man sicher war oder satt wurde. Auf der Straße jedoch war man frei, wenn man geschickt war oder Freunde hatte, die einen beschützten.
Der junge Mann eilte durch einen feuchten Tunnel und konnte die Stimmen seiner Kameraden bereits in einer der Nischen hören. Ein mattes Licht flackerte und ließ die steinernen Wände grünlich schimmern. Schimmel haftete an den Mauern und es roch nach modrigem Wasser.
Lachen begrüßte ihn, als er um die Ecke kam.
»Und, Remy? Wie ist die Ausbeute?« Ein zottelig aussehender junger Bursche mit unordentlichen Kleidern und dunkelblonden Haaren saß mit drei anderen zusammen auf einer alten Matratze vor einer Öllampe. Er wirkte in dem Licht noch schmutziger als normal, hatte Ringe unter den Augen und sah eingefallen aus. Sie hatten seit zwei Tagen nichts mehr gegessen. Die anderen Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen, kauerten sich zusammen. Sie hatten zuvor den fetten Straßenhändler abgelenkt und den Tumult ausgelöst. An der Oberfläche hatten sie gelacht, denn die Aufregung machte ihnen Spaß. Doch nun, hier unten in der feuchten Kälte der Katakomben sah man deutlich, dass sie nicht fröhlich waren. Sie waren erschöpft, müde und hungrig.
Der Angesprochene, Remy, grinste, nickte und leerte seine Taschen aus. Fünf Geldbeutel, eine Taschenuhr und ein paar einzelne Münzen fielen klingend zu Boden und die drei Kinder bekamen leuchtende Augen.
»Können wir heute Abend Brot kaufen?« Das Mädchen, die Kleinste in der Gruppe, war vielleicht neun Jahre alt. Ihr nussbraunes Haar war zu Rattenschwänzen geflochten, die sie unter einer Kapuze versteckte, denn in Thalea war es kalt. Sie sah am hungrigsten aus. Sie war erst vor einigen Wochen zu der kleinen Gruppe gestoßen, die aus Remy, seinem engsten Freund Loot und den beiden Jungen Regus und Nail bestand. Sie hatte zuvor in einem der Rattenlöcher gelebt, die man in Thalea Waisenhäuser nannte. Dort hatte sie jeden Abend etwas zu essen bekommen, was jedoch nicht viel gewesen war. Doch es war ein Unterschied, wenig zu bekommen oder gar nichts. Remy hob eine der Münzen auf und drückte sie dem Mädchen in die kalten Hände. Ihre Finger waren schmutzig und ihre Handschuhe bestanden mehr aus Löchern als aus Stoff.
»Hier, Karry. Das schenke ich dir. Davon kaufst du dir einen ganzen Laib Brot nur für dich. Das Geld wird für wenigstens eine Woche reichen. Wir sollten uns ein neues Lager suchen. Hier bekommt man ja die Schwindsucht.«
Loot, der neben Remy der einzige Erwachsene war, leerte die ledernen Geldbeutel und zählte die Münzen und Geldstücke. Er murrte und verzog den Mund.
»Sechs Taler und ein paar zerquetschte. Viel ist das nicht, wenn man bedenkt, dass die Leute auf dem Markt waren, um einzukaufen.«
»Wir waren zu spät dran. Die meisten hatten ihre Einkäufe längst gemacht. Aber wir können die Uhr verkaufen. Ich wette, Leow legt uns dafür einen Taler hin.« Remy hielt eines der Säckchen auf und Loot sammelte das Geld darin, nachdem er den beiden Jungen jeweils eine Münze zugeworfen hatte. In einer Gruppe sorgte jeder für jeden und so wurde auch die Beute geteilt. Remy als der Anführer verwahrte den Rest des Geldes.
»Ich hasse diesen fetten, alten Kinderficker«, knurrte Loot.
»Ich auch. Aber keiner sonst kauft unsere Beute. Und niemand tauscht das Ding gegen einen Sack Brot. Also …?«
Der dunkelblonde Loot nickte nur und man sah ihm die Erschöpfung deutlich an. Sie mussten alle mal wieder ordentlich schlafen. Doch Frieden hatte mal als Beutelschneider in Thalea nicht. Entweder sie flohen vor den Häschern der Stadtwache oder gerieten in Zwist mit anderen Gruppen, die nur zu überleben versuchten. Man schloss sich nicht in großen Gruppen zusammen, das machte einen anfälliger für Festnahmen. Man fiel zu schnell auf.
Remy dachte oft, wenn sich alle Krüppel, Bettler und Taschendiebe zusammenschließen würden, könnten sie den arroganten Bewohnern Thaleas, die sie am liebsten alle ausrotten würden, gehörig in den Hintern treten. Doch der König und seine Regierung würden einen solchen Aufstand niemals dulden. Sie würden alle sterben. Die Wachen machten keinen Unterschied, ob sie einen Erwachsenen mit ihren Knüppeln zusammenschlugen oder ein kleines Kind. Selbst vor jemandem wie der kleinen Karry würden sie nicht Halt machen.
Der junge Mann hasste das Leben in Thalea und doch war es alles, was er kannte. Er hatte die Stadt noch nie verlassen. Geboren war er jedoch in Lacuna, Tralliens Hafenstadt im Norden. Er glaubte oft, wenn er dort leben würde, wäre es vielleicht leichter. Er könnte zur See fahren oder eine gute Arbeit finden. Seine Mutter hatte Lacuna mit ihm verlassen, als er erst wenige Wochen alt gewesen war. Sie war vor ihrem gewalttätigen Liebhaber geflohen. Doch besser war es in Thalea auch nicht geworden. Weder für sie, die ihren Körper verkauft hatte, noch für ihren Sohn, der im Dreck der schmutzigen Arbeiterviertel aufwuchs und im Alter von fünf Jahren von seiner Hure von Mutter im Stich gelassen worden war.
Remy hatte niemals aufgehört, sie zu hassen dafür, dass sie ihn in einem Rattenloch abgesetzt hatte und ihn verließ, ohne sich zu verabschieden. Er hatte jahrelang gehofft, sie würde zurückkommen, hatte geträumt, dass sie zu Reichtum gekommen war und ihn abholte, um wie ein Prinz zu leben, der niemals wieder Hunger haben müsste oder frieren, weil seine Kleider zerschlissen waren.
Mittlerweile waren fünfzehn Jahre vergangen und er war erwachsen geworden, ohne dass sie zurückgekommen war. Heute würde sie ihn vermutlich nicht einmal mehr erkennen. Und es kümmerte sie offenbar auch nicht. Doch obwohl er nur Hass für sie empfand, konnte er noch immer nicht damit abschließen.
»Lasst uns die Nacht abwarten und in eines der Häuser in der Südstadt umziehen. Hier ist es zu nass. Ihr solltet alle etwas schlafen. Ich bleibe wach.«
Karry, das Küken der Gruppe, lehnte sich an Remy, der einen Teil seines Umhangs um sie legte und die beiden Jungs Regus und Nail, dreizehn und fünfzehn Jahre alt, rollten sich auf der alten Matratze zusammen. Alle hatten sie Hunger und waren erschöpft. Und jeder von ihnen hatte dringend mal wieder ein Bad nötig.
Der junge Mann lehnte sich an die kalte Wand und blickte in die Flamme der Öllampe, ohne wirklich etwas zu sehen. Seine Augen tränten durch die Helligkeit und das dumpfe, unheimliche Geräusch von fallenden Wassertropfen in Pfützen schallte durch die Tunnel.
Er fragte sich, ob sich das Leben irgendwann für sie ändern würde oder ob es ihr Schicksal war, wie Tiere zu hausen, ihr Essen zu stehlen und irgendwann wie ein ungeliebter Hund irgendwo im Rinnstein zu liegen, zu sterben und wie Müll entsorgt zu werden. Remy wusste, dass man Tote ohne Angehörige und ohne Geld einfach verbrannte. Wer es nicht bezahlen konnte oder niemanden hatte, der das tat, bekam kein hübsches Grab auf einem der Friedhöfe der Stadt. Man machte sich für arme Schlucker nicht die Mühe, eine Grube in den harten trallischen Boden zu treiben, wenn einem das niemand bezahlte.
Es kümmerte ihn nicht, was mit ihm geschah. Er hatte sein Leben bereits aufgegeben, für ihn war es zu spät. Er war durch sein Aufwachsen auf der Straße schon so verdorben, dass niemals mehr aus ihm werden würde als ein dreckiger, aber sehr talentierter Beutelschneider. Er konnte nichts, aber niemand bemerkte ihn, wenn er auf Diebestour ging. Die Leute sahen durch ihn hindurch, denn er war nur ein weiterer Streuner, der sich auf den Straßen herumtrieb und nichts zum Wohle Tralliens beitrug. Ein weiterer menschlicher Abschaum, den der König am liebsten in einem Arbeitslager sehen würde, damit sein Leben wenigstens einen kleinen Nutzen hatte.
Es gab einige wenige Bewohner Thaleas, die mildtätiger waren und Almosen gaben, zumindest an die Kinder. Doch die waren spärlich gesät. Und auch bei den Priestern des Solemtempels stieß man auf eine kalte Mauer. Es gab keine Barmherzigkeit in dieser Stadt.
Kein Wunder, dass es in Thalea nur so vor Dieben wimmelte. Diese Stadt war ein Dreckloch und die Wohlhabenden und wertvollen Mitglieder der Stadtgesellschaft scherten sich einen Fliegenschiss um hungernde Kinder, Kranke und Alte, die weniger Glück gehabt hatten und deswegen bettelten oder stahlen. Die ignorierten und beschimpften sie so lange, bis sie Opfer eines Diebstahls wurden. Dann schrien sie nach den Wachen und wollten Blut sehen.
Egal, ob es sich um das eines halb verhungerten Kindes handelte oder um das eines jungen Burschen.
Man wurde verdroschen und landete im Kerker der Stadtwache, um irgendwann abtransportiert zu werden. Hauptsache man verschwand aus der Stadt. Eine Kanalratte weniger war ein Erfolg für die Männer der Wache. Ihnen kam die Stadt gleich ein Stück sauberer vor. Und sie schreckten auch nicht davor zurück, Streuner im Namen der Ordnung einfach verschwinden zu lassen.
Das machte Remy am meisten Angst. Er fürchtete sich nicht, in ein Arbeitshaus zu kommen, doch er wollte nicht einfach erschlagen werden wie eine gewöhnliche Ratte. Und er wollte das auch nicht für seine Kameraden. Sie waren immerhin die einzige Familie, die er hatte.
Dumpfes Grölen hallte durch die Katakomben und ließ Remy aufschrecken. Er hatte vor sich hin geträumt und dabei die Zeit vergessen. Die Menge an Öl in der kleinen Lampe sagte ihm, dass Stunden vergangen sein mussten. Zeit, dass sie aufbrachen.
Sie mussten ein Lager finden, in dem es nicht so feucht war und sie brauchten etwas zu essen. Sie konnten nicht noch eine Nacht mit leeren Mägen schlafen gehen.
Remy schüttelte das kleine Mädchen sanft, die mit dem Kopf auf seinem Schoß lag. Diese murrte leise und schlug die Augen auf.
»Ist etwas passiert?«, murmelte sie.
»Nein. Aber wir müssen los. Hier können wir nicht bleiben, sonst sind wir morgen alle krank.«
Das Mädchen wischte sich über die Augen, während der junge Mann die anderen drei mit dem Stiefel anstupste.
»Aufstehen. Wir müssen gehen.«
Zerzaust räumte die kleine Bande dieses Lager und verstaute die wenigen Habseligkeiten in ihren Taschen. Loot nahm die rußende Öllampe und ging voran. Der Katakombentunnel war von unheimlichen Geräuschen erfüllt, man konnte das Plätschern von Wassertropfen hören, das unermüdliche Rascheln von Ratten, dumpfe Stimmen von Menschen, die irgendwo in den Tunneln hausten, Lachen von denen, die sich von dem Elend nicht den Tag versauen ließen. Remy schob die kleine Karry durch den Durchgang in das Abrisshaus und stellte fest, dass es tatsächlich bereits dunkel war, als sie in eine Seitengasse auf die Straße traten.
Gaslampen verströmten diffuses Licht und erhellten den feuchten Asphalt Thaleas, wenige Menschen waren auf den Straßen, doch man hörte die, die immer da waren. Sie waren in einem miesen Viertel der Stadt, es gab Tavernen und Freudenhäuser, Huren standen in den Gassen und Betrunkene wankten durch die Gegend.
Hier trauten sich selten die rechtschaffenden Menschen hin und wenn, dann nur bei Tageslicht. Doch für Menschen wie Remy war das normales Terrain. Hier trieben sich Zwielichtige herum, Menschen der Nacht, die unlautere Geschäfte abschlossen; Zuhälter, die ihre Huren auf die Männer losließen; Hehler, die Ware verkaufen wollten und Leute, die auf der Suche nach einem Opiumhändler waren. Man war eingespielt auf die Kontrollen der Stadtwache und es gab viele Wachmänner, die für ein paar Taler zusätzlich auch mal ein Auge zudrückten.
Remy hasste diese unehrlichen Büttel. Gleichzeitig waren diese ein Segen, da sie einen auch mal laufen ließen, wo andere einen einbuchten würden.
Der junge Mann nahm das kleine Mädchen an der Hand, als sie an einer Gruppe Betrunkener vorbeihuschten. Gewalt an anderen war an der Tagesordnung. Als Mädchen war man nachts auf Thaleas Straßen nicht sicher, egal wie alt man war. Und schon gar nicht in einem Viertel wie diesem. Durch die vielen Freudenmädchen wurde der Eindruck erweckt, dass jedes weibliche Wesen hier zum Kauf stand. Und Remy würde jeden umbringen, der Karry anfasste. Sie mochte ein kleiner, schmutziger Straßenstreuner sein, doch er wollte unter keinen Umständen, dass sie, wie so viele andere Kinder hier, ihren Körper gegen Geld anbot oder dass man ihr diesen mit Gewalt nahm. Sie war noch ein Kind und wenn es nach dem jungen Mann ginge, sollte sie das auch bleiben, so lange sie konnte.
Grölen schallte hinter der Gruppe her, doch Loot und Remy trieben die Kinder an, schneller zu gehen. Die beiden wollten keinen Ärger und die betrunkenen Männer machten den Eindruck, gerade sehr auf Streit aus zu sein.
Eilig huschten sie über Schleichwege, Abkürzungen und Hausdurchgänge durch die einfachen Stadtviertel, kamen an beleuchteten Fenstern vorbei, in deren Zimmern Menschen saßen, die mehr Glück gehabt hatten als sie, und erreichten schließlich das Südviertel. Auch dort gab es Tavernen für die einfachen Arbeiter und Handwerker, die von der besseren Gesellschaft der Stadt gern ignoriert oder wie ordinäre Dienstboten behandelt wurden.
Die Kluft zwischen Arm und Reich war in Thalea sehr tief und die Bessergestellten waren sehr elitär. Man bildete sich sehr viel darauf ein, wenn man zu Empfängen des Königshauses geladen wurde und ließ solche Dinge jeden wissen.
Remy stoppte vor einem alten, unbewohnten Haus. Es konnte noch nicht lange leer stehen, denn die Fenster waren noch von Vorhängen verhüllt, doch einige Scheiben waren bereits zerbrochen und die Stiege, die zur Haustür führte, knarrte unter ihren Stiefeln. Es war stockdunkel und mucksmäuschenstill, als der junge Mann die Tür öffnete. Es raschelte und ein leises Fiepsen ließ auf Mäuse schließen. Doch das war kein Problem. Mäuse waren keine Gefahr. Ratten waren aggressiver, doch die fand man viel häufiger, wenn man in den Katakomben unterwegs war.
»Das Haus ist leer. Hier können wir bleiben. Schaut euch um, ob ihr ein paar Decken findet. Nehmt aber nicht die Vorhänge. Es ist gut, wenn die Fenster verhängt sind.«
Die Kinder durchstöberten die einzelnen Räume des kleinen Gebäudes und Loot stellte die inzwischen erloschene Lampe ab.
»Hier gibt es einen Kamin. Was meinst du, machen wir ein Feuer?« Der dunkelblonde Mann rieb sich die kalten Hände und sah sich in dem Zimmer um, was man verbrennen könnte.
»Ich denke, ein kleines Feuer würde uns allen gut tun. Und Brot. Sorg' du dafür, dass wir hier eine oder zwei Nächte pennen können, ich gehe uns was zu essen besorgen.«
Loot nickte und begann, ein paar einfache Holzmöbel kaputtzubrechen, um sie zu verheizen. Remy verließ das Haus wieder und eilte durch die Straßen. Er kannte sich in dieser Stadt aus, kannte Ecken und Orte, die andere nicht kannten. Es hatte auch seine Vorteile, als Straßenkind aufzuwachsen. Er wusste, welche Bäckereien am Abend das übrig gebliebene Brot an Obdachlose abgaben, für wesentlich weniger Geld als man üblicherweise zahlen musste. Manche gaben altes Backwerk vom Vortag sogar unentgeltlich ab oder verteilten alten Kuchen an Straßenkinder. Doch diese Menschen waren ebenso rar gesät wie die, die Almosen in Form von Münzen abgaben und wurden von den Bewohnern, die sich für etwas besseres hielten, oftmals scharf kritisiert. Als wäre es besser, gute Lebensmittel eher wegzuwerfen als ein hungriges Kind oder einen bemitleidenswerten Krüppel zu füttern.
Remy trat in die Seitengasse, in der der Hintereingang einer kleinen Bäckerei lag und klopfte an die Tür. Es dauerte einen Augenblick, als sich diese langsam öffnete und das freundliche, runde Gesicht einer Frau zum Vorschein kam. Sie blickte in die Dunkelheit und lächelte, als sie das mürrische Gesicht des dunkelhaarigen Mannes erkannte.
»Remy«, sagte sie und trat einen Schritt aus der Tür.
»Frau Enid«, antwortete der Angesprochene höflich. Er kannte die Frau schon, seit er als kleiner Junge aus dem Waisenhaus ausgerissen war. Sie hatte immer ein Stück Brot für ihn gehabt, selbst wenn er kein Geld gehabt hatte, um dieses zu bezahlen.
»Du möchtest sicher etwas Brot?«
»Wenn du noch etwas für uns hast. Ich habe Geld.«
Die Bäckerin zog den jungen Mann in die Backstube und schloss die Tür. Sie wusste, dass Remy ein Taschendieb war, doch sie nahm es ihm nicht übel. Sie wusste, dass niemand einem Mann wie ihm eine Arbeit geben würde, da alle Vorbehalte hatten, er wäre unehrlich oder faul. Sie hingegen wusste, dass er es nicht war. Sie hatte ihn in der Vergangenheit öfter eingespannt, um Ware auszuliefern und ihr zur Hand zu gehen. Doch mittlerweile konnte sie es sich nicht mehr leisten, eine Aushilfe zu bezahlen. Sie war verwitwet, ihre Bäckerei nur klein und sie verdiente gerade genug für sich selbst. Sie wusste, dass Remy auch für einen kleinen Sack voll Brot arbeiten würde, doch das erschien ihr nicht gerecht. Sie hob allerdings immer etwas gutes Brot auf, für den Fall, dass er zu ihr kam und welches brauchte. Sie würde es ihm ohne Entgelt mitgeben, weil er ihr immer eine große Hilfe gewesen war, doch er bestand darauf, zu zahlen. Mit der Begründung, dass er in seiner Kindheit oft genug zu essen von ihr bekommen hatte, ohne einen Heller zu begleichen.
»Das weiß ich doch. Ich habe einige Laiber dunkles Brot zurückgelegt. Irgendwie hatte ich so im Gefühl, dass du heute kommst. Seid ihr gut untergebracht heute Nacht? Es soll regnen.«
»Ja. Wir sind ein paar Straßen weiter in einem der kleinen Reihenhäuser. Das Dach ist dicht, wir werden wohl trocken bleiben.«
Die rundliche Bäckerin wickelte mehrere kleine Brotlaiber in Tücher und schob sie in einen Leinensack. Sie band ihn zu und reichte ihn dem jungen Mann, der in seinen Taschen nach Münzen wühlte.
»Remy, du musst mir dafür kein Geld geben. Spar' es lieber. Einer von euch braucht doch sicher neue Schuhe oder ein paar neue Handschuhe oder dergleichen. Das Brot könnte ich morgen ohnehin nicht mehr verkaufen. Ich schenke es dir.«
Ein Lächeln erleuchtete das stets mürrisch dreinblickende Gesicht des jungen Mannes und seine Lippen verzogen sich in die Breite.
»Du meinst es gut mit uns. Du bist eine Seltenheit in dieser Stadt. Doch ich bestehe drauf. Oder hast du Skrupel, weil du weißt, dass das Geld gestohlen ist?«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Nein. Ich weiß immerhin, wie es euch geht. Na dann gib mir halt dein Geld und geh zurück. Ihr habt sicher alle ordentlich Hunger.«
Der junge Mann drückte der Frau eine kleine, silberne Münze in die Hand und nahm den Sack. »Danke, Enid. Für alles. Ich kann es nicht oft genug sagen.«
Die Bäckerin lächelte und ihre Wangen erinnerten Remy an einen reifen Apfel, wie er sie manchmal in den kurzen trallischen Sommern aus den Gärten der Reichen gestohlen hatte.
»Geh' jetzt wieder. Es ist spät.«
»Danke«, sagte Remy nochmal und ließ sich von der Frau wieder auf die Gasse schieben.
»Pass auf dich auf«, flüsterte sie ihm nochmal zu und schloss die Tür wieder hinter sich. Der junge Mann nahm den Sack mit dem Brot unter seinen Umhang und huschte durch die dunklen Straßen zurück zum Unterschlupf seiner Gruppe. Er hatte eine Stunde gebraucht, um Enids Bäckerei zu erreichen und beeilte sich nun, die Strecke in kürzerer Zeit zurückzulegen.
Doch es dauerte nicht lange, bis ihm laute Stimmen auffielen. Menschen liefen in dieselbe Richtung wie er und ihm fiel bald ein orangener Schein über den Dächern der anderen Häuser auf.
Ein mulmiges Gefühl breitete sich in seiner Brust aus, als die ersten Schreie nach »Feuer!« laut wurden. Er rannte schneller und es überkam ihn wie ein Schauer aus Eiswasser, als er die Flammen erblickte.
Eine stattliche Menge an Gaffern hatte sich versammelt. Einige hingen aus ihren Fenstern, viele blieben auf ihrem Heimweg stehen oder kamen aus Neugier angerannt, als sie die Schreie hörten. Remy durchbrach die Menge und scherte sich nicht um die wütenden Rufe derer, die er beiseite gestoßen hatte.
Fassungslos blickte er auf die Szenerie.
Das Haus, in dem er sich mit seinen Freunden vor etwas mehr als einer Stunde einquartiert hatte, stand lichterloh in Flammen. Einige Männer versuchten, Wasser heranzuschaffen, doch löschen war unmöglich. Sie konnten nur noch versuchen, ein Übergreifen des Feuers auf die angrenzenden Gebäude zu verhindern.
Remy schrie auf und rannte auf den Hauseingang zu. Waren sie heraus gekommen? Wenn ja, wo waren sie? Er rief die Namen seiner Freunde, doch hörte nichts weiter als das Röhren des Feuers, das gierig das hölzerne Gebäude verschlang. Er sah sich hektisch um und fand dennoch keinen Eingang in das Haus. Verzweifelt riss er die Arme hoch und schrie nochmals nach den Kindern und seinem besten Freund.
Er stolperte in der merkwürdigen Dunkelheit beinahe über den Körper, der ein Stück neben der Treppe lag, die in das Haus führte. Ein Röcheln ertönte, das Remys Ohren erreichte und dieser fiel auf die Knie, als er seinen Freund dort liegen sah.
»Loot! Oh ihr Götter, was ist passiert? Wer hat das getan?« Er ließ seine Hände über den Körper des Mannes wandern, um nach Verletzungen zu suchen, bis dieser aufstöhnte. Er zitterte stark und Remy spürte eine heiße und klebrige Substanz an seinen Fingern. Schockiert sah er im Licht des brennenden Hauses, dass es Blut war. Es war über die Brust des blonden Mannes in seine schäbige Kleidung gesickert. Remys Herz wurde kalt, als er die Stichwunde in Loots Brust ausmachte. Ein kleines, mit einfachsten Mitteln selbst gebasteltes Messer lag ein paar Meter weiter im Dreck, doch das Blut an der Klinge war deutlich zu erkennen.
»Die … die Kinder, Remy … sie … ich konnte sie nicht retten. Sie haben … sie wollten uns vertreiben.« Loots Stimme zitterte und Tränen liefen über seine Wangen. »Sie haben die Kleinen einfach … oh Gott … und dann haben sie … das Haus angezündet und …« Er hustete schwer und Blut sammelte sich in seinem Mund. Seine Zähne waren rot verfärbt und er war trotz des warmen Widerscheins des Feuers kreidebleich.
»Sie sind tot?« Remy flüsterte und eine Leere, wie er sie selten in seinem Leben erlebt hatte, breitete sich in ihm aus. Er war kein gefühlsbetonter Mensch und er hatte keine engeren Verbindungen, doch diese vier Leute waren seine Familie gewesen. Und nun … waren sie weg? Und sein bester Freund, der Mensch, der ihn am allerbesten auf der Welt kannte, der immer da gewesen war, schon als Remy noch ein verängstigtes Kind war, das von der Mutter verlassen wurde, lag nun hier auf dem Boden vor ihm und starb. Remy spürte, wie die Wärme aus dem Körper des blonden jungen Mannes wich und sein Atem rasselte.
»Wer war das, Loot? Wer hat das getan?«
»Ich … weiß es nicht. Ich kannte sie nicht … Ich hätte … auf die Kinder aufpassen müssen.«
»Es ist nicht deine Schuld«, murmelte der dunkelhaarige junge Mann und strich seinem Freund die verschwitzten Haare aus der Stirn. Loots Atem war unruhig und während andere Männer versuchten, die Flammen einzudämmen und andere drumherum standen und noch immer glotzten, war Remy ganz ruhig, hielt die Hand seines Freundes und fühlte nichts. Nichts außer der verschlingenden Leere und Gewissheit, dass er mit einem Schlag alles verloren hatte. Dass es nun niemanden mehr gab, dem er Brot mitbringen konnte, dass er niemanden mehr hatte, den er beschützen musste. Er hatte die kleine Karry, die ihn verehrte, nicht vor der Gewalt der Straße beschützen können, obwohl sie ihm vertraut hatte. Die beiden Jungen, Regus und Nail, sahen zu ihm und Loot auf und nun verbrannten sie in einem heruntergekommenen Haus, weil ein paar andere Obdachlose Anspruch auf das Lager erhoben hatten. Diese Welt, diese Stadt, war abgrundtief schlecht.
»Remy …«
»Ja?«
»Ich bin froh, dass wir Freunde sind.«
»Ich auch.« Die Stimme des jungen Mannes war leise und er konnte sehen, wie das Licht in den Augen seines Freundes immer matter wurde und schließlich erlosch. Die Spannung wich aus Loots Körper und seine Finger, die Remy umschlossen hielt, verloren ihren Druck.
Er war tot. Und Remy war allein. Wieder ganz allein in dieser Hölle, die sich Thalea nannte, in der Stadt der Diebe, die ihn gefangen hielt wie ein Käfig ohne Gitterstäbe.
Und nichts würde sich jemals für ihn ändern.