Schneeregen hatte Prinz Rowan beinahe bis auf die Wäsche durchgeweicht, als die Stadtmauern Thaleas am Horizont auftauchten. Er war fast zwei Tage durchgeritten, hatte seinen Hengst Agrippa kaum geschont und war nun ebenso erledigt wie das arme Tier. Wachen deuteten dem Prinzen an, vom Pferd zu steigen, als er durch das Stadttor galoppierte. Er zügelte Agrippa und stieg aus dem Sattel. Schnaufend trabte der Hengst neben seinem Herrn her, als dieser einem Wachmann seine Papiere zeigte.
»Willkommen in Thalea«, murmelte dieser und vermied es aus Gründen der Diskretion, den Titel des jungen Mannes zu nennen.
Prinz Rowan nickte mit einem Lächeln und nahm die Schriftstücke wieder an sich.
»Könnt Ihr mir ein sauberes Gasthaus nennen? Ich habe zwei Tage nicht geschlafen und mein Pferd braucht Ruhe.«
Der junge Mann in der Rüstung, die das Wappen Tralliens trug, beschrieb dem Prinzen den Weg. »Ihr müsst eine kleine Strecke zurücklegen, aber dort könnt Ihr sicher sein, dass die Betten sauber sind und das Essen gut ist.« Er notierte eine Wegskizze auf ein kleines Blatt Papier und reichte dieses dem Prinzen, der in seiner nassen Kleidung zu erschaudern begann.
»Gute Reise.«
»Danke Euch«, entgegnete Rowan, nahm die Skizze an sich und wandte sich in Richtung der Stadt.
Thalea präsentierte sich, während der Prinz mit Agrippa an der Hand durch die Straßen lief, düster und trostlos. Die schwer und trübsinnig wirkenden Gebäude aus grauem Stein stimmten ihn traurig, sie wirkten kalt und wenig einladend. Wo war der Charme der Orte hin, die er bislang zu Gesicht bekommen hatte? Wohin die hübschen Fachwerkhäuser mit den roten Dachziegeln, wohin die blühenden, winterharten Blumen an den Fenstern und die freundlichen Menschen, die Reisende grüßten?
Es mochte am stetig fallenden Regen liegen, doch die Bewohner dieser Stadt hatten alle den Kopf gesenkt und eilten aneinander vorbei, niemand befasste sich mit dem anderen. Und Rowan konnte Elend erkennen. Es kam ihm sehr viel vor, da er solche Anblicke – Obdachlose, die sich in Nischen zusammenkauerten; Krüppel, die in Ecken saßen und Leute anbettelten und schmutzige Kinder mit abgerissener Kleidung – aus Isara nicht in diesem Ausmaß kannte.
Es war deutlich zu erkennen, dass die herumlaufenden Winzlinge nicht zu jemandem der beschäftigt wirkenden Menschen auf der Straße gehörten. Diese verzogen nämlich angewidert die Lippen, wischten sich unbewusst über die Kleidung, wenn eines der Kinder sie streifte und keiften ihnen Unflätigkeiten hinterher. Rowan war es gewöhnt, dass es in einer Stadt lauter zuging. Und er war es auch gewöhnt, die Augen offen zu halten. Denn er war zwar verwundert über das Verhalten der Städter diesen herrenlosen Kindern gegenüber, doch er wusste auch, wovon diese lebten. Diebstahl war in einer großen Stadt an der Tagesordnung.
Bedrückt von der monotonen Erscheinung Thaleas folgte er der Wegbeschreibung. Sein Vater hatte ihm verschwiegen, wie schwermütig dieser Ort machte. Der Prinz schob es auf den kalten Regen, der sich in Gänsehaut auf seiner Haut niederschlug.
Agrippas Hufe waren auf den nassen Steinen laut zu hören und das Tier schnaufte noch immer unzufrieden.
»Gleich kannst du dich ausruhen«, murmelte Rowan dem Hengst ins Ohr und streichelte sein Maul. Die Menschen eilten an ihm vorbei und sahen nur hoch, um zu verhindern, mit dem schneeweißen Tier zusammenzustoßen oder Rowan anzurempeln.
Die Stadt war voll und es roch nach nassen Tieren und Unrat. Mülltonnen standen am Straßenrand, Katzen und Hunde streunten durch die Gassen, zusammen mit Straßenkindern und Menschen, die elend und abgerissen aussahen.
Rowan erreichte das angegebene Gasthaus nach einer gefühlten Ewigkeit, in der ihm das Wasser in den Kragen gelaufen war. Das Wirtshaus war groß und hob sich etwas von der grauen Masse der Häuser drumherum ab. Die Fassade war weiß getüncht und die Fensterläden grün lackiert. Blumenkästen hatte das Haus nicht und die Fenster zum Keller und Erdgeschoss waren vergittert. Das irritierte den Prinzen, der dies als Indiz für hohe Kriminalität ansah.
Warmes Licht schimmerte durch die sauberen Scheiben und zeigte an, dass drinnen die Lampen wegen des Regens entzündet worden waren, der das Tageslicht schluckte.
Er befestigte Agrippas Zügel an einem der Balken, die vor dem Gebäude angebracht waren und betrat das Haus. Ihm war nicht recht, sein kostbares Pferd draußen stehen zu lassen, doch er hatte keine Wahl, seit Sero in dem Dorf zurückgeblieben war.
Remy beobachtete den jungen Mann mit dem ockergrünen Umhang, der durchnässt und trotzdem noch nobel aussah, vom Eingang einer schmalen Seitengasse aus. Jeder, der ein solches Pferd ritt, musste ein Edelmann sein. Niemand hätte hier in dieser Stadt den Schneid, seinen Wohlstand so unverschämt zu zeigen. Zumindest nicht fernab der Gegenden, in denen die Reichen zuhause waren. Hatte sich der feine Herr verlaufen?
Oder hatte er den erstbesten Wachmann nach einem Gasthaus gefragt? Remy hatte noch nie in so einem Etablissement geschlafen. Es war Jahre her, seit er zuletzt ein richtiges Bett gehabt hatte, mit einem richtigen Federkissen, das nicht nach Moder roch oder voller Wanzen war.
Der Magen des jungen Mannes knurrte erneut und missmutig rieb sich Remy den Bauch. Er hatte seit Tagen nichts gegessen. Es waren zwei Tage vergangen, seit ein paar andere Obdachlose das Haus angezündet hatten, in dem seine Freunde sich versteckt hatten und diese darin umkamen. Zwei Tage, seit sein Kindheitsfreund in seinen Armen gestorben war. Und seitdem hatte er sich ruhelos auf den Straßen herumgetrieben, hatte kaum geschlafen und nichts gegessen. Er hatte das Brot, das er von Enid bekommen hatte, einer Gruppe Kindern geschenkt, ohne selbst etwas davon anzurühren.
Wenn er da gewesen wäre, hätte er den Tod seiner Freunde verhindern können. Er hatte nicht verdient, etwas von dem Brot zu essen, da die anderen auch nichts davon gehabt hatten.
Doch allmählich spürte er, dass es so nicht weitergehen konnte und bedauerte, nicht wenigstens einen Laib behalten zu haben. Er wollte nicht nochmal zu Enid gehen, sie hatte selbst kaum etwas. Er musste anders an etwas Essbares oder Bares kommen. Und er konnte deutlich die Gepäcktaschen sehen, die am Sattel des prächtigen, weißen Pferdes festgemacht waren.
Das Zaumzeug des Tieres war aus feinem, braunen Leder und hatte goldene Verzierungen. Dieser Bursche mit dem Umhang war sicher der Spross einer wirklich reichen Familie. Doch er stammte nicht aus Trallien. Das konnte Remy deutlich sehen. Trallier hatten meist einen dunkleren Teint, was von der Höhensonne kam. Dieser junge Mann mit dem Pferd aber war blass, hatte rosigere Haut, die Remy selbst unter dessen ordentlichem Bart hatte erkennen können. Und seine Augen waren heller als es bei Tralliern der Fall war. Sie waren blau. So sehr, dass der Taschendieb es sogar auf die Entfernung und durch den Regenschleier gesehen hatte.
Er war ein Fremder in dieser Stadt. Das konnte nur zu Remys Vorteil sein.
Der Regen hatte sich erneut verstärkt und durch die grauen Schleier waren Gesichter einzelner Menschen nicht mehr ausmachen. Sie eilten an dem jungen Mann vorbei wie Geister, konturlos und mit dem Gefühl, nicht wirklich da zu sein.
Remy, der sich die Kapuze über die schwarzen Haare gezogen hatte, nutzte dieses diffuse Licht und schritt zügig über die holprige Straße. Das Wasser der Pfützen plätscherte und es klatschte laut, als er mit den Stiefeln in diese trat.
Niemand nahm Notiz von ihm, als er an das Pferd trat. Der Hengst schnaufte leise und seine Zunge schnappte das Regenwasser auf, das ihm von der Nase tropfte. Er tänzelte, als er den jungen Mann an seiner Seite entdeckte, der versuchte, die Zügel von dem Balken zu lösen.
»Shhh«, flüsterte Remy. Er wollte das Tier wegführen, um in Ruhe die Taschen zu durchsuchen. Es war unwahrscheinlich, dass sich darin nicht etwas befand, das er vielleicht verkaufen konnte. Und selbst über ein sauberes Kleidungsstück wäre Remy nicht unglücklich. Doch in erster Linie hatte er Hunger und hoffte auf etwas Essbares. Hektisch und doch unauffällig blickte der junge Mann sich um, ob ihn nicht vielleicht doch jemand beobachtete. Es war gefährlich, ein so auffälliges Tier zu stehlen. In der Not dachte Remy allerdings nicht lange über die Konsequenzen nach. Er löste die Zügel und versuchte, das Pferd zum Laufen zu bewegen. Doch er hatte nicht mit der Sturheit des eleganten Hengstes gerechnet, der seine Beine steif machte, den Kopf zurückwarf und laut zu wiehern begann.
»Grah«, platzte Remy erschrocken heraus und versuchte, das Tier zu beruhigen. Der junge Mann hatte in seinem Leben noch nicht viel mit Pferden zu tun gehabt und kannte die Gemüter dieser Tiere nicht.
»Komm schon«, knurrte der Dieb und zog nochmals an den Zügeln, als er einen kräftigen Griff an seiner Schulter spürte.
»Glaubst du, mich bestehlen zu können?«, knurrte eine maskuline Stimme in das Ohr des jungen Mannes, der sich erschrocken umdrehte und in die blauen Augen des Edelmannes blickte, dem das Pferd gehörte. Er ließ die Zügel fallen und wollte stiften gehen, wie er es immer tat, wenn er erwischt wurde. Anders konnte er als Taschendieb in dieser Stadt nicht überleben.
Doch der Edelmann, der bei näherem Hinsehen nicht viel älter sein konnte als Remy selbst, hatte einen unerbittlichen Griff, packte ihn und warf ihn zu Boden auf das nasse Pflaster.
»Hier geblieben, du dreckiger, kleiner Dieb!«
Eine Kälte, die nicht von der Nässe kam, die durch Remys Kleider drang, breitete sich in dem jungen Mann aus. Es war Angst. Die Angst, dass der blauäugige Mann die Stadtwachen rief. Dass diese ihn in eines der dreckigen Löcher warfen, die sie in Thalea Kerker nannten. Dass sie ihn dort verrotten ließen, verhungern, verkommen in seinem eigenen Mist. Remy hatte Schreckliches gehört von jenen, die das überlebt hatten – doch das waren nicht viele gewesen. Geschichten von Gewalt, Hunger, Dreck, Ratten, Missbrauch, Tod.
Remy strampelte und wehrte sich. »Nimm' deine Finger weg!«, fauchte er und versuchte, die starken Hände, die ihn hielten, abzuschütteln.
»Nichts da! Niemand stiehlt mein Pferd.« Rowan stemmte sein Knie in den Rücken des Diebes, drückte diesen runter und rief nach den Wachen. Tatsächlich wurde sein Ruf gehört und zwei bewaffnete Männer in der trallischen Rüstung traten aus dem Gasthaus, in dem sich der Prinz erst vor wenigen Minuten einquartiert hatte. Sie mussten im Schankraum gesessen haben, denn er hatte sie zuvor nicht gesehen. Die beiden fackelten nicht lange, packten den am Boden liegenden Beutelschneider und zogen ihn grob nach oben. Dass der Junge unter dem harten Griff aufkeuchte, schien sie nicht zu kümmern.
Remy versuchte erneut, sich loszureißen, bereute es jedoch in derselben Sekunde, als einer der Wachen ihm hart in den ohnehin schmerzenden Magen schlug.
»Halt still, du Stück Dreck. Dich stecken wir in den Kerker, wo du hingehörst. Verkommenes Diebespack«, knurrte der Wachmann, der einen stattlichen Schnurrbart hatte.
»Danke, dass Ihr uns zu Hilfe gerufen habt, edler Herr. Man kann dieser Plage nicht anders Herr werden.« Der zweite Wachmann war noch ziemlich jung, mit unregelmäßigem Bartwuchs, aber besser genährt als der Junge, den sie zwischen sich festhielten.
Rowan betrachtete den Dieb, der versucht hatte, Agrippa zu stehlen. Er war groß und seine nassen, dreckigen und abgerissenen Kleider schlotterten geradezu um seinen mageren Körper. Er sah aus, als hätte er seit Tagen nichts mehr gegessen, denn die Wangen waren eingefallen, was trotz seines unordentlichen Drei-Tage-Bartes zu erkennen war, er hatte dunkle Schatten unter den braunen Augen und eine Narbe verunzierte seine linke Wange.
Der Blick, den der Dieb ihm zuwarf, war hasserfüllt, seine dichten Brauen ließen sein Gesicht düster erscheinen, doch der Ausdruck in seinen Augen zeigte auch noch etwas anderes. Rowan glaubte zu wissen, dass es Angst war. Niemand wollte gern in den Kerker.
Ein Teil von ihm bedauerte den Jungen, der sich dieses Leben sicher nicht ausgesucht hatte. Andererseits konnte Rowan nicht dulden, dass er in einem fremden Land bestohlen wurde, sein Pferd verlor oder andere Miseren passierten. Dass sich sein Knappe verletzt hatte, war schon schlimm genug.
»Verlangt Ihr nach Genugtuung, bevor wir ihn wegschaffen, mein Herr?«
Der Prinz zuckte unmerklich. Boten ihm die Wachen an, den gefangenen Jungen noch zusätzlich zu schlagen? In Isara wurden Diebe festgenommen und abgeführt, ohne weitere Gewalt auszuüben. Rowan wusste nicht, wie es in anderen Gefängnissen Annwyns ablief, doch er wusste, dass es in Isara geordnet zuging.
»Nein, danke. Ich denke, das wird nicht nötig sein. Es ist ja nichts weiter geschehen. Das Schlimmste konnte ich ja noch verhindern, der Raub kam nicht zustande. Ich danke Euch, meine Herren.«
Die Wachen nickten, packten Remy fester und zerrten ihn durch den Regen die Straße entlang. Der letzte Blick, den der Junge Rowan zuwarf, ließ diesen noch lange darüber nachdenken. Immer wieder schob sich das Gesicht in das Bewusstsein des Prinzen. Als er Agrippa in den Stall führte und in der Box absattelte und putzte, tauchte es immer wieder vor seinem geistigen Auge auf. Er konnte sich nicht helfen, doch er bedauerte den Jungen. Niemand wurde als Dieb geboren und nachdem, was er in dieser Stadt bereits gesehen hatte, wunderte es ihn nicht, dass man sich in der Not nicht anders zu behelfen wusste.
Es wurmte den Prinzen, dass er sich um einen gemeinen Straßendieb so viele Gedanken machte, der immerhin versucht hatte, sein kostbares Pferd zu stehlen. Doch er wusste auch, dass es in Kerkern nicht wie in Gasthäusern zuging; die Zellen waren klein, feucht, es stank, das Essen war schlecht – sofern man etwas bekam, man wurde mit vielen Menschen zusammengepfercht, es gab keine Hygiene, keine Sauberkeit und viele Krankheiten. Menschen, die nach einer Kerkerhaft wieder freikamen, hatten oft für den Rest ihres Lebens ein Trauma, nicht wenige waren dem Wahnsinn verfallen.
Er bedauerte, dass dies das Schicksal des Jungen war. Doch andererseits war es die gerechte Strafe für Diebstahl.
Seufzend legte Rowan seinem Hengst eine Fuhre Heu in den Stall, schloss die Box und ließ ihm seine Ruhe. Er hatte eine Rast ebenso nötig wie der Prinz selbst. Der wollte auch nur noch etwas Warmes essen, ein Bad nehmen und zu Bett gehen. Am morgigen Tag, nachdem er ausgeruht war, wollte er sich nach dem Weg zum Palast des Königs erkundigen.
Der Wirt wartete bereits mit einem ordentlichen Essen auf ihn. Rowan hatte es bestellt, bevor er Agrippa versorgen ging. Der Prinz ließ es sich schmecken und spürte, wie die Wärme die Kälte aus seinen Gliedern vertrieb, die auch noch in seinen feuchten Kleidern steckte.
Zweifelnd blickte er anschließend auf den leeren Teller. Der Junge hatte ihn vermutlich berauben wollen, weil er hungrig gewesen war. War Rowan zu voreilig gewesen, als er nach den Wachen rief? Hätte er ihm besser eine Münze geben sollen, damit er sich eine Mahlzeit kaufen konnte? Immerhin hatte er ihn ja nicht bestohlen, da Agrippa sich geweigert hatte, sich fortzubewegen.
Der Kronprinz seufzte, bestellte beim Wirt heißes Wasser für ein Bad und zog sich in sein Zimmer zurück. Er musste dringend ausschlafen, dann würde auch sein Kopf aufhören, ihn mit diesem Straßenkind zu belästigen.
Rowan lag erschöpft der Länge nach auf dem Bett in dem schlichten, aber sauberen Zimmer und starrte aus dem Fenster in den noch immer fallenden Regen. Es dämmerte bereits und er spürte die Erschöpfung wie einen Hammerschlag, als es an der Tür klopfte.
»Ja bitte?«, antwortete er matt und setzte sich auf.
»Wir bringen das Badewasser, mein Herr«, ertönte die Stimme eines Dienstmädchens und die Tür öffnete sich. Der Prinz bat die jungen Mädchen hinein, die beide große Eimer mit dampfendem Wasser trugen. Sie bereiteten den Zuber vor, der in der Ecke des Raumes stand, breiteten ein Tuch darin aus und gossen das Wasser auf.
Nach einer leichten Verbeugung ließen sie den Prinzen allein und schlossen die Tür hinter sich. Rowan drehte den Schlüssel im Schloss und tauchte die Hand in das Wasser. Es hatte die richtige Temperatur. Er fand Handtücher und Seife auf der kleinen Kommode. Schaudernd legte er endlich die klammen Kleider ab und hängte sie zum Trocknen vor dem kleinen Kamin auf, vor dem der Zuber stand.
Mit einer Lampe auf dem Kaminsims und einer Kerze auf dem Nachtschrank ließ sich Rowan schließlich nackt in das heiße Wasser sinken. Lang ausstrecken konnte er sich in der kleinen hölzernen Wanne nicht, doch die Wärme taute augenblicklich seine eiskalten Zehen auf. Er wusch sich nach Tagen das erste Mal wieder gründlich und verharrte solange in dem Zuber, bis das Wasser soweit heruntergekühlt war, dass es unangenehm wurde.
Müde ließ er sich nach dem Abtrocknen nur in einer einfachen Unterhose bekleidet in das Bett sinken. Das Wasser konnten die Dienstmädchen auch am Morgen noch ausleeren. Er löschte das Licht und starrte noch eine Weile in das glimmende Kaminfeuer, bevor die Strapazen der letzten zwei Tage ihren Tribut forderten und er in einen bleiernen Schlaf fiel.
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Seufzend lehnte sich der junge Mann an die feuchte Wand, die nach Moder roch. Es tropfte irgendwo und eine widerliche Pfütze am Boden war von Ungeziefer bevölkert und machte so deutlich, dass es kein Wasser war. Remy zitterte stark und wischte sich über die schmerzende Nase. Blut blieb an seinem nassen Mantel kleben. Die Wachen waren der Meinung gewesen, dass er nur eine Sprache, nämlich die der Gewalt und Schläge, verstünde, als sie ihn in das Wachhaus schleppten, das an ein Kerkergewölbe anschloss.
Sie sperrten ihn ein wegen Diebstahls. Obwohl Remy mit seiner Beute gar nicht weg gekommen war. Es kümmerte die Wachleute nicht, ob er auf frischer Tat ertappt worden und somit am Vollzug seiner Straftat gehindert worden war. Er war schließlich nur ein schmutziger Straßenköter, den es aus dem Verkehr zu ziehen galt. Was hatte er sich auch erlaubt, einen betuchten Besucher der Stadt bestehlen zu wollen.
Remy fror jämmerlich in seiner regendurchtränkten Jacke und die Kälte des Kerkers konnte dies nicht besser machen. Stöhnen und Jammern hallte durch die dunklen Flure, viele Menschen harrten hier ihres Schicksals, lagen auf Matten aus altem Stroh, in ihrem eigenen Dreck und vergammelten Essensresten, die man schon nicht hatte genießen können, als es das erste Mal zu den Gefangenen gebracht worden war. Ratten trippelten über den kalten Stein und fraßen sich fett an Exkrementen, altem Brot oder Leichen, die man noch nicht weggeschafft hatte.
Es stank schrecklich nach abgestandenem, modrigem Wasser, Schimmel, Kot und Tod. Schreien tönte in Remys Ohr und er wollte gar nicht wissen, warum der Mann so jämmerlich schrie. Vermutlich hatten die Wachen ihn grün und blau geschlagen, ihm Knochen gebrochen oder ihm Wunden zugefügt. Etwas, das auch ihm selbst blühen konnte, wenn die Langeweile groß war.
Matt blickte Remy durch die eisernen Gitterstäbe auf den von Fackeln erleuchteten Gang. Er konnte und wollte nicht glauben, dass er den Rest seines Lebens hier versauern sollte. Lieber wollte er sterben, als sich hier von Ratten bei lebendigem Leibe auffressen zu lassen.
Müde zog er die Knie an die schmale Brust und bettete sein Kinn darauf. Er war erschöpft und vollkommen durchgefroren. Er war noch nie in seinem Leben so hungrig gewesen wie just in diesem Moment und der einzige Trost schien zu sein, dass er verhungert sein würde, bevor die Wachen in ihrer Langeweile kommen würden und ihm ein Leid zufügen könnten.
Was hatte er getan, um dieses Schicksal zu verdienen? Hatte er in seinem vorigen Leben etwas getan, um die Götter zu erzürnen, auf dass sie ihn nun mit diesem Elend straften? Vielleicht hätte er Thalea verlassen sollen, als er noch die Gelegenheit dazu gehabt hatte, hätte versuchen sollen, sich auf dem Land durchzuschlagen. Er hätte sicher irgendwo eine Arbeit gefunden, ein Auskommen, mehr Frieden als hier. Was hatte ihn hier gehalten? Stumm seufzte er. Loot und seine Freunde waren sein Anker gewesen. Sie kannten doch nur dieses Leben.
Und nun hockte er hier, auf kaltem Stein, in einer Vorhölle, wie sie schlimmer nicht sein könnte, inmitten von menschlichem Abschaum, Sterbenden, Triebtätern, Mördern und anderen, die so waren wie er, einfache Diebe, die nur um das nackte Überleben kämpften.
Er schreckte hoch, als ein lautes, metallisches Klingen an den Gitterstäben seiner Zelle erklang. Er hatte nicht gemerkt, dass er eingeschlafen war und als er sich nun streckte, schmerzte sein Rücken und seine Beine waren taub. Er spürte seine eiskalten Finger nicht und sein Kopf tat weh.
Der Wachmann vor der Zelle schlug nochmals mit dem Schlagstock gegen die Gitter und brüllte los, als Stimmen aus umliegenden Zellen laut wurden.
»Haltet die Schnauze, dreckiges Pack. Steh' auf, Straßenköter«, keifte er und drosch nochmals auf das Metall ein.
»Durch den Krach werde ich auch nicht schneller wach, Mann!«, knurrte Remy und erhob sich wackelig.
»Auch noch frech werden, du dreckiger Dieb? Wenn ich könnte, würde ich dir schon zeigen, wo dein Platz ist. Doch offenbar meint es jemand gut mit dir. Mehr als du verdienst.«
Der junge Mann verstand nicht, worauf der Wachmann hinaus wollte und trat an die Gitterstäbe. »Wovon redest du?«
»Oben ist so ein edler Dummkopf, der hat uns fünf Goldstücke für deine Dienste angeboten. Ich weiß nicht, ob du seine Hure sein sollst, aber das kümmert mich auch nicht. Entweder du gehst mit ihm oder du vergammelst hier.«
Remy sprach die Überraschung aus dem Gesicht. Ein Edelmann hatte diese unvorstellbare Summe für ihn geboten? Er hatte noch niemals eine Goldmünze gesehen und nun sollten gleich fünf für ihn gezahlt werden? Wer konnte so viel Geld besitzen?
»Ich bin ein freier Mann und kein Sklave!«, sagte er jedoch trotzig.
»Du bist ein dreckiger Straßenköter, dem kein Hahn hinterher kräht, wenn ich dich auf der Straße totschlage! Geh' mit dem Mann und diene ihm, oder ich sorge dafür, dass du der nächste bist, der auf dem Platz aufgehängt wird.«
Der junge Mann starrte dem schmierigen Wachmann in der dreckigen Uniform grimmig entgegen. Er hasste es, wenn man ihn so von oben herab behandelte und würde dem Drecksack am liebsten die Nase brechen. Doch er wusste, würde er es versuchen, würde er sich vermutlich nur selbst verletzen. Der Wachmann war wohlgenährt und kräftig, fast schon fett. Während er selbst seit drei Tagen keinen Happen gegessen hatte und sich fühlte, als hätte er keinen Funken Kraft mehr in seinen Knochen. Also nickte er nur und der Wachmann schloss die Zellentür auf.
»Bleib' hier stehen«, knurrte er und erst jetzt merkte Remy, dass der Mann nach Fisch stank. Ganz widerlich, doch der Bauch des jungen Beutelschneiders fing dennoch vor Hunger zu schmerzen an. Ihm wurden schwere Ketten angelegt, damit er nicht doch noch floh und der Wachmann schubste ihn grob den Gang entlang. Hinter den Gittern der anderen Zellen konnte Remy nur wenig erkennen, doch was er sah, widerte ihn an und erfüllte ihn zugleich mit Hass, Gram und Mitleid.
Die Inhaftierten streckten dem Wachmann ihre dreckigen, schrundigen und verschorften Hände durch die Gitter entgegen, klagten, bettelten. Ein Mann in vollkommen zerfetzten Kleidern hockte in einer Ecke neben der Gittertür und masturbierte, scheinbar ohne die Menschen um ihn herum zu bemerken. Sein Blick war verhangen, er hatte ganz offensichtlich den Verstand verloren. In einer anderen Zelle lag eine Leiche, die bereits verfärbt war, so lange war dieser Häftling bereits tot. Fliegen stoben auf, als Remy und der Wachmann vorbeigingen.
»Wie wäre es mal mit Saubermachen?«, fragte der junge Dieb zynisch und kassierte einen harten Schlag auf seine Schulter.
»Schnauze, sonst stecke ich dich in diese Zelle und sage dem Kerl da oben, du bist in der Nacht verreckt!«
»Aber das Geld behältst du natürlich, ist klar. Und ich werde Dieb genannt.« Ein weiterer Schlag ließ Remy verstummen und er schlurfte erschöpft die steile Treppe hinauf. Grob schubste der Wachmann ihn weiter, ohne Rücksicht auf sein Gleichgewicht zu nehmen.
Sie traten in einen kargen Raum, der jedoch warm war, was Remy sofort spürte. Ein zweiter Wachmann saß an einem überladenen Schreibtisch voller Papiere und Pergamentrollen und der Kamin loderte hell und heiß. Es roch auch in diesem Zimmer nach gebratenem Fisch, die Wachleute hatten ganz offensichtlich erst vor Kurzem ihr Mittagessen zu sich genommen. Der junge Dieb spürte, wie sich sein Magen zusammenzog und ihm speiübel wurde. Er schwankte deutlich und der Wachmann musste ihn festhalten, damit er nicht fiel.
»Ist das der Junge, den Ihr meintet, Eure Hoheit?«
In der Ecke stand ein hochgewachsener Mann am Fenster und blickte in den verregneten, grauen Himmel. Durch die Stimme des Wachmannes aufmerksam gemacht, drehte er sich um und Remy erkannte den Nicht-Trallier, den er noch am Tag zuvor – oder war es länger her? - hatte bestehlen wollen.
»Du?!«, presste Remy hervor und kassierte einen harten Hieb des Wachmannes.
»Etwas mehr Respekt, du Mistkröte.«
Rowan hingegen ignorierte den Kommentar des Jungen, betrachtete ihn von oben bis unten und nickte dann. Remy starrte ihn noch immer an, doch sein Kopf tat schrecklich weh und das helle Feuer stach in seinen Augen. Der Hunger schadete allmählich merklich seinem Körper. Er sah dem jungen Mann mit dem gepflegten Bart ins Gesicht und fragte sich, ob er sich eingebildet hatte, dass der fette Wachmann ihn »Hoheit« genannt hatte.
»Ja, das ist er. Er sieht aus wie jemand, der zupacken kann, wenn man ihn nur richtig antreibt. Ich brauche für meine Reise einen tüchtigen Knappen.«
»Der Bengel sieht, mit Verlaub, eher so aus, als könne er keinen Zahnstocher zerbrechen.« Der Wachmann schüttelte den jungen Dieb, der zunehmend schwankte und blass geworden war.
»Das ist nichts, was man mit einer ordentlichen Mahlzeit nicht wieder hinbekommt. Nun Junge, bist du bereit, mir zu dienen?«
Remy blickte den gut gekleideten Mann, der erneut den ockergrünen Umhang aus weicher Wolle trug, von unten herab an und nickte. Er hatte noch vor wenigen Stunden gedacht, dass es besser für ihn wäre, Thalea für immer hinter sich zu lassen. Wenn er nun die Gelegenheit dazu bekam, würde er es tun. Solange dieser Mann keine komischen Dinge von ihm verlangte. Andererseits hatte der einen anderen Ausdruck im Gesicht als die beiden Wachmänner. Er zeigte keine Spur von Abscheu, seine Augen wirkten sogar freundlich.
»Gut. Ich bin Kronprinz Rowan von Annwyn und ich brauche einen fleißigen Knappen, der mir zur Hand geht, mindestens solange ich in diesem Land bin«, sprach er an Remy gerichtet, der unmerklich die Luft anhielt, und richtete sich dann an den Wachmann, der den Jungen festhielt, »wie vereinbart, überlasst Ihr ihn mir für fünf Goldmünzen und ich kann ihn sofort mitnehmen, richtig?«
Der Angesprochene nickte und nahm das Geld entgegen, was der Prinz ihm aushändigte. Remy schwankte und die Ketten, die ihn hielten, klirrten, als er nicht mehr an sich halten konnte und sich würgend auf den abgewetzten Teppich erbrach. Es kam kaum etwas raus, nur Schleim und etwas Blut, doch der Wachmann brüllte erzürnt und schlug ihm ins Gesicht. Der Junge stürzte und blieb keuchend liegen, weil er sich aufgrund seiner gefesselten Hände nicht aufrichten konnte. Der fette Mann setzte zu einem Tritt an, der jedoch nicht erfolgte, da der Prinz ihn hart an der Schulter packte.
»Hört sofort damit auf! Er steht in meinen Diensten und ich werde nicht zulassen, dass Ihr ihn weiter misshandelt. Hat er, während er hier war, denn überhaupt etwas zu essen bekommen? Oder einen Schluck Wasser?«, zürnte Rowan, stieß den Wachmann beiseite und zog den geschwächten Remy auf die Füße.
»Nein, Eure Hoheit. Er kam als Gefangener. Er hätte heute Abend etwas Brot und Wasser bekommen, wie die anderen auch.«
»Die Zustände in Eurem Gefängnis schockieren mich ganz ehrlich. Den Gestank aus den Katakomben kann selbst der Geruch nach Gebratenem hier drin nicht übertünchen. Erhebt noch einmal die Hand gegen meinen Diener und ich fordere Eure Entlassung.« Rowan hatte die Brauen wütend zusammengezogen und starrte dem dicken Wachmann kühn entgegen. Dieser sah nicht minder wütend aus, da er es offenbar nicht liebte, von einem fremden Prinzen gerügt zu werden. Doch er nickte schließlich und Rowan forderte, dass man Remy die Handschellen abnahm.
»Fünf Goldmünzen für mich, mein Herr?«, murmelte der junge Mann schließlich, als sie draußen auf der Straße standen. Es regnete noch immer, doch der Himmel hatte sich gelichtet. Die höfliche Anrede, die der Junge gebrauchte, klang unehrlich und sarkastisch, als weigere er sich, Rowan nur wegen dessen königlicher Herkunft als seinen Herrn anzusehen. Auch oder besonders, weil dieser ihn praktisch gekauft hatte.
»Ich wollte auf Nummer Sicher gehen. Die Gier der Menschen kennt keine Grenzen und soweit ich weiß, ist Sklavenhandel in Trallien ebenso verboten wie in meinem Land. Also auch Geld für jemanden zu bieten, der nicht seinen Körper verkauft. Mir war jedoch fast klar, dass die beiden dich ganz ohne Richterurteil herausgeben würden, sobald ich sie sah. Fett und gierig.« Der Prinz verzog missmutig den Mund, was Remy aus einem unerfindlichen Grund amüsierte. Es freute ihn, dass ein Angehöriger eines fremden Königreiches die Zustände in Thalea zu Gesicht bekam und nicht die Augen davor verschloss. Doch vermutlich hatte dieser edle Schnösel dies bereits wieder vergessen, sobald er wieder zuhause in seiner rüschigen, gemütlichen Welt war.
»Und du brauchst einen Diener wofür genau?«
»Eins vorweg: Ich bin dein Herr, nicht dein Freund. Ich erwarte, dass du mich entsprechend anredest. Entweder mit Königliche Hoheit oder Herr, nicht mit Du. Verstanden? Und zweitens hast du mir deinen Namen nicht verraten.«
Der junge Mann knurrte. »Natürlich, Eure Hoheit«, er spuckte es förmlich aus. »Und mein Name ist Remy. Remy Grambag.«
»Nun denn, Remy. Als erstes gehen wir in mein Gasthaus und du bekommst etwas ordentliches zu essen. Dann werden wir neue Kleider und ein Pferd für dich besorgen und das Wichtigste: Du wirst baden. Du wirst mir sicher nicht verübeln, wenn ich es sage, doch du stinkst ganz erbärmlich!«