Gierig schlang der Junge seinen Teller leer, stopfte sich den Mund mit Brot voll und musste beinahe würgen, weil er nicht richtig schlucken konnte. Doch das kümmerte ihn nicht. Remys Hunger war so groß, dass er nichts um sich herum bemerkte. Er schlang, er leerte seinen Becher, ohne zu bemerken, dass es sein neuer Herr, Prinz Rowan von Annwyn, war, der diesen immer wieder auffüllte und neues Brot bei dem Wirt orderte. Er hörte nicht einmal, dass der Prinz lachte, während er ihn beim Essen beobachtete.
»Du wirst dich übergeben, wenn du nicht langsamer isst.«
Remy knurrte wie ein Hund und biss in ein weiteres Stück Brot. »Und wenn schon ...«
Rowan lachte wieder. »Dann wäre all das Essen hier umsonst gewesen und du würdest dich elend fühlen. Du musst nicht so schlingen. Du wirst in Zukunft keinen Hunger mehr haben, wenn du mir gute Dienste leistest.«
»Wo willst du hin? Mein Herr ...« Das letzte wurde wieder geknurrt, bevor Remy weiter aß.
»Ich werde es dir erzählen. Später. Nicht hier, sondern wenn wir ungestört sind. Iss auf, ich muss einen Händler aufsuchen.«
Remy öffnete bestürzt die Augen ein Stück weiter. »Schon? Aber … ich …«
»Ich sagte doch, du wirst keinen Hunger mehr leiden. Mach dir keine Sorgen, ich sorge für meine Leute.«
Bedauernd wischte der junge Mann den Teller mit einem Brotrest sauber und schob es sich anschließend in den Mund.
»Und du … Ihr wollt ein Pferd kaufen? In Thalea? Ich glaub ja nicht, dass die Märkte hier dafür geeignet sind.«
Rowan leerte seinen eigenen Becher und betrachtete den abgerissenen und dreckigen Jungen vor sich, der aussah, als hätte er das letzte Mal vor einem Jahr gebadet. Seine dunklen Haare waren zottelig und unordentlich geschnitten, sie starrten vor Dreck und standen in alle Richtungen ab. Seine Haut wirkte fleckig, was auch vom Schmutz herrührte und die Narbe in seinem Gesicht wäre sicher sauber verheilt, wenn man sie behandelt hätte. Sie war nicht wulstig oder allzu auffällig, doch man sah sie deutlich. Seine Kleidung war abgetragen, an manchen Stellen grob geflickt, dreckig und der Junge roch muffig, modrig, was sicher auch der ungemütlichen Nacht in dem stinkenden Kerker geschuldet war. Er roch schlichtweg ungewaschen und Rowan würde ihn notfalls mit Gewalt in einen Badezuber stecken. Bei seinem Geruch wunderte es den Prinzen gar nicht, dass Agrippa, der eigentlich sehr friedlich war, sich geweigert hatte, sich von ihm wegführen zu lassen.
»Nun, du bist der Einheimische. Zeig mir, wo ich einen guten Handel mache. Wenn du nicht zu Fuß mit mir reisen möchtest.«
Remy blickte dem Prinzen ungebrochen in die blauen Augen. Eine Handlung, die diesen gelinde gesagt sehr beeindruckte. Es geschah äußerst selten, dass jemand, der aus einer geringeren Gesellschaftsschicht kam, jemanden wie Rowan so ansah. So selbstbewusst, dass es beinahe dreist war. So als ob Remy dem Kronprinzen sagen wollte, dass er ihn nicht als etwas Besseres ansah, nur weil er in einer Königsfamilie geboren worden war.
»Es gibt da wen. In deinen … gottverdammt, Euren Augen ist er sicher nicht gerade seriös, aber seine Tiere sind stark und gesund. Normalerweise verkauft er Pferde und Vieh an Schlachthöfe …«
Rowan sah einen Moment überrascht aus. Ein Händler, der Schlachtvieh verkaufte, sollte gute Reitpferde anbieten?
»Du weißt sicher, dass ich ein starkes Tier suche, das mit Agrippa mithalten kann?«
»Aber ja, mein Herr«, entgegnete Remy frech. »Ihr werdet sicher ein gutes finden. Ausdauernd sollte es sein, oder? Der Kerl hat starke Pferde. Allerdings nicht so schick wie … Eures.«
Der Prinz neigte den Kopf mit einem leichten Lächeln. »Es scheint dir nicht zu gefallen, mein Pferd?«
»In 'ner Stadt wie Thalea sieht man so was sonst nicht. Es traut sich keiner, Reichtum so offen zu zeigen …«
»Wegen Leuten wie dir?«
Remy grinste leicht. »Unter anderem.«
»Ich werde dich für deine Art zu leben nicht verurteilen. Doch versuch' nie wieder, mich zu bestehlen!«
»Wenn ich nach Euren Worten gehen kann, sollte das in Zukunft ja nicht mehr nötig sein, oder?«
Rowan nickte. »Arbeite gut für mich und ich werde dich mit Essen versorgen und bezahlen.«
Der junge Dieb erhob sich und putzte sich die Brotkrümel von dem abgetragenen Mantel. Er deutete eine Verneigung an, die man auch als spöttisch erachten hätte können und blickte dem Prinzen stolz in die Augen.
Rowans unerklärliche Bewunderung für die fast verachtend gleichgültige Art des Jungen wuchs noch an. Es beeindruckte ihn zunehmend, einmal auf einen Menschen zu treffen, der ihm nicht nach dem Mund redete, sondern der deutlich machte, dass man sich seinen Respekt erst verdienen musste. Sicher konnte Rowan diesen auch einfordern, denn er war ein Prinz, ein Thronanwärter, ein Vertreter der höchsten Gesellschaftsschicht in Numantia und Remy war nichts weiter als ein dreckiger Straßendieb, der keine Familie, keinen Namen, keinen Rang hatte. Doch er hatte Stolz und er war selbstbewusst. Eigenschaften, die ihn vielleicht stärker machten als Rowan es war.
Der Prinz erhob sich ebenfalls. »Nun denn, zeige mir diesen ominösen Viehhändler.«
Fasziniert folgte Rowan dem schmuddeligen Remy durch die engen Gassen. Er führte ihn an Orte, die er bei einem normalen Ritt durch die Stadt niemals zu Gesicht bekommen hätte und die man einem Gast unter formellen Umständen sicher auch niemals gezeigt hätte. Remy leitete den Prinzen durch Seitenstraßen voller krumm zusammengezimmerter Holz- und Blechhütten, in denen angerissene und schrecklich verdreckt und erbärmlich aussehende Kinder hausten.
Ein junges Mädchen, vielleicht zwölf Jahre alt, hielt Rowan am Ärmel fest und lächelte ihn an, als er stehen blieb. Sie war von Kopf bis Fuß dreckig, sie hatte Erde in den Haaren und der Prinz konnte Ungeziefer darin sehen. Ihre Zähne waren schlecht und einige fehlten.
»Hallo du. Für ein Kupferstück ziehe ich mir den Rock über den Kopf und du darfst mich ficken.«
Rowan machte unwillkürlich einen Schritt zurück, der Schock stand ihm ins Gesicht geschrieben, dass ein Kind ihm ein solch furchtbares Angebot machte. Sah er aus wie einer dieser Männer, die gern Kinder in ihre Betten holten? Ein krächzendes Geräusch blieb ihm im Halse stecken, als Remy die Hand des Mädchens wegschlug und ihr eine Ohrfeige verpasste.
»Verschwinde hier! Wir haben keine Zeit für deinen Unfug.« Er zog den noch immer sprachlosen Prinzen weiter.
»Dreht Euch nicht um, Herr. Man kann diesen Kindern nicht helfen. Sie haben sich bereits aufgegeben, wenn sie ihren Körper an Fremde hergeben.«
»Das ist … das Schlimmste, was ich je in meinem Leben erlebt habe«, presste Rowan heraus und lockerte seinen Kragen. »Das sind kleine Kinder und die … bieten sich einfach so an?«
»Ja. Gibt es keine Huren in Annwyn?«
»Freilich gibt es die. Doch Kinder? Nein. Die Stadtwachen in Isara sperren jeden ein, der sich außerhalb eines Bordells auf den Straßen befindet und anbietet. Das ist nicht erlaubt.«
Remy lachte kurz und hart auf. »Offiziell gibt es in Thalea auch keine Nutten. Ja nicht einmal Freudenhäuser. Und trotzdem ist jeder vierte hier auf der Straße jemand, der sich verkauft.«
»Du auch?«
Ein kurzer Blick aus Remys dunklen Augen traf den Prinzen. »Nein. Ich halte meinen Arsch nicht für einen reichen Geldsack hin, der mich wie ein Stück Abfall behandelt und danach wie welchen wegwirft. Ich bin bisher gut ohne so was zurecht gekommen. Verkaufen muss sich nur jemand, dem das Talent zum Stehlen fehlt.«
Auf einer lichteren Straße angekommen atmete Rowan tief durch. In den engen Gassen hatte es fürchterlich nach Unrat, Urin und toten Mäusen gerochen. Und nach dem jammervollen Elend der Menschen, die diese ihr Zuhause nannten.
»Nun ja, letzthin hat dich dein Talent augenscheinlich auch im Stich gelassen, nicht wahr?«
»Das lag an der Sturheit Eures Pferdes. Wenn ich nur den Sack vom Sattel geschnitten hätte ...«, knurrte der junge Dieb.
Rowan ließ seinen Blick über die Häuserzüge wandern. Thaleas Gebäude waren aus Granit und Holz gebaut, grau und kalt. Ein Eindruck, den das feuchte und pfützenbewehrte Pflaster nur noch verstärkte. Und sie befanden sich ganz offensichtlich nicht in der besten Gegend. Arbeiter vertrödelten ihre Zeit in Hauseingängen und heitere, billige Musik ertönte auf der Straße, als die Tür zu einer Taverne aufgestoßen wurde. Armut war hier allgegenwärtig und niemand schien einer wirklichen Betätigung nachzugehen. Auf den Gehwegen stapelten sich Kisten mit Unrat und Haushaltsabfällen und der Rinnstein quoll über vor verdrecktem Regenwasser.
»Sag, ist das Wasser immer so dreckig, wenn Regen gefallen ist?«
»Ja. Es gibt Brunnen überall, doch wenn es regnet, sind sie voller Sand. Und die Männer der Stadtwache kümmert es nicht, wie dreckig alles ist. Es interessiert hier niemanden, wenn in diesen Vierteln Seuchen ausbrechen.« Remy lachte bösartig. »Es tut mir leid, Eure Hoheit, doch das ist die Realität, in der unser König uns leben lässt. Ihr hättet sicher lieber die schicken Prachtstraßen gesehen, doch die Wahrheit ist das hier. Ist es in Eurer Stadt anders?«
Rowan nickte bestürzt. »Ja, ist es.«
»Dann hat Euer Volk einen guten König. Wir hier haben dieses Glück nicht. Kommt, da vorn ist der Stall des Viehhändlers und der Schlachter.«
Bereits am Geruch nach feuchtem Heu, Pferdemist und Verwesung hatte Rowan ausmachen können, dass sie ihr Ziel annähernd erreicht haben mussten. Auch vor dem Gebäude, in dem einem Schild nach ein Schlachthaus untergebracht war, standen Tonnen und Kisten mit verrottendem Unrat herum. Der Prinz konnte Fellreste und Knochen darin entdecken, an denen noch Fleischbröckchen hingen. Ratten taten sich gütlich und scheinbar lauerten auch ein paar Bettler auf ihre Chance, etwas aus diesem verseuchten Müllberg zu stehlen. Rowan merkte, dass ihm der Magen schwer wurde und wusste, dass er garantiert unter keinen Umständen etwas essen wollen würde, was in diesem Schlachthaus getötet und verarbeitet worden war.
»Ich nehme an, es gibt hier auch keine Stadtreinigung?«
»Doch. Aber nur einmal die Woche. Solange steht das Zeug vor den Häusern und fängt an zu stinken. Schaut nicht so, Prinz. Ihr werdet Euch daran gewöhnen«, spottete Remy, der diese intensiven Gerüche bereits sein ganzes Leben lang in der Nase hatte.
»Ich hoffe, das muss ich nie. Führe mich zu diesem Händler, auf das wir hier schleunigst wieder wegkommen.«
»Euch sind noch niemals die Schattenseiten des Lebens begegnet, oder? Schmutz, Not, Gestank, Armut …?«
Rowan fühlte, wie er bei dieser Frage ein schweres Herz bekam. Der Junge hatte Recht. Er wusste, dass es Leid in der Welt gab, doch er hatte noch niemals Zustände wie in Thalea gesehen. Er wusste, dass es auch in Isara Viertel gab, die nicht dem hübschen Bild der Stadt entsprachen, die Viertel der Gerber, Färber und Tuchmacher, in denen es nach Tod, Chemikalien und Färbemitteln stank, doch ihm war niemals bewusst gewesen, wie schwer der Gestank menschlichen Elends sein konnte.
»Nein. Und ich bin beschämt deswegen.«
»Ihr seid ein Prinz. Versucht Euer Glück, unseren König zu einem Gesinnungswechsel zu überreden.«
»Wie sollte mir dies zustehen?«
Remy zuckte salopp mit den Schultern. Er hatte kein Wissen über Politik, doch er glaubte, dass alle Adligen offen miteinander über solche Dinge sprechen konnten.
»Das weiß ich nicht. Ihr seid der erste Adlige, der sich je dazu herabgelassen hat, mit mir anders zu reden als zu einem Hund.«
»Warum sollte ich auch? Du bist ein Mensch wie ich es auch bin. Doch es steht mir nicht zu, deinen König zu kritisieren. Ich habe keine Macht in diesem Land und auch mein Vater, König Marek, nicht. Ich bin nur Gast hier. In die Innenpolitik eingreifen zu wollen, könnte als Affront verstanden werden. So weit kann und darf ich also nicht gehen.«
»Habt Ihr vor, den König in seinem Palast aufzusuchen?«
Rowan nickte und ließ sich von Remy die schwere Tür zu einem Hof öffnen, auf dessen festgetretenem Lehmboden fette Hühner herumliefen. Der Platz war vollgemüllt mit Gerümpel, doch dem Federvieh schien sein Abenteuerspielplatz zu gefallen.
»Sofern Seine Majestät mich empfängt.«
Remy zuckte erneut mit den Schultern, trat an eine verblichene rote Holztür und schlug mit der Faust dagegen. Es ertönte das dunkle und dumpfe Bellen eines Hundes, was den Jungen deutlich zusammenzucken ließ. Er trat zügig hinter den Prinzen, als die Tür sich öffnete und der Kopf eines riesigen Bluthundes zum Vorschein kam, dicht gefolgt von einem fetten Mann mit einer blutigen Schürze. Ein unangenehmer Geruch drang aus der geöffneten Tür und der Mann wischte ein Messer an einem schmutzigen Lappen ab.
»Ja? Remy!« Die raue, dröhnende Stimme wirkte freundlicher als der Mann aussah und er schob den großen Hund ins Haus zurück, bevor er die Türe zumachte.
»Verzeih, ich habe heute morgen eine stattliche Kuh zur Schlachtung bekommen. Was führt dich her, Junge?«
Der junge Dieb atmete erleichtert durch, was den Prinzen zu der Erkenntnis brachte, dass Remy sich vor Hunden fürchtete.
»Das ist Prinz Rowan von Annwyn und er sucht ein gutes Pferd. Da ich weiß, dass die Händler auf dem Markt nur schwächliche Tiere aus Inzucht anbieten, brachte ich ihn zu dir, Folgar.«
»Ein Prinz, hm?« Der Metzger namens Folgar betrachtete den gut gekleideten jungen Adligen mit dem sauberen Umhang, der reinen Haut und den strahlenden, hellen Augen einen Moment und nickte dann.
»Ich denke, ich habe da ein paar schöne Tiere, Eure Hoheit. Gesund und stark. Keine wilden Jungtiere mehr, sondern arbeitserprobt und genügsam. Solltet Ihr nicht vorhaben, irgendein edles Pferderennen oder einen Schönheitswettbewerb gewinnen, werdet Ihr hier fündig werden. Folgt mir bitte.«
Der kräftig beleibte Mann ging voran zu einem weiter hinten befindlichen Gebäude, das nach Heu und warmem Pferdedung roch. Ein Geruch, den Rowan mochte und als heimelig empfand. In der Tat war der Stall innen wie außen sauberer als es die Straße vor dem Schlachthaus erahnen ließ. Andererseits konnte man Pferde und andere Tiere nur gut verkaufen, wenn man zuvor gut für sie gesorgt hatte.
»Tretet ein, Eure Hoheit. Ich habe momentan sechs gute Pferde, die von ihren Besitzern abgegeben wurden, um sie zu schlachten. Wenn jemand sein Tier nicht mehr halten kann, geschieht es leider oft, dass gute Viecher eher an einen Schlachter verkauft werden als an einen neuen Halter.«
Rowan und Remy betraten den warmen Stall und leises Schnauben und Wiehern empfing sie. In den Boxen standen sie, sechs Pferde der unterschiedlichsten Fellfarben, aber alles keine Rassetiere. Keines konnte es mit Agrippas Eleganz aufnehmen, doch sie wirkten gesund und zufrieden.
»Ich brauche eines, das ausdauernd laufen kann, lange Strecken durchhält und sanften Gemütes ist. Ich besitze bereits einen Schimmel aus dem Süden und möchte Machtkämpfe vermeiden. Ein Wallach wäre daher gut.«
»Diesbezüglich kann ich Euch beruhigen. Die Hengste habe ich alle eigenhändig kastriert, sie sind sehr sanft. Die beiden Stuten dort sind etwas launischer.«
Rowan nickte und betrachtete die Tiere genau. Er untersuchte jedes einzeln, strich über das Fell, begutachtete die Zähne, den Zustand der Hufe, die Gelenke, die Muskulatur. Der Metzger und auch der junge Dieb konnten erkennen, dass Rowan etwas von Pferden verstand.
»Ich würde sagen, dieser hier ist wohl am geeignetsten. Wisst Ihr in etwa, wie alt dieser Wallach ist?« Der Prinz stand neben einem kräftigen Friesen, dessen Fell so schwarz wie Agrippas weiß war.
»Sein Halter brachte ihn mir vor drei Wochen. Er soll an die vier Jahre alt sein, wurde mir gesagt. Seht Ihr das anders, mein Herr?«
»Nein, er hat sehr gute Zähne, gute Farbe. Das ist ein gutes Zeichen. Wäre es möglich, ihn auf dem Hof ein paar Runden laufen zu lassen?«
Der Metzger führte das Pferd auf den Hof und Rowan ließ es laufen. Schließlich nickte er und wandte sich an Remy.
»Nun, da du in der Stadt aufgewachsen bist, muss ich dich fragen: Kannst du reiten?«
Der junge Mann zog die dunklen Brauen hoch. »Aber natürlich, mein Herr. Ich bin der verstoßene Sohn eines unbekannten Königs, habe mein Leben lang nichts anders getan als reiten und lebe dieses erbärmliche Leben, weil es mir Spaß macht. Natürlich kann ich es nicht!«
Rowan zog verärgert die Stirn in Falten. »Diesen Spott wirst du dir abgewöhnen, solange du für mich arbeitest. Und ein einfaches Nein hätte mir auch gereicht … nun denn, dann wirst du es lernen müssen. Gibt es hier in der Stadt eine Trainingswiese?« Rowan wandte sich wieder an den Metzger.
»Nein, mein Herr.«
»Dann reiten wir eben aus der Stadt ins Feld. Ich kann keinen Knappen mit mir führen, der nicht reiten kann. Das hat bei meinem letzten dazu geführt, dass er sich das Bein gebrochen hat, als er aus dem Sattel fiel. Sagt mir, wo kann ich Sättel und Zubehör kaufen?«
Folgar nannte ihm andere Händler und sie feilschten um den Preis für den pechschwarzen Wallach. Remy stand zweifelnd daneben und betrachtete das große Tier misstrauisch.
Sicherlich war es nicht so beängstigend wie ein Hund, doch nicht minder Ehrfurcht erregend. Und auf dem Rücken dieses Riesen sollte er reiten?
Er hörte nicht bewusst, dass das Tier für eine Gold- und fünf Silbermünzen den Besitzer wechselte, erst der Handschlag holte Remy in die Gegenwart zurück.
Der Prinz hatte mehr für seine Dienste als für das Tier gezahlt!
Der Metzger band dem Wallach ein einfaches Zaumzeug um und drückte dem verunsicherten Remy die Zügel in die Hand.
»Hier Junge. Da dein Herr ihn offenbar für dich gekauft hat. Versorg ihn gut und gib ihm einen Namen. Sein Vorbesitzer hatte ihn als Zugtier für den Wagen genutzt, nicht zum Reiten. Er hat also keinen.«
Der junge Dieb wurde von einem sonderbaren Gefühl erfüllt, das er nicht kannte. Auch wenn das Tier streng genommen natürlich Prinz Rowan gehörte, da der es bezahlt hatte, hatte er es für ihn gekauft. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Remy etwas, das ihm gehörte. Das ihm zur Nutzung und zur Pflege überlassen wurde. Etwas so kostbares wie ein gutes Pferd.
»Vielen Dank, guter Mann. Das war ein guter Handel. Ich verabschiede mich«, verneigte sich Prinz Rowan in seiner königlichen Höflichkeit vor dem dicken Metzger, bevor er mit seinem Diener und dem neuerworbenen Pferd im Schlepptau den Hof wieder verließ.
»Gut, wir brauchen für dich noch einen passenden Sattel, Zaumzeug, eine Pferdedecke, damit er Sattel nicht scheuert und Satteltaschen für Proviant. Folgar nannte mir einige Händler, die ich ohne deine Hilfe jedoch nicht finden werde. Führe mich also, bitte.«
Remy, der es nicht gewöhnt war, dass jemand Bitte und Danke zu ihm sagte, nickte nur und sie setzten ihre Einkaufstour fort.
Der junge Dieb nahm ächzend auf einem Stuhl im Schankraum Platz und rieb sich die Beine. Er war es nicht gewöhnt, den ganzen Tag herumzulaufen und schwere Dinge zu tragen. Sein neuer Herr hatte das erworbene Pferd mit allem Nötigen ausgestattet und es sich dann nicht nehmen lassen, neue Kleidung für Remy zu kaufen. Er war der Ansicht gewesen, dieser bräuchte neue Schuhe, eine Jacke und wenigstens ein sauberes Hemd und Unterwäsche. Damit hatte der Prinz auch Recht, aber Remy kam sich dennoch dumm dabei vor. Sie hatten das Pferd mit allen Einkäufen beladen, was dieses ohne Klagen ertragen hatte und der junge Dieb hatte bereits nach wenigen Stunden begonnen, das Tier liebzugewinnen. Es hatte sich ohne Ärger zu machen von Remy führen lassen, unabhängig von dessen Geruch, der den Hengst von Prinz Rowan so hatte ausflippen lassen.
»Was hast du, Remy? Du bist schon erschöpft? Ich dachte, Männer wie du sind den ganzen Tag auf den Beinen?«
»Schon, aber das artet nicht in Arbeit aus. Wir streifen herum, klauen und suchen uns ein sicheres Versteck. Wir schleppen keine Pakete quer durch die Stadt …«
Der Prinz zog seine dunklen Augenbrauen hoch. »Auf der faulen Haut liegen wirst du in meinen Diensten nicht können, das sage ich dir gleich.«
»Ich sträube mich nicht vor Arbeit. Ich bin nicht faul! Ich bin es nur nicht gewöhnt.« Der junge Mann streckte seinen Rücken und die Knochen knackten leise.
Rowan betrachtete den mageren Jungen, während dieser seine Verspannungen zu lösen versuchte. Er war nur Haut und Knochen, Rowan konnte es selbst durch seine schäbige Kleidung erkennen. Sein Mantel war ihm zu groß, die Weste und das schmuddelige Hemd saßen locker um seinen Brustkorb und das speckige Halstuch bedeckte einen dürren Hals. Seine dünnen Beine füllten die Hose nicht aus und der Bund fiel locker um seine Hüften. Trüge Remy keine Hosenträger, würden die Beinkleider bei jedem Schritt auf seine Knöchel hinab fallen.
»Nun gut, für heute Abend sind wir fertig, die Tiere stehen versorgt im Stall und die Erledigungen sind getan. Wir werden ein gutes Abendessen haben und dann wirst du baden. Dein Geruch wird immer schlimmer.«
Rowan nahm an einem der etwas privater liegenden Tische Platz und der Junge folgte ihm.
»Ich bitte um Verzeihung, dass ich nicht nach Rosen rieche, mein Herr. Mein Diener hat mein Badewasser verschlampt«, knurrte Remy und blickte dem Prinzen stolz entgegen.
»Es liegt nicht in meiner Absicht, dich zu beleidigen. Ich bringe nur die Fakten auf den Punkt. Ein Bad und ein paar frische Kleider werden dafür sorgen, dass du dich wie neu geboren fühlst.«
»Und was bringt dich, nein, Euch dazu, das für mich zu tun? Ihr habt mich wie einen gemeinen Unfreien von ein paar dreckigen Wichsern gekauft, wenn ich Euch erinnern darf und mich den ganzen Tag zur Arbeit angetrieben.«
Rowan schmunzelte. »Ich gestehe, das war nicht die übliche Art, wie ich meine Diener anstelle. Ich frage dich hiermit offiziell, ob du mir dienen willst. Mir loyal zur Seite stehst und dafür in Lohn und Brot bist. Was sagst du?«
Remy setzte sich, nachdem Rowan ihm mit der Hand andeutete, dass er Platz nehmen konnte.
»Lohn und Brot?«
»Ausreichend Essen, eine Unterkunft, Kleidung und auch etwas eigenes Geld. So läuft das in Annwyn und ich würde dich zu diesen Bedingungen als meinen Knappen in Dienste nehmen. Ist das in Ordnung für dich?«
»Na ja, ich habe ja heute schon für Euch gebuckelt und Ihr habt mir eine richtig gute Mahlzeit gekauft. Ich schätze, ich könnte es schlimmer treffen, als für Euch zu arbeiten, oder? Doch … ist es nicht üblich, dass nur Söhne adliger Familien einem Prinzen dienen?«
Rowan lächelte leicht. »Ja, das ist üblich. Doch ich brauche einen fleißigen Begleiter. Mich kümmert deine Herkunft nicht.«
Remy betrachtete den Prinzen mit hochgezogenen Augenbrauen. Dieser Mann entsprach nicht dem Bild eines verwöhnten Reichen, wie er es immer gehabt hatte. Er war nicht herablassend oder blickte ihm mit diesem verachtenden Ausdruck im Gesicht an, den alle Reichen auflegten, wenn sie einen armen Menschen sahen, der schmutzig war oder sie um ein paar Münzen bat. Er behandelte ihn wie einen ganz normalen, gleichgestellten Menschen. Der ihn zwar genaugenommen gekauft hatte, aber ihn dennoch zuvor gefragt hatte, ob er in seinen Diensten stehen wollte.
Remy fragte sich, was geschehen würde, wenn er Nein sagen würde. Vermutlich würde der edle und ach so freundliche Prinz dann doch etwas ungehalten werden. Hätte Remy im Kerker Nein gesagt, würde er wohl noch immer dort hocken oder vermutlich schon verreckt sein. Der Junge schmunzelte etwas.
»Ich nehme die Aufgabe an. Auch wenn es mir nicht gefällt, Euch zu hofieren. Ich bin nicht gewöhnt, jemanden respektvoll anzusprechen. Bei uns geht es direkter zu.«
Rowan zog die Braue hoch. »Du hofierst mich? Du bist der frechste Bengel, der mir je untergekommen ist, du zeigst kein bisschen Anstand einem Prinzen gegenüber und erweist mir nicht den Respekt, der mir von Geburt her zusteht. Doch ich nehme dir das nicht übel. Von mir aus sei wie du es immer warst. Es ist erfrischend, einmal auf jemanden zu treffen, der mir nicht in den Hintern kriechen will, nur weil ich zufällig als der geboren wurde, der ich bin.«
Remy lachte leise. »Solltet Ihr Euch jetzt nicht den Mund auswaschen, Prinz?«
»Es wird schon so gehen. Ich habe eine jüngere Schwester, die würde selbst dir noch die Schamesröte ins Gesicht treiben. Ich werde uns jetzt Braten ordern und jede Menge Bier. Mir ist heute danach.«
Rowan hatte die Angestellten des Gasthauses darum gebeten, eine weitere Liege in sein Schlafzimmer zu stellen sowie reichlich Badewasser vorzubereiten. Er war sich sicher, dass sein neuer Diener etwas mehr davon brauchen würde. Und er hatte darum gebeten, dessen Kleidung zu waschen. Sie mochte abgetragen sein, doch gewaschen machte sie sicher noch einen brauchbaren Eindruck.
Remy war von dem vielen Essen träge geworden. Es war eine unglaubliche Umstellung für ihn. Nachdem er jahrelang um jeden Bissen Brot hatte kämpfen müssen, hatte er durch Prinz Rowan nun zweimal an einem Tag gut gegessen. Es war das erste Mal, dass der junge Mann völlig gesättigt war und keinen Bissen mehr herunterbekommen hätte. Außerdem hatte er noch niemals zuvor guten Braten und wirklich frisches Gemüse zu essen bekommen.
»Du wirst jetzt baden und dann gehen wir zu Bett. Der Tag war anstrengend und deine letzte Nacht sicher auch nicht sehr erholsam, richtig?«
Remy nickte und erschauderte bei dem Gedanken an das Elend in dem Kerker. »Dort in den Zellen lagen Leichen, die seit Tagen tot waren und die Luft vergifteten. Und niemand scherte sich darum.«
»Bei Solem …« Rowan schüttelte den Kopf und zeigte dem Jungen das Zimmer.
Tatsächlich war wie gewünscht ein zweites, einfaches Bett in eine Ecke des Raumes gestellt worden, mit einer sauberen Decke und einem ordentlichen Kissen. Saubere Tücher lagen auf dem Beistelltisch neben dem Badezuber sowie ein unbenutztes Stück Seife.
Remy blickte sich in dem bescheidenen Zimmer um, betrachtete im Licht der entzündeten Öllampe die Gegenstände auf der Kommode, die kleine Uhr in einem geschnitzten Holzgehäuse, das Himmelbett, in dem Prinz Rowan schlafen würde, den Teppich, auf dem der Zuber stand. Er roch an der Seife und berührte die Tücher mit den Fingern.
»Die Seife, mit der sie uns im Waisenhaus geschrubbt haben, roch wie Hundescheiße. Diese hier riecht gut, nach einer Blume oder so.«
»Es ist Lavendel. Das beruhigt die Nerven und die Haut.«
»Und ich darf die benutzen?« Der Junge hatte lange nicht mehr in einem Zimmer geschlafen, das intakte Fenster hatte oder einen sauberen Kamin, in dem ein angenehmes Feuer loderte. Er hatte als Kind im Waisenhaus in einem Raum gewohnt, in dem noch dreißig andere Jungen untergebracht waren, die Betten standen dicht an dicht und es wimmelte nur so vor Bettwanzen, Flöhen und anderem Ungeziefer. Jeder hatte sich gekratzt, viele Jungen hatten wunde Stellen gehabt und waren von Viechern zerbissen gewesen. Auch Remy hatte solche Bisse, die heute noch immer als Narben zu sehen waren.
»Natürlich darfst du das. Dafür ist sie da.«
»Danke. Und das Bett da ist für mich?«
Rowan lachte und entzündete weitere Kerzen. »Ich möchte dich nicht unbedingt in meinem haben, wenn noch ein zweites zur Verfügung steht, das sicher ebenso gut ist.«
Der junge Mann nickte und legte seinen Mantel ab. »Ich hatte lange kein richtiges Bett mehr und das Schlafen im Waisenhaus war auch selten erholsam, weil man ständig von Ungeziefer gebissen wurde.«
»Wie lange lebst du schon auf der Straße?«
»Meine Mutter hat mich in einem dieser Rattenlöcher abgesetzt, als ich fünf war. Irgendwann hab ich gemerkt, dass es egal ist, ob ich dort oder auf der Straße lebe. Wir wurden geschlagen für die lächerlichsten Kleinigkeiten, die Hexenweiber von Pflegerinnen haben uns dann das Essen gestrichen und wir wurden mit Nachthemden ins Bett geschickt, die voller Flöhe waren. Ich war schon früh geschickt darin, anderen ihre Geldbeutel zu stehlen, also bin ich irgendwann einfach abgehauen und schlag mich seitdem auf der Straße durch. Damals war ich vielleicht … neun. Ich weiß es nicht mehr genau.«
Rowan machte ein unbestimmtes Geräusch. Dass Kinder aus Waisenhäusern im allgemeinen keine sehr rosige Kindheit hatten, wusste er, denn es war in Isara nicht anders. Und dass auch nur wenige in guten Familien unterkamen oder gar adoptiert wurden. Die meisten verließen die Einrichtung irgendwann, wenn sie zu alt wurden, um eine Arbeit anzunehmen, andere waren behindert oder verkrüppelt und starben. Viele verschwanden auch und waren dann wie vom Erdboden verschluckt. Niemand kümmerte sich um ein verlorenes Waisenkind. Sie waren unsichtbar und unwichtig.
Es wunderte den Prinzen nicht, dass Remy ein solches Talent zum Stehlen hatte. Auch er wurde von den Leuten einfach nicht beachtet. Es war wie ein Blick in den Spiegel für Rowan, diesem Jungen gegenüber zu stehen, der sein ganzes Leben lang kämpfen musste, während er selbst seine Kindertage mit Reiten verbracht hatte, mit Fischen, Lernen, Spielen. Wie es jedes Kind tun sollte. Wie viel Glück Rowan gehabt hatte, während Remy solches Pech hatte ertragen müssen. Sonderbar, wie der Zufall ihrer Geburt ihre Leben so unterschiedlich hatte verlaufen lassen können.
»Wie alt bist du? Weißt du das?«
Remy lachte hart. »Ich bin nicht so dumm, Prinz. Im Oktober werde ich einundzwanzig.«
»Ich habe nichts von dumm gesagt. Nur weiß ich, dass die Waisenhäuser es mit Papieren nicht so genau nehmen. Es hätte ja sein können, dass deine Geburt nicht verzeichnet wurde.«
»Ich wurde in Lacuna geboren und die ersten fünf Jahre meines Lebens hat meine Mutter mir jedes Jahr einen kleinen Kuchen gekauft, wenn ich Geburtstag hatte. Deswegen weiß ich das so genau.«
Ein Klopfen an der Tür unterbrach das Gespräch der beiden Männer und Rowan ließ die Dienstmädchen hinein, die das bestellte Badewasser brachten. Sie füllten den Zuber und stellten einen weiteren Eimer Wasser daneben, um nachzugießen.
»Danke, meine Damen. Würde eine von euch einen Augenblick warten, damit ich die Schmutzwäsche mitgeben kann?«, fragte der Prinz die Mädchen. Diese nickten und während zwei die Treppe wieder hinunter stiegen, wartete die dritte. Rowan schloss die Tür und deutete Remy an, in den Zuber zu steigen.
Der junge Mann begann ohne große Scham, sich aus seinen schäbigen Kleidern zu schälen und warf sie achtlos zu Boden. Rowan beobachtete den Jungen einen Moment dabei und sein Verdacht, dass er spindeldürr war, bestätigte sich. Er konnte deutlich die Rippen Remys zählen und sein Bauch wirkte eingefallen, wie der eines Menschen, der knapp dem Hungertod entkommen war.
»Dich werde ich aufpäppeln. Du siehst aus wie ein Skelett!«, befand der Prinz nach einem kurzen Blick, nahm die Kleider des Diebes und leerte dessen Taschen. Viel war nicht darin. Ein kleines Taschenmesser, ein paar lumpige Münzen und ansonsten nur Schmutz.
»Ich bin kein vernachlässigter Welpe, Hoheit. Und hört auf, mich so anzuglotzen«, knurrte Remy und ließ sich zögerlich in das heiße Wasser sinken. Rowan konnte deutlich sehen, dass eine Gänsehaut über den ausgemergelten Körper von Remy glitt. Der Prinz reichte die verdreckten Kleider nach draußen, um sie dem Dienstmädchen zu übergeben.
»Wasch sie bitte richtig aus, die haben es nötig.«
Die Magd, die sicher schon schlimmere Dinge in diesem Gasthaus gesehen hatte, verzog dennoch die Lippen, denn die Kleider rochen sehr nach menschlichem Elend, nach Erde, nach Moder und Schweiß. Remy musste diese Sachen seit Jahren getragen haben, ohne sie wirklich zu waschen.
»Ich werde mich bemühen, königliche Hoheit.«
»Danke.« Rowan schloss die Tür und sah, dass Remy bis zu den Schultern in dem Zuber versunken war. Seine schmalen Knie ragten aus der Wasseroberfläche und diese zitterte leicht.
»Frierst du?«
»Offengestanden war ich bestimmt seit einem Jahr nicht mehr nackt. Ich fühle mich unwohl, so angreifbar.«
»Das legt sich wieder. Hier droht dir keine Gefahr, niemand wird dich hier vertreiben. Du kannst das Wasser genießen.«
Der Junge nickte und entspannte sich nach einigen Minuten tatsächlich. Er richtete sich wieder auf und griff nach der Seife. Rowan konnte Narben auf seiner Haut erkennen, die er sich nicht erklären konnte.
»Diese Male … woher stammen die?«
Remy blickte auf seine schmale Brust runter. »Oh … das sind Bissmale. Ich sagte doch, im Waisenhaus wimmelte es vor Ungeziefer.« Er rieb sich die Seife über den schmalen Arm, als Rowan ihm eine Bürste reichte.
»Schrubb' dich richtig ab. Nur Seife wird deine Haut nicht reinigen, glaube mir.«
»Ihr könnt ihn nicht ertragen, den Gedanken, mit einem Diener gesehen zu werden, der so dreckig ist, stimmt's?«
Rowan schmunzelte. »Ich kann lediglich deinen Geruch nicht ertragen. Selbst unsere Stallknechte riechen besser.« Er lachte etwas, um zu zeigen, dass er Remy nicht beleidigen wollte. Der Junge grinste und zeigte zum ersten Mal ein richtiges Lachen. Rowan war erstaunt, dass Remy zwar komplett verdreckt war, doch im Gegensatz dazu ziemlich gute Zähne hatte. Er hatte keine Lücken, wie er sie bisher bei vielen Straßenkindern gesehen hatte, sie waren nicht faulig oder vergammelte Stümpfe und auch nicht dreckig; sie waren nur etwas verfärbt, nichts, was man mit etwas Zahnpulver nicht in den Griff bekommen konnte.
»Gib mir die Bürste und lehn dich vor. Ich schrubbe dir den Rücken ab. Das geht schneller, als wenn ich jetzt eine Magd rufen würde, die das macht.«
»Äh … in Ordnung.«
Rowan wusch seinen Diener, bis es nur so schäumte und tauchte ihn dann in dem Zuber unter, um auch seine Haare nass zu machen. Prustend und schnaufend tauchte Remy wieder auf und der Prinz drückte ihm die Seife in die Hand.
»Haare waschen.«
»Ist es üblich, von Seiner Königlichen Hoheit persönlich gewaschen zu werden?« Der junge Dieb wirkte durch die warme Gemütlichkeit des Badewassers entspannt und gelöst. Er kicherte und seine Haut, die vormals so eingefallen und fahl ausgesehen hatte, war rosig. Doch das konnte auch vom Schrubben kommen, denn Remy ging nicht gerade zimperlich mit seinem Körper um.
»Das ist eine einmalige Ausnahme. Da du nun in meinen Diensten stehst, wird Baden für dich zur Routine werden. Das bedeutet, dein Rücken wird niemals wieder so dreckig sein und ich brauche das niemals wieder tun.«
Remy sah ihn von unten her an. »Es steht mir vielleicht nicht zu, aber habt Ihr Euch jetzt einen Zacken aus Eurer Königskrone gebrochen? Euch mir unterstellt, weil Ihr doch gewöhnt seid, in Eurem Zuhause von Dienern gewaschen zu werden?«
Rowan zog die Brauen hoch. »Was bitte? Du hast ja Vorstellungen«, er lachte leise, »selbst ein Prinz wäscht sich allein. Das macht kein Diener. Oder würde dir das gefallen, wenn ein anderer Mensch dich an Stellen berührt, die dir zu intim sind? Mir reicht schon, dass mein Schneider immer an meinem Hintern herum fummelt, wenn er meine Hosen anpasst.«
Der junge Mann grinste. »Och … kommt auf die Stimmung an, nicht? Aber ja, ich verstehe, was Ihr meint. Ich weiß nichts über die Abläufe in Königshäusern. Ich dachte, Ihr müsstet da nichts allein machen, weder Anziehen noch Waschen noch Essen …«
»Ich möchte nichts von deinen amourösen Abenteuern wissen, das ist deine Privatsache. Und nein, so unselbstständig sind selbst königliche Menschen nicht.«
»Gut zu wissen. Ich bin Euch nämlich bestimmt keine große Hilfe, wenn ich Euch den Hintern nachtragen muss.«
Rowan schüttelte mit einem Schmunzeln den Kopf. Dieser Junge war wirklich frech und respektlos.
Remy schäumte sich großzügig die Haare ein und die Farbe des Schaumes machte deutlich, wie verdreckt sie waren. Er musste mehrfach auswaschen und neu einschäumen, bis sie sich sauber anfühlten.
»Fertig?« Rowan hob den übrigen Eimer an, als Remy nickte. Der Prinz übergoss den Jungen mit dem lauwarmen Wasser und spülte den Rest der Seife von seinem Körper ab. Er schrubbte sich zu guter Letzt gründlich die Füße und stand schließlich auf.
Rowan reichte ihm ein Tuch und nickte zufrieden. »Jetzt siehst du sauber aus und du riechst deutlich besser. Auch die Narbe in deinem Gesicht ist nicht mehr so deutlich. Trockne dich ab, zieh dir die neuen Kleider an und leg dich schlafen. Ich bin ziemlich müde.«
»Ich auch. Das liegt sicher am Essen. Ich schwöre, ich habe noch niemals so viel gegessen. Und … noch niemals hatte ich Braten und gekochtes Gemüse! Nicht einmal im Waisenhaus hatte man uns jemals Fleisch gegeben. Es gab immer nur Grütze und Brot. Fleisch kostete ich das erste Mal auf der Straße, als ein Bettler mir etwas von seiner gebratenen Ratte abgab.«
Der Prinz verzog nur leicht den Mund, als er das hörte und räusperte sich. »Nun, sie füttern im Waisenhaus mit Nahrung, die möglichst lange vorhält und die Kinder einigermaßen ernährt. Es soll ihnen nicht schmecken, es soll sie nur am Leben halten«, entgegnete er mit resignierter Stimme und Remy schnaubte nur.
»Und trotzdem waren wir alle halb verhungert.«
»Das hast du hinter dir.«
»Solange bis Ihr in Euer Königreich zurückkehrt. Erinnerst Ihr Euch, Ihr sagtet, Ihr bräuchtet einen Begleiter, solange Ihr in Trallien seid.«
»Das ist richtig. Doch wenn du dich gut anstellst, nehme ich dich vielleicht mit. Ich habe zwar bereits einen Knappen, aber ich bin ein Thronfolger«, Rowan lachte leise, »ich kann so viele Diener haben, wie ich möchte. Und du könntest in Annwyn dein Glück machen. Wenn du bereit bist, deine Heimat zu verlassen.«
Remy schnaubte erneut und zog die sauberen Sachen an, die sein Herr für ihn gekauft hatte. Der weiche Stoff der Unterwäsche fühlte sich fremd und doch angenehm auf seiner Haut an.
»Was hat meine Heimat jemals für mich getan, außer mich für die Schande meiner Geburt zu bestrafen, als Sohn einer Hafendirne, die nicht einmal wusste, wer mein Vater ist? Die es zugelassen hat, dass ich die einzigen Menschen, die Familie für mich waren, in einem Feuer verliere, das gelegt wurde, weil sie sich geweigert hatten, den Ort zu verlassen. Die zugelassen hat, dass mein bester Freund auf offener Straße wie ein dreckiger Köter abgestochen wurde. Nein, ich schulde diesem Land und diesem König gar nichts! Ich hatte von vornherein keine Chance hier. Ich bin ein Trallier, doch ich habe keine Heimat! Nichts, was mich hier hält.«
Remys Stimme war aufgebracht, doch der Prinz konnte etwas wie Trauer darin erkennen. Diese Stadt hatte es dem Jungen nicht leicht gemacht, hatte ihn verbittert werden lassen, wenn es um bestimmte Dinge ging. Zumindest war dies Rowans Eindruck. Er hoffte, nach und nach mehr über diesen Jungen zu erfahren, dessen bisheriges Leben so viel aufregender und tragischer gewesen war als das seines eigentlichen Knappen Sero, der aus geordneten, wohlhabenden Familienverhältnissen kam.
Wie sehr hatten er und Rowan selbst ihr gutes Leben doch als selbstverständlich angenommen. Niemals hätte er für möglich gehalten, dass es solches Elend wie in den Straßen Thaleas überhaupt noch gab in Numantia. Er hatte immer gedacht, die Länder wären modern und aufgeklärt und es würden geordnete Verhältnisse überall herrschen.
Vielleicht war dies einer der Gründe, warum König Thedosio Gesandtschaften der anderen Reiche nicht duldete und warum Trallien niemals das Solem-Fest ausrichtete. Wie sollten der Herrscher und seine Berater das Elend in Thalea vor den Gästen verbergen?
»Nun, dann gibt es zumindest in dieser Frage keine Unklarheiten zwischen uns. Wenn dich nichts hält, könntest du in Annwyn oder wo auch immer im Rest der Welt neu anfangen.«
Remy setzte sich auf das abseits stehende Bett und seine Hände strichen sanft über den Stoff des Kissens. Es fühlte sich gut unter seinen Fingern an.
»Wo wir gerade beim Thema sind, Prinz. Was führt Euch in dieses wenig einladende, kalte Land und diese wunderhübsche Stadt?«
Rowan schlug die Decke seines Bettes zurück und löschte dann bis auf die Öllampe auf seinem Nachttisch alle Kerzen.
»Bevor ich nach Thalea kam, muss ich gestehen, habe ich nur hübsche kleine Städtchen in Trallien gesehen. Toph zum Beispiel, am Hiatus, ist sehr schön. Aber deine Frage: Ich möchte dem König meine Aufwartung machen. Und ihn um Erlaubnis bitten, nach seiner Tochter zu suchen.«
»Eine … Prinzessin? Der König hat nur Söhne. Es gibt keine Prinzessin.« Remy klang ehrlich überrascht.
»Offenbar hast du nie davon gehört. Doch ich bin mit dieser Legende aufgewachsen, dass es vor etwa achtzehn Jahren sehr wohl eine gab. Noch bevor der König seine jetzige Gemahlin geehelicht hat. Das Mädchen soll spurlos verschwunden sein.«
»Wenn das stimmt, hat er sie vermutlich in eine Schlucht geworfen. Ich habe den König nur einmal bei einer Parade gesehen. Er ist ein fetter Mann mit einem arroganten Gesicht. Ich habe gesehen, wie er seine Dienstmädchen, die ihn umgaben, herumgescheucht hat. Als wären sie Dreck. Hätte er eine Tochter, ich bin mir sicher, er hätte sie nicht anders behandelt. Selbst die Königin sieht so aus, als würde sie ihn hassen.«
Rowan dachte einen Moment nach. Remy war schon der zweite, der dem König keinen Sympathiepreis verleihen würde.
»Und Ihr habt vor, einem Geist nachzujagen? Einer Prinzessin, von der Ihr nicht wisst, ob es sie überhaupt gibt? Wollt Ihr sie als Eure Braut heimführen? Gibt es in Annwyn keine Frauen für Euch?«
»So ist es nicht … ich … ich habe eine Verlobte zuhause …«
»Warum seid Ihr dann hier?«
»Mein Vater, der König, hatte die Idee. Ich denke, er hat mich auf diese Reise geschickt, um … erwachsen zu werden und mir darüber klar zu werden, ob die Wahl meiner Verlobten die richtige war. Was sie zweifellos ist. Ana, meine Verlobte, ist die einzige Frau, die mich nicht langweilt.«
»Doch Ihr liebt sie nicht.« Remy sprach das wie eine Feststellung. »Ist das nicht normal? Dass Adlige nicht aus Liebe heiraten, sondern aus politischen Gründen, um noch mehr adlige Babys zu machen?«
Rowan schmunzelte. Remys direkte Art war amüsant.
»Schon, ja. Aber so war es früher. Heute werden Ehen viel häufiger aus Zuneigung und Liebe geschlossen.«
»Aber Ihr seid trotzdem hier und sucht einen Geist, obwohl Ihr ein Mädchen daheim habt, das in Euren Augen die Richtige ist …«
»Mein Vater ist der Meinung, ich solle versuchen, frisches Blut in die Adelslinie zu bringen. Deswegen hat er mich hergeschickt, um die Prinzessin zu finden und sie eventuell zu heiraten.«
»Will er Inzucht vermeiden?«
»Es gibt keinen Inzest in den königlichen Familien!«
»Ach nicht? Ich dachte immer, die heiraten alle untereinander, um das Blut so blau wie möglich zu halten. Also ist Eure Verlobte nicht mit Euch verwandt?«
Rowan merkte, wie seine Wangen warm wurden. Natürlich war Ana mit ihm verwandt, sogar recht eng, wenn man es genau betrachtete.
»Das spielt alles keine Rolle, hast du verstanden? Fakt ist, dass ich auf der Suche nach dem sprichwörtlichen Drachen bin, den es zu finden und zu besiegen gilt.«
Remy machte sich auf seinem Bett lang und seufzte lange und tief. Er streckte seine Beine aus und machte ein sehr zufriedenes Geräusch.
»Es soll in Trallien Drachen geben. Eine alte Geschichtenerzählerin hatte uns damals im Waisenhaus immer Märchen und Sagen erzählt, dass in den südlichen Bergen ein Drache hausen soll. Und sie erzählte von Hexen, die Kinder von den Türschwellen der Dörfer rauben, um ihr Fett zu einem Zaubertrank zu verarbeiten oder als Opfer annehmen, um Wünsche zu erfüllen. Ich weiß nicht, ob uns das nur erzählt wurde, damit wir nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr ausbüchsten, aber ich mochte diese Geschichten immer sehr.«
»Als erstes muss ich dem König meine Aufwartung machen. Vorher können wir ohnehin nicht aufbrechen. Und du musst Reiten lernen.«
»Hmhm«, machte Remy nur ein müdes Geräusch und Rowan beschloss, dass es keinen Zweck mehr hatte, das Gespräch weiterzuführen, da der Junge bereits halb eingeschlafen war.
»Gute Nacht«, sagte er deswegen nur, legte sich ebenfalls hin und löschte das Licht.