Eine Woche war vergangen, seitdem Rowan als Gast in den Palast des trallischen Königs eingezogen war. Während der Kronprinz sich allabendlich mit Seiner Majestät und dessen Höflingen die Zeit beim Essen und anderen kleinen Festlichkeiten vertrieb, hatte Remy die Dienerschaft kennengelernt und sich, soweit er konnte, nützlich gemacht. Obgleich sein Herr auf die Gastfreundschaft des Monarchen zurückgreifen konnte, bedeutete das nicht, dass der junge Dieb die Beine hochlegen durfte. Stattdessen hatte er angeboten, den Köchen in der Küche zu helfen, wenn diese ihm im Gegenzug ein paar Tricks verrieten.
Der Plan des Prinzen sah vor, in die Wildnis auszuziehen, um dem Mythos »Prinzessin« nachzujagen und Remy hatte während dieser Zeit nicht vor, zu verhungern, weil Rowan womöglich keine Ahnung hatte, wie man gejagtes Wild verarbeitete. Diese Adligen zogen doch nur auf ihre eleganten Treibjagden aus und überließen es ihrem Gesinde, die Beute anschließend zuzubereiten. So hatte der Junge es zumindest gehört, doch es noch nie gesehen.
Die Köche verrieten ihm, wie er Tiere richtig aufschnitt, ohne die Organe zu beschädigen und das Fleisch zu ruinieren, wie er richtig häutete und Reste haltbarer machen konnte. Im Gegenzug schaffte der junge Mann ihnen immer ausreichend Holz für die Herdkamine heran, brachte Unrat nach draußen und half beim Einfangen der Gänse für die königlichen Mahlzeiten.
König Thedosio verlangte jeden Tag nach mindestens einem großen Vogel oder einem Ferkel zum Essen, zusätzlich zu Unmengen von Wein oder Bier und ganzen Kübeln voller Kartoffeln und Gemüse. An der Tafel des Monarchen speisten außer ihm, seiner Familie und dem Kronprinzen aus Annwyn noch immer mindestens zehn oder zwanzig andere Leute und trotzdem konnte der König eine sieben Kilo schwere Gans beinahe allein aufessen.
Kein Wunder, dass er so fett war, dass er nur schwer allein laufen konnte und die Mägde ihm ständig den Mund abputzen mussten, den er oft kaum zubekam.
Seit der junge Beutelschneider Thedosio das letzte Mal auf einer Solemfest-Parade gesehen hatte, musste er zwanzig Kilo zugelegt haben, vielleicht mehr.
Doch auch Remy hatte durch das gute Essen, was der Palast dem Gesinde zukommen ließ, an Gewicht gewonnen. Die Dienerschaft bekam drei geregelte Mahlzeiten und wer in der Küche arbeitete, hatte weiterhin nahezu unbegrenzten Zugang und konnte an allen Ecken und Enden naschen.
Prinz Rowan war es gewesen, der den Umstand der Gewichtszunahme zuerst bemerkt hatte, denn Remy konnte keinen Unterschied erkennen. Sie waren doch erst eine Woche bei Hofe, da konnte es unmöglich so schnell gehen. Und doch stimmte es. Der junge Dieb war so unterernährt, dass sein Körper alles gierig aufgesaugt hatte, wie ein Schwamm, wodurch der junge Mann etwas fleischiger geworden war und seine eingefallen wirkenden Wangen an Fülle gewonnen hatten.
Natürlich war Remy noch immer beklagenswert dünn, doch er sah nicht mehr so aus, als würde er jeden Moment zusammenbrechen.
»Ein gutes Polster schadet nicht, wenn wir erst wieder unterwegs sind«, hatte der Königssohn gesagt und anerkennend genickt. Er hatte ja versichert, er würde Remy aufpäppeln. Dass dies nun von der Schlossküche erledigt wurde, störte sie beide nicht. So hatte Rowan für den Moment keine Kosten und der junge Beutelschneider konnte essen, so viel er wollte.
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Das abendliche Bankett, das wie die vergangenen Tage auch im Rittersaal eingenommen wurde, war ein weiteres Mal zu einer sehr lauten Veranstaltung angewachsen, die Musikanten spielten ungebrochen, während die Höflinge sich volllaufen ließen und der König an einer großen Schweinekeule herumkaute, die er durch die Gegend wedelte, wenn er redete. Die Hunde, die nur darauf warteten, dass das begehrte Stück Fleisch am Boden landete, trieb er damit fast in den Wahnsinn.
Rowan, der deutlich gezierter aß, hatte sich bereits abgewöhnt, über dieses Verhalten verwundert oder irritiert zu sein. Es gehörte hier zum normalen Ton, es ging lauter und derber zu. Ob das daran lag, dass deutlich mehr Hofgäste und Höflinge hier im Palast lebten als es in Isara der Fall war? Der Speisesaal im Schloss seines Vater passte von der Ausstattung her, den Streitwaffen als Zier und den rohen Steinwänden, deutlich besser zu dem Gebaren der trallischen Abendgesellschaft als dieser weiß getünchte hohe Raum mit den Säulen und dem goldenen Zierrat. In Thedosios Palast aßen die Barbaren in einem Zimmer aus Elysium und in Isara war es genau andersherum.
Der Gedanke ließ den Prinzen leise lachen.
»Was amüsiert Euch, Königliche Hoheit?«, sprach die Gemahlin des Monarchen ihn an und tupfte sich die Lippen an einer Serviette ab.
»Oh, nichts, ich hatte nur eine dumme Eingebung, vergebt mir.« Rowan blickte über die Tafel und verzog den Mund. Er war durstig, doch er wollte nicht noch mehr von dem schweren Wein zu sich nehmen. Am Ende würde er noch dem Alkoholismus verfallen, wenn er weiter so viel trank.
»Remy?«, wandte er sich an den jungen Dieb, der wie die letzten Tage auch, nachdem er selbst etwas gegessen hatte, an der Seite seines Herrn beim Bankett stand.
»Ja?«
»Würdest du mir in der Küche einen Krug frisches Wasser holen gehen, bitte? Dieser Wein schlägt mir auf den Magen.«
Remy neigte leicht den Kopf und machte kehrt. Er hatte sich einige Dinge bei den Lakaien des Königs abgeschaut, weigerte sich jedoch noch immer, vor dem Prinzen zu katzbuckeln, was dieser aber auch gar nicht erwartete. Der wollte nur, dass Remy sich benahm, wenn sie vor Leuten waren. Es war schließlich nicht so, als hätte der Bursche gar kein Benehmen, er sah nur wenig Sinn darin, wenn es auch direkter ging. Allgemein hielt er sich zurück und antwortete nur, wenn der Kronprinz ihn ansprach.
Während der junge Dieb den Gang in die Küche entlang ging, von dem weitere Flure in andere Bereiche des Gesindetraktes abgingen, hing er seinen Gedanken nach und fragte sich gerade, wie lange Prinz Rowan noch vor hatte, bei Hofe zu bleiben, als ein Geräusch und eine kleine Menschenansammlung in einem Gang ihn ablenkten und er stoppte.
Remy presste die Lippen zusammen und schnaubte, als er sah, wie der älteste Sohn des fetten Königs, Feilan, und sein ein Jahr jüngerer Bruder Nicar sich vor der kleinen Magd aufbauten, die dem Taschendieb am ersten Abend so freiheraus angeboten hatte, sie zu heiraten. Das Mädchen presste den Korb, den es in den Armen trug, eng an sich und wagte kaum, den Kopf zu heben, während die Jungen nur hämisch lachten.
»Na, komm’ schon, Mädchen. Wir und du, was sagst du? Lass’ uns in eine der Stuben gehen und wir haben ein bisschen Spaß.« Feilan hatte einen unangenehmen Ausdruck im Gesicht, der ihn sehr wie seinen Vater aussehen ließ - gierig und lüstern.
»Du solltest lieber nicht Nein sagen, denn du weißt, wer wir sind. Zu uns sagt man nicht Nein, wenn man nicht ganz schnell in der Gosse landen will«, schob Nicar hinterher, der kaum den Stimmbruch hinter sich hatte.
»Kö-königliche Hoheiten, ich ...«
»Na, was denn, du? Stell’ dich nicht so an.« Feilan packte Seenas Ellenbogen, zog daran und das Mädchen ließ den Korb mit den blütensauberen Leinentüchern fallen.
»Seena, kommst du bitte mal, ich brauche deine Hilfe!«, hob Remy, der genug gesehen hatte, seine Stimme und zog so die Aufmerksamkeit der beiden Prinzen und des Mädchens auf sich. Die Jungen wichen von Seena zurück, die sich bückte und ihre Last, die ihr aus der Hand gerutscht war, wieder aufsammelte, bevor sie mit wehenden Röcken geradezu vor Feilan und Nicar floh, Remy entgegen, der nicht nur älter, sondern auch größer als die Prinzen war.
Die beiden sahen den Diener ihres annwynischen Gastes an wie das Insekt, das er für sie war, zornig darüber, dass seine Einmischung sie den Spaß gekostet hatte, sich keinerlei Schuld bewusst, was sie gerade im Begriff gewesen waren, zu tun. Doch Remys Gesicht zeigte nicht weniger Abscheu und Stolz.
Diese Bengel waren schlimmer als der schlimmste Abschaum aus den Slums von Thalea und niemand würde es jemals sehen oder laut auszusprechen wagen, da sie die gottverdammten Söhne ihres verfetteten Königs waren.
Mit einem herben trallischen Schimpfwort für die Jungen auf den Lippen wandte der Dieb sich ab, sah zu Seena, die noch immer blass im Gesicht war und setzte sich weiter in Bewegung, um für seinen Herrn das gewünschte Wasser zu holen.
»Danke für deine Hilfe. Aber sag mal«, kiekste sie, als sie in der Küche waren, »wie kannst du es wagen, so etwas zu ihnen zu sagen?! Die lassen dir glatt den Kopf abschlagen, Mann!«
»Denen sollte man was anderes abschlagen, wenn du mich fragst! Die hätten ein paar aufs Maul verdient und eine Kastration wie ein verdammtes Kutschpferd!«
»Du bringst dich in Teufels Küche, da kann dir auch dein edler Prinz aus dem Westen nicht mehr helfen!«
Remy kräuselte die Lippen, nahm einen der Krüge aus einem Regal und hielt ihn unter die Wasserpumpe. Diese Konstruktion hatte er besonders interessiert bewundert, denn durch diese musste man nicht nach draußen an den Brunnen, um Wasser zu schöpfen, sondern konnte es direkt in der Küche in ein kleines Becken laufen lassen. Der junge Mann füllte das Gefäß und drehte sich zu dem Mädchen herum.
»Erscheint mir fast so, als würdest du dir Sorgen machen. Nachdem du nach unserem Abendessen vor einer Woche nicht mehr mit mir geredet hast, weil ich deinen Antrag nicht annehmen wollte.«
Seena errötete. »Das war ja gar nicht so. Aber ich hab’ viel zu tun, weißt du? Ich hacke nicht nur Holz wie du.«
»Woher weißt du, was ich mache?« Remy grinste leicht und das Mädchen wandte das Gesicht ab. Ja, Seena hatte ihn beobachtet und ihr hatte gefallen, was sie gesehen hatte. Beim Fangen der Gänse hatte er sogar einige Male gelacht, als hätte er noch nie etwas Lustigeres in seinem Leben gemacht.
»Bleib’ eine Weile hier und geh’ auf einem anderen Weg zu deinen Pflichten zurück«, Remy musterte das junge Ding einen Moment. »Ich würde dir gern raten, dass du ihnen die Nase ins Hirn rammst, wenn sie dich noch mal anfassen, aber ich fürchte, du wirst mich dafür wieder nur rügen, also ...«
»Geht man so in Thalea miteinander um?«
»Da, wo ich herkomme, ja. Dort lässt sich keine Frau gefallen, dass ein Mann sie gegen ihren Willen anfasst, ohne zumindest dafür zu bezahlen. Und wenn sie ihn abstechen muss.«
»Würde ich etwas derartiges versuchen, würde ich schneller ebenfalls in der Gosse landen, als ich gucken könnte. Ich kann nicht zu meinen Eltern zurück, ich bin eine Last für sie, sie sind arme Bauern und ein Teil meines Verdiensts bewahrt sie davor, im Winter zu verhungern.« Seena hatte den Kopf gesenkt. »Du siehst also, ich habe die Wahl zwischen der Belästigung der Prinzen und noch schlimmerem Elend. Du bist ein Mann, du verstehst nicht, was es heißt, wenn mächtige Leute ihren Einfluss ausnutzen, um dich zu etwas zu kriegen.«
Der junge Dieb seufzte. »Wurdest du mal von einem Büttel zusammengeschlagen und hattest anschließend eine gebrochene Rippe? Oder hast du mal eine Nacht in einem der Kerker unserer Hauptstadt verbracht, umgeben von Gestank und der schieren Anwesenheit des Todes? Auch ich bin schon vor Menschen geflohen, die geglaubt hatten, mich fürs Ficken benutzen zu können, ich verstehe das sogar sehr gut. Und auch, wie aussichtslos es für dich sein muss. Ich hatte immer die Wahl, zurückzuschlagen oder abzuhauen.«
»Ach, schon gut. Bisher bin ich auch immer gut drumherum gekommen. Es wird schon gehen. Ich danke dir trotzdem noch einmal für deine Hilfe. Tu’ nichts Unbesonnenes, wenn du deinen Kopf behalten willst. Der König hat andere schon für weniger ins Verlies werfen lassen.«
»Ich weiß«, knurrte Remy, stemmte den Wasserkrug etwas höher und wandte sich ab. »Ruh’ dich einen Moment aus«, murmelte er, bevor er die Küchenräume wieder verließ und die Flure draußen leer vorfand. Offenbar hatten die verkommenen Bengel beschlossen, sich wieder der Abendgesellschaft anzuschließen und in der Tat hockten sie an der Tafel, bräsig, arrogant und überheblich wie immer. Ihre Aufmerksamkeit folgte Remy, als dieser seinem Herrn das Wasser einschenkte, und sie tuschelten miteinander, bevor sie gehässig zu lachen anfingen.
Der junge Dieb erwiderte ihren Blick stolz. Er sah nicht ein, sich von Jungen einschüchtern zu lassen, die weder ein Haar im Gesicht noch am Körper hatten und deren Stimmen sich anhörten wie Hundewelpen. Remy hasste Hunde und genauso empfand er für diese ungezogenen Prinzen. Sie leisteten nichts, waren unnützer als jeder Bettler des Landes und brüsteten sich doch als die Spitze der Bevölkerung. Nur zu gern würde der Beutelschneider sie brennen sehen, alle miteinander.
»Remy!«
Dieser zuckte zusammen und wandte sein Gesicht zu Rowan. »Ah, mein Herr? Verzeiht, ich war in Gedanken.«
»Das habe ich gemerkt. Ich habe nur Danke gesagt, alles ist gut. Würdest du vielleicht schon vorgehen und mir das Bett vorbereiten? Das Mahl ist bald beendet und es ist spät.«
»Natürlich, Königliche Hoheit.« Ihr öffentlich überaus höflich miteinander ausgetragenes Verhalten hatte sich inzwischen eingespielt, doch unter vier Augen sagte Remy dem Prinzen immer noch offenheraus die Meinung.
Der Dieb wandte sich ab und verließ den Speisesaal durch den Haupteingang mit den schweren Türen, die zur Essenszeit immer offenstanden, da es sonst sehr warm im Raum werden würde. Fackeln und Lampen erleuchteten die Flure, die Remy inzwischen so oft gegangen war, dass er sich inzwischen zurecht fand und das Gemach Prinz Rowans problemlos fand.
Doch er kam nicht wirklich weit, als er Schritte und hämisches Gekicher hinter sich hörte und schließlich von den vier Söhnen des trallischen Königs eingekreist wurde. Die Jungen waren zwischen sechzehn und zwölf Jahren, doch wirkten groß für ihr Alter. Ihnen allen steckte diese unterschwellige Bereitschaft zur Grausamkeit inne, die Kinder häufig entwickelten, wenn ihnen niemand Grenzen setzte und sie mit jeder Schandtat ohne Rüge und Strafe davon kamen.
»Eure Königlichen Hoheiten«, presste Remy zwischen den Zähnen hervor, verneigte sich und wollte weitergehen, doch Feilan stieß ein abgehacktes Lachen aus.
»Du kommst dir besonders groß vor, weil du mit dem Weißbrot aus Annwyn reist, oder, du Landesverräter?«
»Äh, wie bitte?«
»Du solltest dich schämen, als Trallier irgendjemand anderem als deinem König die Treue zu schwören. Du solltest im Dreck kriechen, wo du hingehörst, du Hund.«
»Ich schwöre niemandem irgendetwas, wenn ich so offen sein darf, mein Prinz. In Trallien gilt die Freiheit des Einzelnen, zitiere ich das richtig?«
»Das gilt nicht für Köter wie dich. Du wirst es noch bedauern, dass du dich in Palastangelegenheiten eingemischt hast.«
Bei Remy fiel der Groschen. Hatten die Jungen sich zusammengetan, um ihn aufzumischen, weil er Feilan und Nicar ihr von einem Kind abgepresstes Schäferstündchen versaut hatte? Na, wenn das keinen Stil hatte!
»So nennst du das also, was du versucht hast, du kleiner Scheißer. Palastangelegenheiten. Bist wohl zu hässlich, um ein Mädchen dazu zu kriegen, freiwillig mit dir ins Heu zu kriechen. Kriegst anders keinen hoch, hm?«, knurrte der junge Dieb und wich keinen Schritt zurück.
»Du dreckiges Arschloch«, fauchte Feilan und wurde rot im Gesicht. Es sah nicht schön aus und verstärkte sich noch, als die beiden jüngeren seiner Brüder sich ein Prusten nicht verkneifen konnten. Sie fanden solche Anspielungen auf Sexualität einfach noch viel zu lustig, um ernst zu bleiben. Der älteste Prinz preschte vor und platzierte eine gekonnte und schmerzhafte Faust in Remys Gesicht, der aufkeuchte und ein Stück nach hinten taumelte.
»Haltet ihn fest, die Ratte. Dem werden wir mal zeigen, wie man mit uns redet hier!«, herrschte Feilan seine Brüder an und sah sich in der nächsten Sekunde von dem jungen Taschendieb am Kragen gepackt. Doch bevor der irgendwas tun konnte, erschallten Schritte auf dem Korridor und aufgeregte Stimmen wurden laut.
»Was geht hier vor sich?!«, röhrte der übergewichtige König, der wie ein Pinguin den Gang entlang watschelte, gefolgt von seiner Gattin und dem Prinzen aus Annwyn, der mit raschen Blicken zu überschauen versuchte, was geschehen war. Er realisierte Remys blutige Nase und die leicht aufgesprungene Lippe.
»Nimm’ du deine schmutzigen Finger von meinem Sohn, du Lump. Königliche Hoheit, Rowan, ich kann nicht dulden, dass Euer Diener sich so aufführt und meine Söhne angreift!«
Der Kronprinz nickte, trat vor und löste Remys Finger vom Kragen des Jungen, bevor er dem Dieb streng ins Gesicht sah und ihm eine Ohrfeige gab.
»Was ...?«
»Kehre in mein Gemach zurück und warte dort. Wir werden das klären!«, sagte Rowan rau.
»Ich hab’ mich nur ...«
»Genug! Tu’ was ich dir sage!«
Remy riss sich von dem blauäugigen Prinzen los, starrte ihn einen Moment aufsässig an und stürmte durch den Gang davon, bevor Rowan sich an die Königssöhne wendete und sie sehr kritisch beäugte. Keiner von ihnen hatte Blessuren davon getragen, sie sahen makellos wie schneeweiße Eier aus, einzig dass Feilan sich die Handknöchel rieb, verriet dem Kronprinzen, dass er Remy geschlagen hatte.
»Niemand greift meine Söhne an!«, herrschte Thedosio durch den Korridor und seine wässrigen Augen durchbohrten Rowan, der sich leise räusperte.
»Mir offenbart sich die Situation vielmehr so, als hätte Euer Ältester meinen Diener angegriffen, Eure Majestät. Sicher seht Ihr noch das Blut an Feilans Händen, das von der Nase meines Knappen stammt.«
»Das ist doch absurd! Welchen Grund sollten sie denn haben? Ich sagte Euch gleich zu Beginn, dass Ihr da einen faulen Apfel habt. Klärt das! Geschieht so etwas noch einmal, lasse ich ihn in Ketten legen, ich drücke nur ein Auge zu, weil er Euer Diener ist. Ihr bürgt für ihn!«
»Aber Vater, er wollte mich angreifen, dieser Hund!«
»Schweig!«, mischte sich nun überraschenderweise die Königin ein, die ihre Söhne streng ansah. »Ist es nicht vielmehr so, dass du, mein Sohn, ihn zuerst geschlagen hast und er sich nur gewehrt hat? Dieses Verhalten dulde ich nicht länger! Kehrt in Eure Gemächer zurück und macht dabei keinen weiteren Ärger!«
Die Jungen maulten ungehorsam, doch trollten sich schließlich. Thedosio, der überfressen und ermattet war, atmete schwer, doch sein Blick lag noch immer auf Rowan.
»Egal, wie sich die Situation darstellt, Königliche Hoheit, ich lasse nicht zu, dass niedrig geborene Diener die Hand gegen Prinzen erheben!«
»Selbst wenn es zur Verteidigung dient?«
»Gegen was sollte sich Euer Bengel schon verteidigen müssen?«
Der Kronprinz schloss für einen kurzen Moment die Lider. Die Söhne des Königs hatten Remy eingekreist, es war für jeden, der bereit war, es zu sehen, deutlich zu erkennen gewesen, dass sie sich zu viert auf einen gestürzt hätten, wenn er und das Königspaar nicht dazwischen gekommen wären. Doch nur die Königin schien ebenso zu denken wie Rowan.
»Ich werde ihn zur Räson rufen, Eure Majestät«, antwortete er schließlich nur. Es brachte nichts, gegen einen Vater zu reden, der seine Söhne vergötterte. Schon gar nicht gegen einen König, der Remy in den Kerker werfen lassen konnte, einfach weil ihn dessen Nase nicht passte. Es war wohl allmählich an der Zeit, den Palast zu verlassen, wenn die Königssöhne schon begannen, sich auf Rowans trallischen Diener einzuschießen, dessen Gemüt nicht weniger hitzig war. Wie eine Herde junger Hengste in einem zu engen Gatter.
»Ich wünsche Euch eine geruhsame Nacht«, murmelte Rowan, verneigte sich und kehrte in seine Gemach zurück, um eine Erklärung des jungen Diebes zu fordern.
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Remy schloss die kostbaren Türen auf und stieß sie so schwungvoll ins Zimmer, dass sie an die Wand dahinter krachten. Wut wallte in ihn auf, Zorn darüber, nichts getan zu haben und doch der Schuldige zu sein. So lief das an diesem Ort, in diesem Land! Schuld waren immer die anderen, nie die feine königliche Familie, nie die Adligen, die fetter und fetter wurden. Man schlug nur auf die ein, die keine andere Wahl hatten als zu parieren, wenn sie nicht verrecken wollten wie ein schmutziger Hund!
Und Rowan, dieses Arschloch, war genauso! Er hatte gesehen, dass Remy nichts getan hatte und ihn trotzdem vor allen gerügt!
Wutschnaubend trat er gegen ein Tischchen und war bereits drauf und dran, das Zimmer wieder zu verlassen, seine wenigen Habseligkeiten aus seinem schlichten Quartier im Gesindetrakt zu holen und einfach abzuhauen, als Rowan die Tür öffnete, leise eintrat und stehen blieb. Er sah ihn an, Remy konnte es spüren, doch er weigerte sich, den Kopf zu heben. Unbewusst leckte er sich über die aufgesprungene Lippe, die schmerzte wie die Hölle. Auch das Atmen fiel ihm schwer, da seine Nase blutete.
»Lass’ mich deine Wunde sehen.«
»Fick’ dich!«, fauchte der junge Mann und konnte Rowan leise seufzen hören. Er ging an der Ottomane vorbei, auf der der Bursche saß, ins Badezimmer und kehrte einen Moment später mit einer Schüssel Wasser und ein paar Tüchern zurück.
»Na, komm’ schon, das tut doch sicher weh.«
»Willst du mich verarschen?«, begehrte Remy auf und ließ alle Höflichkeitsfloskeln außer Acht. Er stand auf und starrte dem Prinzen ungebrochen in die hellen Augen, presste die Lippen zusammen und spuckte schließlich auf den polierten Holzboden. »Königsbrut muss zusammenhalten, hä? Solange es einen Sündenbock gibt, braucht man nicht zu seiner Schuld zu stehen, ist es nicht so?«
»Erzähl’ mir deine Sicht der Ereignisse.«
»Wozu?! Willst du mich noch einmal schlagen?«
Rowan drehte sich herum und lehnte sich an die Kommode. Er betrachtete den Jungen vor sich, dessen Zorn gerecht und auch verständlich war.
»Es tut mir leid.«
»Wie?«
»Remy, ich glaube, du verstehst nicht, was ich getan habe.«
»Mich geschlagen! Ich habe nichts getan und wurde noch nicht einmal angehört. So ist es immer!«
Nickend schloss der Kronprinz einen Moment die Augen. »Hätte ich das nicht getan und damit deine Bestrafung in meine Hände genommen, hätte der König dich in den Kerker werfen lassen. Da wäre dir schlimmeres als meine Ohrfeige geschehen. Selbst in einem Schloss wie diesem hier ist ein Verlies nur ein Loch im Boden und ich denke, du wolltest nie wieder in einem solchen sein?«
Remy zuckte. »Ich ... ich verstehe es wirklich nicht.«
»Ich bin für dich verantwortlich, du stehst in meinem Dienst. Hätte ich dem König nicht gezeigt, dass ich bereit bin, dich für dein vermeintlich falsches Verhalten zu strafen, hätte er es getan und mir die Kontrolle aus den Händen genommen.«
»Soll das heißen, du hast das getan, um mich zu ... schützen?«
»Natürlich, du dummer Junge! Ich hätte dich, hätte man dich eingekerkert, nicht mitnehmen können, wenn ich den Palast verlasse. So kann ich es. Am besten gibst du dich morgen etwas zerknirscht und tust so, als hätte ich dir eine Tracht Prügel verpasst. Ich werde morgen mit den Planungen beginnen, weiterzureisen. Ich habe genug von diesem Ort.« Rowan winkte den verlegen wirkenden Remy zu sich heran, tauchte ein Tuch ins Wasser und presste es ihm vorsichtig auf die Lippe, um das Blut abzutupfen.
»Dieser Feilan muss stark wie ein Bulle sein, wenn die Haut aufplatzt.«
»Er schlägt wie eine Hure aus Thalea«, murmelte der junge Dieb, zischte aber vor Schmerz. »Eine, die zweihundert Pfund wiegt und Arme wie ein Steinmetz hat.«
Rowan lachte leise. »Schön, dass du deinen Humor nicht verloren hast. Hier, ich habe etwas Kamillenlotion, die kannst du drauftun, dann ist das in ein paar Tagen erledigt.« Er tauchte das Tuch erneut ein und verfuhr auf die gleiche Weise mit Remys Nase. Diesem war unbehaglich zumute, die warmen Finger des Prinzen auf seiner Schulter zu spüren und die vom Wasser kühlen, die das Tuch führten, doch gleichzeitig konnte er sich nicht erinnern, jemals von jemandem verarztet worden zu sein, der ähnlich sanft mit ihm umging wie Frau Enid, als sie seine Gesichtswunde versorgt hatte.
»Willst du mir erzählen, was wirklich vorgefallen ist?«
Remy berichtete ihm leise davon, dass die Prinzen versucht hatten, ein Dienstmädchen zu unzüchtigen Handlungen zu nötigen. »Ich glaube, die wollten sich an mir dafür rächen, dass sie immer noch Jungfrauen sind. Dreckshunde, allesamt.«
»Eher verletzter Mannesstolz. Sofern man bei jemandem, der sich so verhält, von Mann sprechen möchte. So. Hier, leg’ dir das Tuch in den Nacken, damit das Bluten vollständig aufhört.«
»Ich hab schon zu oft mein eigenes Blut gesehen, finde ich«, murmelte der junge Dieb, nahm das Stück Stoff und setzte sich einen Moment.
»Das wird bestimmt noch häufiger passieren.«
»Ich hätte diesem blasierten kleinen Schwanzlutscher gern eine verpasst. Einfach nur, um zu sehen, ob das Blut von Adligen wirklich blau ist.«
Rowan lächelte leicht, rollte seinen Ärmel hoch und nahm neben dem Dieb Platz. »Schau.« Der Prinz deutete auf seine Adern, die deutlich sichtbar unter der Haut am Handgelenk entlang liefen.
»Es ist blau?«
»Dummer Junge«, Rowan umfasste Remys Unterarm und zog nun dessen Hemd ein Stück hoch. »Was siehst du?«
»Es ... sieht genauso aus wie bei Euch ...«, murmelte der Beutelschneider.
»Es erscheint blau durch die Haut, aber es ist rot, wie deines. Das Blut eines Adligen ist nicht besser als das eines Straßenkindes.«
»Ich wünschte, alle würden das so sehen.«
»Mach’ dich lang, Remy. Du brauchst eine Pause, schätze ich. Es ist fast Mitternacht.«
»Aber ... ich hab’ mein eigenes Quartier. Ich werde besser runtergehen.«
»Und riskieren, dass man dir auflauert? Nein, ich habe dich bestraft, schon vergessen? Und im Sinne dessen verdonnere ich dich dazu, die Nacht wie ein Hund vor meinem Bett zu verbringen. Offiziell. Du kannst auf dem Sofa schlafen, ich gebe dir eine Decke.«
»Ihr seid ein hinterhältiger Kerl.«
»Ich gebe mein Bestes. Hier«, Rowan zog die schwere Brokattagesdecke von dem Himmelbett und warf Remy die hellbraune und weiche Wolldecke hin, die darunter lag.
»Danke«, murmelte der und setzte sich. »Wann brechen wir auf?«
»Eventuell übermorgen.«
»Hat der König Euch etwas über seine Tochter verraten oder war er immer so mit schreien beschäftigt, dass das unterging?«
Rowan, der sich gerade den Rock aufknöpfte, wandte sich herum, hielt einen Moment inne und schürzte die Lippen. »Offengestanden hat er kaum etwas anderes getan, als mit Tralliens Edelsteinreichtum zu prahlen und wie fruchtbar das Land ist, obgleich es so kalt ist.«
»Reichtümer, die andere abbauen und nichts davon haben«, murmelte der Junge und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare.
»Du wirst die Welt nicht ändern, indem du zu viel über Sachen nachdenkst, die nicht in deiner Hand liegen, Remy. Du hast es gesehen, dieses Königreich wird sich nie verändern, solange diese Blutlinie herrscht. Wären die Jungen nur ein klein wenig mehr wie ihre Mutter, könnte es Hoffnung geben, doch das sind sie nicht.«
»Ich möchte hier weg«, flüsterte Remy. »Ich will weg aus Trallien und nie wieder zurückkommen.«
Rowan musterte den jungen Mann, dessen Nase noch immer gerötet war und dem die hundemüden Augen beinahe zufielen. Er hatte sich sehr nützlich gemacht die letzten Tage im Palast, hatte viel gearbeitet und war dem Prinzen positiv aufgefallen. Der Junge war wirklich nicht faul.
»Leg’ dich schlafen, ich lösche das Licht!«
Remy zog die Stiefel von seinen Füßen und die Jacke aus, bevor er sich in die Zierkissen sinken ließ. Das Sofa war weicher als das Bett in seinem Quartier und nachdem der Prinz die Öllampe herunter gedreht und sich selbst unter seine Decken geschoben hatte, lauschte der junge Dieb dem Atem Rowans, während er an die Zimmerdecke sah. Das Flackern der Fackeln vom Schlosshof warf einen feinen Schein in den Raum.
»Wenn Ihr nach Annwyn zurückkehrt ... steht das Angebot noch, dass ich Euch begleiten kann?«
»Wenn das dein Wunsch ist und wir nicht zuvor von einem Drachen gefressen werden, ja.«
»Selbst das ist besser als weiter ein elendes Leben hier zu führen.«
»Mach’ die Augen zu, Remy. Morgen sieht die Welt gleich wieder ein bisschen freundlicher aus. Deine Tage auf der Straße sind vorbei, das verspreche ich dir.«
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Die Welt sah am nächsten eher noch düsterer aus. Als die beiden Männer in aller Herrgottsfrühe erwachten, im Kopf das Gefühl, vielleicht zehn Minuten geschlafen zu haben, ging vor dem Fenster und über dem Palast einer der für Trallien so typischen Wolkenbrüche nieder, ähnlich dem, in den Prinz Rowan gekommen war, als er Thalea erreicht hatte. Es pladderte und plätscherte laut, die Regenrinnen liefen über und der Schlosshof war übersät von großen Pfützen. Nicht eine Menschenseele war zu sehen, die Verkaufsstände waren verlassen und hinter den Fenstern brannten die Lampen, da die dichten Wolken über der Hochebene fast alles Licht des Morgens schluckten.
Remy streckte sich und fiel als Konsequenz vom Sofa, was ihn unflätig fluchen ließ, während Rowan aus dem Bett stieg und die Tür zum Balkon öffnete. Das Geräusch des Regens stieg immens an und kalt glitt der feuchte Wind über die nackten Füße des Kronprinzen.
»Weißt du, was mir gerade in den Sinn kommt?«, brummte er leise.
»Dass wir hier scheiß Wetter in diesem Land haben?« Remy rieb sich den Hintern, nachdem er vom Boden aufgestanden war.
»Nein, dass wir, wenn wir unterwegs sind, unbedingt eine wasserfeste Plane für das Zelt brauchen, wenn wir nicht ersaufen wollen. So was hab’ ich noch nicht erlebt, wirklich wahr.«
»Willkommen in Trallien. Entweder es regnet oder es schneit oder es ist kalt. Ihr seid zwei Monate zu früh hierher gereist. Wärt Ihr im Juni gekommen, hättet ihr ihn vielleicht erleben können, den viel zu kurzen trallischen Sommer.«
»Wenn mein Vater diesen Floh nicht im Ohr gehabt hätte, wäre ich womöglich schon fast verheiratet und du hättest nie versucht, Agrippa zu stehlen. Komisch, wie die Dinge manchmal kommen.«
»Dann wäre es der Gaul eines anderen gewesen und man hätte mich aufgeknüpft. Ich würde mir nicht erlauben, mich zu beschweren.«
Rowan lächelte den verschlafen aussehenden jungen Mann an und nickte. »Hast du auch solchen Hunger?«
Als wollte Remys Magen antworten, knurrte er und der Junge lief unter seiner dunklen Haut rot an. »Ich kann nicht glauben, wie schnell ich mich daran gewöhnt habe, jeden Tag satt ins Bett zu gehen und am Morgen aufzuwachen, in der Gewissheit, dass in der Küche Essen auf mich wartet ...«
»Wenn wir unterwegs sind, werden wir schon Wege finden, genug zu haben.«
»Ich habe von den Köchen ein paar Dinge gelernt. Wenn ihr jagt, kümmere ich mich darum.«
»Wirklich? Das ist gut.«
»Ich wusste nicht, ob Ihr geübt darin seid, Jagdbeute zu verarbeiten ...«, der junge Dieb klang beinahe verlegen und Rowan lachte.
»Na, es würde wohl reichen, um nicht zu verhungern, anderseits ist es gut, wenn einer von uns beiden weiß, wie man es richtig macht. Man verdirbt so ein Tier schnell, wenn man falsch schneidet.«
Remy nickte und ging zu der Kommode hinüber, wo noch immer die Schüssel mit dem Wasser stand, das von seinem Blut etwas verfärbt war. Der junge Mann schüttete es in die lebhaft grüne Topfpflanze, goss sich frisches ein und wusch sich das Gesicht. Seine Lippe war angeschwollen und brummend verzog er sie, als er sich den Mund ausspülte.
»Lass’ mal sehen«, Rowan sah ihm ins Gesicht. »Hm, das wird noch ein paar Tage weh tun. Vergiss’ die Lotion nicht. Kannst du atmen durch die Nase?«
»Ja.«
»Gut. Dann zeig’ mir die Küche. Ich schätze, es ist noch so früh, dass ich woanders nichts zwischen die Zähne bekommen werde.«