Im Keller:
„Ich habe keine guten Erinnerungen an diesen Ort“, murmelte Amy.
Luca neben ihr nickte. Sam und Mira gingen voraus und Maya folgte ihnen. Inzwischen hatten sie alle ein wenig Blut abbekommen. Im Garten hatten sie eine zweite Vampirin gestellt. Danach war es ruhig geworden, bis endlich die Sonne aufging.
„Uns bleibt nicht viel Zeit“, erklärte Maya. „Die Gäste werden bestimmt bald abgeholt.“
„Weißt du eigentlich was Genaues?“, fragte Mira ein wenig gereizt.
„Ich war niemals hier!“, verteidigte sich Maya. „Ich weiß nicht einmal, was alles noch kommt, obwohl ich natürlich Gerüchte gehört habe. Ein paar der Gäste, die bei uns durchgekommen sind, wussten nämlich Bescheid.“
„Und darauf stützen wir unser gesamtes Vorgehen!“, meinte Mira kopfschüttelnd.
Sam legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Wir haben schon unter schlechteren Bedingungen gearbeitet.“
Sie folgten den Windungen des Kellers wie schon einmal. Diesmal leuchtete kein Licht vor ihnen, worüber Amy ganz froh war. Was immer Milo hier gesehen hatte, musste furchtbar gewesen sein. Sie wünschte sich, er wäre hier und könnte ihnen vielleicht einen Hinweis geben. Oder überhaupt mit ihnen reden. Sie wünschte sich auch, dass Eve und Liam hier wären. Ihre Handys zu bekommen war im Nachhinein wie ein Schlag in die Magengrube, aber sie hielt den Beutel eng bei sich. Da war noch so vieles an Bildern drauf, SMS-Texte, Videos, Musik. Als hätten sie einen Teil ihrer Freunde zurück.
Der Gang führte schließlich eine Treppe hinab, dann öffnete sich vor ihnen ein großer Raum. Es roch muffig. Unter der hohen Decke – sie sank nicht über der Treppe nach unten sondern blieb auf der Höhe, die sie auch beim Eingang hatte – hingen staubverhangene Spinnweben. Der Raum besaß in der Mitte ein kleines Podest, auf dem ein schwerer Sarg aus Granit stand. Um dieses Podest verteilt standen acht weitere Särge wie die Zacken eines Sterns.
„Neun? Es sind neun Vampire?“, fuhr Sam auf. Bloß zwei der Särge standen offen und waren leer. Durch ein schmales Fenster fiel Sonnenlicht in den Raum.
Maya wirkte ebenfalls erschüttert. „Ich … ich dachte wirklich, es sind nur drei!“
Sam schnaubte. Er trat auf den ersten Sarg zu und schob den Deckel zur Seite, der klappernd auf den Boden fiel. Im Inneren lag eine wunderschöne Frau, die Hände auf der Brust gefaltet.
„Amy, die machst du“, sagte Samstag und ging schon weiter. Schweigend, aber innerlich bebend vor Angst, trat Amy näher.
„Pf-pfählen und dann den Kopf abschneiden?“, fragte sie unsicher.
Mira nickte. „Denk dran, es sind eigentlich nur Ideen. Buchstaben in dem Roman von Bram Stoker. Mehr nicht.“
Amy verzog das Gesicht. Die Buchstaben sahen widerlich lebendig aus. Während sie den Pflock ansetze, öffneten Sam und Mira zwei weitere Särge und teilten sie Luca und Maya zu. Alle beide zögerten, so wie Amy.
Sam und Mira öffneten die nächsten Särge und stellten sich bereit.
„Gut. Dann auf drei“, meinte Sam. „Setzt die Pflöcke genau über dem Herzen an.“
Amy tat, holte mit dem Hammer aus und schloss die Augen.
„Schlagt mit aller Kraft zu“, befahl Mira. „Eins – zwei – drei!“
Amy ließ den Hammer nach unten sausen. Der Pflock ruckte in ihrer Hand nach unten und stieß dann auf Widerstand. Ein Blubbern erklang. Als sie vorsichtig die Augen öffnete, sprudelte Blut aus der Wunde um den Pflock herum.
„Noch zwei Mal“, sagte Sam. „Eins – zwei – drei!“
Wieder schlug Amy zu. Der Pflock schrammte an etwas Hartem vorbei. Der Vampir zuckte plötzlich, als sei er lebendig geworden. Blut spritze ihr ins Gesicht.
„Oh, sehr gut, Amy!“, rief Mira. „Du hast ihn erwischt! Jetzt noch den Hals absäbeln.“
Amy wurde schlecht. Sie griff nach ihrem Messer, das ihr beinahe aus den Händen rutschen wollte. Die anderen pfählten ein drittes Mal. Nur Maya stand regungslos neben ihrem Sarg.
„Ich … ich kann das nicht!“
Tränen liefen der Frau über die Wangen. Sie starrte Amy und den Rest verschreckt an.
Mit grimmiger Wut durchtrennte Amy die Haut um den Hals, schnitt durch Fleisch und hielt erst inne, als sie am Knochen ankam.
„Das reicht“, sagte Mira, die den zweiten Vampir schon fertig hatte und ihr Werk begutachtete.
Sam und Mira waren schneller als Amy und Luca. Zusammen machten sie sich an den Sarg in der Mitte. Luca stand bleich neben dem von ihm getöteten Vampire, und Maya stand schweigend neben ihrem, der nicht angerührt war.
Amy schob sie zur Seite, setzte den Pflock an und hob den Hammer. Sie dachte an ihre Freunde, die sie nur wegen solcher Wesen, bloßen Ideen, verloren hatte. Mit einem leisen Aufschrei ließ sie den Hammer nach unten sausen und durchschlug den Brustkorb der Vampirin. Neues Blut sprudelte.
Maya starrte Amy nur an. Irgendwo tief in ihrem Inneren fragte sich Amy, wann sie sich zu einer gewissenlosen Mörderin verwandelt hatte. Seit wann machte es ihr nichts aus, Blut fließen zu lassen?
Sie zückte das Messer. Die Tour hatte sie zu dem gemacht, was sie jetzt war. Eine Monsterjägerin. Sie schwor sich selbst, dass sie bis zum Ende kommen würde, dass sie Samira töten würde und ihre Freunde rächen.
Damit niemals wieder jemand wie sie werden musste.