Verlass mich nicht:
Karo wurde durch das leise Gemurmel im Bus aus ihrem unruhigen Schlaf gerissen. Es war ihr nicht schade um die Alpträume, allerdings ahnte sie, dass das wahre Leben in etwa so schlimm war wie das, was sie sah, wenn sie die Augen schloss. Und die Mädchen waren ja wirklich tot gewesen, zerfetzt und zerschnitten. Ihr wurde schon wieder übel.
„Alles gut?“, fragte Jason leise.
Karo sah auf. Sie hatte nicht mitbekommen, wann Jason und Max die Plätze getaucht hatten, aber jetzt saß Jason neben ihr und berührte sanft ihre Schulter.
„Es ist alles so furchtbar!“, erklärte sie flüsternd und sah sich dann in dem kleinen Bus um. Die anderen Gefangenen waren unruhig geworden. „Was ist los?“
Jason antwortete nicht sofort. Er sah stattdessen aus dem Fenster, wo es zu regnen begonnen hatte. Es war dichter, grauer Dezemberregen.
„Wir sind an einem Schild vorbei gekommen“, antwortete er dann endlich. „Vor ein paar hundert Metern. Offenbar führt diese Straße zu einer Mine.“
Karo riss die Augen auf: „Du meinst, Bergwerk und so? Die sieben Zwerge?“
Jason verzog das Gesicht zu einem grimmigen Lächeln: „Vermutlich nicht ganz so harmlos.“
„Natürlich“, Karo schämte sich, dass ihr zu Mine nur ein alter Disneyfilm einfiel. Aber von Horrorfilmen und -spielen hatte sie sich immer fern gehalten, und zwar aus gutem Grund.
„Wo ist Max?“, fragte sie, als sie den anderen nicht sofort entdeckte.
„Er hat mir den Ehrenplatz neben dem Fahrer abgenommen“, meinte Jason und deutete nach vorne. Tatsächlich, dort konnte Karo Max' helle Haare erkennen. Ihr fiel auch auf, wie leer der Bus war. Sie und Jason waren die einzigen, die noch im hinteren Teil saßen, die anderen, weniger als zehn, saßen vorne.
„Ist es irgendwie geheime Sitte, sich so weit wie möglich nach vorne zu setzen?“, fragte sie.
„Samira hatte irgendwann mal angedeutet, dass einer der Tour uns die ganze Zeit belauscht und bewertet. Jetzt denken alle, dass es der Fahrer ist und wollen sich einschleimen.“
„Aber es ist nicht der Fahrer?“
Jason zuckte mit den Achseln: „Ich weiß es nicht. Aber der Fahrer ist ja nicht immer dabei, richtig?“
Karo schlucke. Könnte es etwa jemand aus ihrer Gruppe sein? Der nur so tat, als würde er erpresst werden?
„Samira will bestimmt einfach nur Misstrauen sähen“, murmelte sie und presste dann die Hände an die Schläfen. „Aber wir misstrauen einander sowieso und konkurrieren um die Gunst von Mördern!Was ist das hier nur für ein Alptraum!“
Sie spürte, wie Jason vorsichtig einen Arm um ihre Schulter legte und ließ sich gegen ihn fallen. Er wiegte sie sanft hin und her.
„Es sind nicht mehr viele Hotels, Karo. Du musst durchhalten, hörst du mich? Gib bitte nicht auf.“
Sie schüttelte stumm den Kopf. Nein, sie würde nicht aufgeben. Nicht, solange Jason an ihrer Seite war und die schrecklichen Bilder verdrängen konnte, die sie gesehen hatte.
Die Toten, der zerfleischte Kannibale, und mitten drin Amy, Luca und die beiden Fremden.
Wer waren eigentlich die Monster bei dieser Tour? Und war es richtig, Amy und Luca weiterhin zu schützen? Würden die beiden sie wirklich noch befreien können?
Karo schluckte. In Wahrheit war es für sie und Max doch schon längst zu spät.