Rache:
Ihre Schuhe hämmerten laut über den trockenen Erdboden und die Steine. Mira umklammerte das Messer mit der Hand und rannte, als hätte der Untergrund sie persönlich beleidigt, so schnell wie der Wind, die Augen fest auf den Aufzug gerichtet.
Was auch immer den Hans geschnappt hatte, war offenbar mit ihm beschäftigt, denn sie überquerten den Platz und kamen am Aufzug an, ohne getötet zu werden. Allerdings klemmte der Aufzug. Sam zog die Tür hinter sich zu und starrte auf den Platz.
„Da!“, schrie Amy aufgeregt.
„Pscht!“, machte Sam, doch das Wesen hatte sie schon längst bemerkt.
Es war dürr. Zuerst erinnerte es an einen riesigen, abgemagerten Straßenhund, doch dann richtete es sich auf streichholzdünnen Beinen auf und ging wie ein Mensch, der bestimmt fünf Meter hoch war. Mira konnte die Knochen sehen, die sich durch die dünne, von Adern durchzogene Haut drückten.
Und das Wesen war nicht allein. Überall auf den Dächern tauchten die Gestalten auf, haarlos, mit großen Augen, die im Mondlicht blass und tot schimmerten.
„Wendigowak!“, flüsterte Sam und wurde totenbleich.
Mira zerrte an den Hebeln, die den Aufzug steuerten. Die Wesen kamen näher. An den Enden ihrer langen Arme besaßen sie kräftige Hände mit langen Krallen. Sie hatten spitze Ohren, die sich neugierig auf sie richteten. Fauchend kamen die Wesen näher.
Der erste Wendigo sprang, als einer der Hebel unter Miras Händen abbrach. Die vier schrien, als der Aufzug in die Tiefe rauschte. Ihr Sturz wurde erst vom Schachtboden abgebremst.
Keuchend lagen sie übereinander. Jeder hatte bei dem Sturz das Gleichgewicht verloren. Mira, die auf dem Rücken lag, konnte den schmalen Schatten erkennen, der sich vor das Mondlicht schob.
Dann krachte etwas von oben auf das Gitter des Aufzugs und begann, das Metall mit großen Händen zu zerfetzen.
„Raus hier!“, rief Sam. Sie rappelten sich auf und stürmten los, blindlings in die Dunkelheit. Hinter ihnen knirsche das Metall und gab dann kreischend nach.
Mira hörte Bewegung hinter sich. So ähnlich musste es Fay in ihrem letzten Momenten ergangen sein, ihrer unschuldigen, kleinen Schwester Fay.
Plötzlich war die Angst vergessen und Mira empfand nichts mehr als Wut. Diese Wendigos hatten ihre Schwester auf dem Gewissen!
Sie packte das Messer und wirbelte herum. Das Wesen war direkt hinter ihr, die aufgerissenen Augen auf ihr Gesicht gerichtet. Sam rempelte Mira an, als er an ihr vorbei lief.
Mira sprang vor und stieß das Messer in die dürre Brust des Wesens.
Der Wendigo war leicht. Miras Angriff riss ihn von den Füßen. Er wollte nach ihr greifen, aber sie stieß das Messer wieder und wieder zwischen die gut sichtbaren Rippen und dann in den schlanken Hals.
Krallen kratzten über ihren Rücken, aber dann war das Wesen tot. Mira hob dennoch den kahlen Schädel an und donnerte ihn auf den Boden.
„Das war für meine Schwester!“, keuchte sie.
„Ja, das hast du sehr gut gemacht“, sagte Sam und fasste ihre Schulter. Er zog sie hoch. „Aber da kommen gleich ein paar mehr.“
Tatsächlich erklang ein Kratzen aus dem Aufzugschacht. Sam zog sie davon weg.
Mira spuckte ein letztes Mal auf den Wendigo. „Verfluchte Menschenfresser!“
„Glaubst du, dass aus den Kannibalen irgendwann mal sowas hier wird?“, fragte Sam.
„Was?“, fragte Mira überrascht. Immerhin wäre es möglich, schoss es ihr durch den Kopf. Wendigowak entstanden aus Menschen, die Menschenfleisch aßen. Warum also nicht aus den Kannibalen vom Hotel davor?
Sie merkte, dass Sam sie um ein paar Ecken gezogen hatte.
„Du wolltest mich nur ablenken! Ich wäre auch so mitgekommen!“, fluchte sie.
Sam grinste. „Aber war ein interessanter Gedanke.“
„Es spielt überhaupt keine Rolle, woher die Mistviecher kommen!“, grollte Mira.