Hetzjagd:
Sam führte sie fort von dem kleinen See. Mit schnellen Schritten lief er voraus, Luca folgte ihm auf den Fuß. Dahinter kamen Karo, Ronja, Salim und Tobias, und schließlich Amy. Hinter ihr kam nur noch Mira, wie immer waren die Meister an den äußeren Seiten, erkundeten das Gebiet vor ihnen und bildeten das Schlusslicht.
Amy hatte sich eigentlich vorgenommen, ein Auge auf den Rollstuhlfahrer Tobias zu haben. Aber während sie zwischen den Gerippen der Achterbahnen hindurch liefen, überkamen sie furchtbare Erinnerungen. Sie wusste noch genau, wie es sich angefühlt hatte, durch die Geisterbahn zu rennen, überall nur Dunkelheit, dazwischen die falschen Spinnennetze, und dann Wild Childs Hand auf ihrer Schulter, Hand und Arm und nichts weiter.
Amy schüttelte sich. Bei der Erinnerung wurde ihr schlecht. Etwas Furchtbares lebte in diesem Park, und es wollte sie, einen nach dem anderen, töten.
Sam hatte eine breite Straße gewählt, die fast wie eine Hauptstraße mit wenig Windungen durch den Park führte, vorbei an Karussells, deren Spieluhrmusik durch das Alter unheimlich verzerrt wurde.
Es war tatsächlich anders als beim letzten Mal. Diesmal wurden sie nicht von einer Masse grau gekleideter Wesen mit Clownsmasken bedrängt. Es war fast unheimlich ruhig, nur ab und zu kreischte Metall in der Ferne, als würden einige der Fahrgeschäfte noch in Betrieb sein. An manchen Kreuzungen trug der Wind ihnen die Geräusche von Stimmengewirr und Gelächter zu, Laute, wie man sie in einer Geisterstadt erwartete.
Samstag hatte ein recht schnelles Tempo angeschlagen. Er joggte über die Straße, die anderen folgten ihm. Von der kalten Luft brannte Amys Lunge. Sie merkte, dass Karo, die den Rollstuhl schob, immer mehr nach hinten fiel.
"Sam!", rief Mira irgendwann. "Wir müssen langsamer machen."
Samstag blieb nicht stehen, verfiel aber ins Gehen. Er sah zu Karo, die unter den Blicken zusammenschrumpfte. "Tut mir leid."
"Nein, kein Problem", sagte Sam. "Wir wechseln uns mit dem Rollstuhl ab. Du da!", er deutete auf den anderen Jungen. "Salim, richtig? Löst du Karo bitte ab?"
"Ja. Klar", sagte Salim und übernahm den Rolli. Tobias sah nicht glücklich darüber aus, dass er so viele Probleme bereitete.
Sie liefen weiter, ein wenig langsamer. Amy bemerkte, wie Sam, Luca und Mira in jeden Gang spähten, an dem sie vorbei kamen und zwang sich, ebenfalls wachsam zu sein. Denn sie waren bestimmt nicht allein.
Bald kamen sie in einen Bereich, der dem Wilden Westen nachempfunden war. Hier wurde der Weg schmaler, und zwischen den Holzhütten, die früher vielleicht Imbissstände gewesen waren, gab es immer mehr schmale Gassen.
Und schließlich sah Amy etwas in einem der Gänge. Der Anblick war so erschreckend, dass sie stolperte und steh blieb. Eine Gänsehaut zog sich über ihren ganzen Körper, als sie zurück ging.
Mira lief beinahe in sie hinein. Amy bekam kaum mit, wie ihre Meisterin Sam zurück rief, bevor der Rest der Gruppe verschwand.
Amy starrte in den Gang, auf die untersetzte, rundliche Silhouette darin. Sie schluckte, ihr Hals war plötzlich trocken.
"Liam?", fragte sie.
Mit schweren Schritten drehte er sich um. Es war tatsächlich Liam, so bleich wie der Tod, die Augen tief in ihren Höhlen.
"Amy", sagte der kleinere Junge, die Stimme nicht mehr als ein Flüstern. Er streckte einen Arm nach ihr aus.
Amy taumelte zurück und stieß gegen jemanden, Hände fassten ihre Schultern. Sie wollte sich losreißen.
"Ich bin es nur", sagte Mira in ihr Ohr. "Komm, wir müssen weiter."
"Aber ... Liam", sagte Amy verstört. Jetzt kam der kleine Junge auf sie zu, den Kopf schief gelegt.
"Seid ihr gekommen, um mich zu retten?", fragte er bittend. "Mir ist so kalt. Hilf mir, Amy!"
"Verschwinde!", brüllte Mira den Jungen an. Mit einem Mal schien es noch viel, viel kälter geworden zu sein. Mira zog Amy zu den anderen, aber auch die hatten angehalten.
Vor ihnen auf der Straße standen zwei Personen. Amy erkannte Milo und Tee-jo. Sie sah auch die tiefen Schnitte, die sich über die Körper ihrer Freunde zogen. Es trat kein Blut mehr aus diesen Wunden.
Tee-jo wollte etwas sagen, aber ihre Kehle war zerfetzt und sie konnte nicht sprechen. Entsetzt wichen die Gäste dieses schrecklichen Parks mit dem Rücken gegen eine Hütte zurück.
Es ertönte eine Art "Gulp". Sam wirbelte alarmiert herum und fluchte plötzlich.
"Scheiße!", rief er. "Scheiße!"
Als Amy sich umdrehte, standen, bzw. saßen Karo und Tobias hinter ihr. Aber von Ronja und Salim war keine Spur zu entdecken.
Amy griff nach dem Rollstuhl und nach Karos Hand und zerrte sie von der Hütte weg, die sich plötzlich bewegte. Schwankend erhob sie sich auf ein dickes Hühnerbein und drehte sich ihnen zu, zwei Fenster zu beiden Seiten der Fronttür leuchteten auf wie Augen.
"Rennt!", rief Samstag und zog Luca zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Amy schob den Rollstuhl, Karo umklammerte den anderen Griff, ließ sich aber mehr ziehen. Amy merkte, dass Tränen über das Gesicht der Anderen liefen, und dass Tobias steif vor Schock in dem Rollstuhl saß.
Mira tauchte an Amys Seite auf, löste Karos Griff im Rennen von dem Rollstuhl und zog die Braunhaarige mit sich. "Schneller, Amy!"
Der Rollstuhl sprang über Unebenheiten im Boden, die Räder verkanteten sich in Erdlöchern. Tobias rutschte so heftig hin und her, dass Amy befürchtete, er würde heraus fallen.
Sie verließen den Westernbereich, wo nun aus allen Gassen schwankende Gestalten taumelten und krochen. Amy wollte nicht in die Gesichter sehen, aber trotzdem erkannte sie Eve, von schrecklichen Bisswunden entstellt, und einen separierten Arm mit roten Flecken, der Dimitri gehören musste.
Zum Glück waren ihre ehemaligen Freunde langsam. Und auch die Hütten blieben hinter ihnen.
Schließlich ließ Sam die keuchende Gruppe anhalten.
"Suchen wir uns einen anderen Weg", sagte er nach einem Blick in die bleichen und erschöpften Gesichter.