VIKTORIA
„Viktoria?“, fragt mein Chef, „kannst du bitte in mein Büro kommen?“
Ich seufze leise. Seit wir Frank, unseren neuen Vorgesetzten, an der Spitze haben, ist alles anders. Er hat sich die Philosophie, dass sich alle per „Du“ ansprechen, vom Chef bis zur Putzfrau, zu eigen gemacht und erhofft sich damit positive Synergieeffekte.
Letztlich bin ich davon nicht überzeugt. Entscheidend ist das menschliche und faire Miteinander. Und das definiert sich nicht durch die Anrede.
Schließlich bin ich mit Gregor auch immer beim förmlichen Sie geblieben und trotzdem…
Nein, nicht wieder an ihn denken. Das mache in den letzten Monaten viel zu oft.
Besonders seit ich weiß, dass ich ihn bald wiedersehen werde.
Nein, ich muss mich auf das jetzige Gespräch konzentrieren und darf nicht in der Vergangenheit schwelgen. Rasch folge ich ihn ins Büro und schließe die Türe hinter mir.
Ich nehme ihm gegenüber Platz. Herr Keller, also Frank, lächelt mich unverbindlich an.
„Viktoria, ich möchte mich mit dir über den bevorstehenden Besuch des Herrn Wattenstein unterhalten.“
„Von Wattenstein“, antworte ich automatisch. Soviel zum Vorsatz, den Grafen vorübergehend aus meinem Gedächtnis zu verbannen.
„Wie bitte?“, fragt der Mann irritiert.
„Gregor von Wattenstein“, erkläre ich. „Der Schriftsteller stammt aus einer alten Adelsfamilie.“
Liest er keine Zeitung, geschweige denn meine Artikel? Ich habe eine ganze Serie über den Autor geschrieben, mit seinem Einverständnis natürlich. Das war ursprünglich nicht geplant, aber Gregor hatte mir auch nach dem Interview so viel Informationsmaterial zukommen lassen.
Natürlich per E-Mail. Leider. Seit diesem Treffen vor über zwei Jahren, welches mir noch sehr gut in Erinnerung ist, habe ich leider nicht mehr persönlich mit ihm gesprochen.
Trotzdem darf ich mich nicht beschweren – durch diese vielen Daten, die er mir mitgeteilt hatte, kam mir bald die Idee, daraus eine ganze Artikelreihe zu machen.
Der Graf hatte sofort zugestimmt, allerdings mit der Auflage, meine Reportagen vorab lesen zu dürfen.
Aber auch danach brach der Kontakt nie ganz ab. Der Schriftsteller meldet sich immer wieder bei mir, wenn auch nur sporadisch.
„Ach so, nun ja, ich habe es nicht so mit dem Adel“, gibt mein Vorgesetzter unumwunden zu. Ein wenig spöttisch fügt er noch hinzu: „Das überlasse ich dann lieber der Regenbogenpresse, wie diese Klatschpresse auch immer im Detail heißen mag.“
Was soll ich jetzt damit anfangen?
„Auf jeden Fall hat er ja gebeten, dass du ihn begleitest, wie du schon weißt.“
Ich nicke. „Ja, du hast mir das ja gestern schon gesagt, allerdings noch keine Details mitgeteilt. Ich weiß nur, wann er ankommt und wie lange er bleiben wird.“
„Ja, ich habe das leider versäumt, es dir früher zu sagen, tut mir leid. Es ist auch keine klassische Leserreise. Er bleibt ein paar Tage hier, nur geladene Gäste, und alle Termine sind im näheren Umfeld.“
„Er lebt sehr zurückgezogen, wie ich weiß, daher passt das zu ihm.“, verrate ich.
„Mag sein. Du kennst ihn besser als ich. Mich erstaunt nur, dass er dich nicht vorab über seinen Besuch informiert hat. Habt ihr nicht noch Kontakt über E-Mail?“
„Er meldet sich nur sporadisch“, erläutere ich widerwillig. Als mein Chef muss ich ihm antworten, aber ich mache es ungern. „Aber ein wenig wundert das mich auch.“
„Auf jeden Fall hat er uns Unterlagen zukommen lassen. Sie kamen allerdings von seinem Büro aus Deutschland. Gut möglich, dass von dort aus alles organisiert wird, und er selbst damit gar nichts zu tun haben möchte. Auf jeden Fall ist alles sehr förmlich geschrieben, aber vielleicht kommst du damit besser klar als ich.“
Er schiebt mir einen dicken Umschlag hinüber. „Es ist alles schon organisiert, ebenfalls deine Unterkunft.“
„Meine Unterkunft? Ich verstehe nicht?“ Nun bin ich verwirrt.
„Dein Graf scheint sehr einnehmend zu sein. Alles ist detailliert festgelegt. Aber angesichts der großzügigen Ausfallentschädigung für dich während seines Besuchs und die Zusage für den Exklusivbericht für unser Magazin, kann ich darüber hinwegsehen. Wenn es mir auch nicht gefällt.“
Ich nicke. Meine Geschichten über den erfolgreichen Schriftsteller waren ein großer Erfolg und haben unsere Zeitschrift auch ein stückweit berühmt gemacht.
Aber wie ist das jetzt mit meiner Unterbringung?
„Lies dir alles in Ruhe durch. Am besten jetzt gleich. Das Telefon kannst du so lange auf einen Kollegen umstellen. Falls dir noch Fragen kommen melde dich bitte gleich, damit ich das mit dem Büro abklären kann.“
„Ich könnte auch selbst Herrn von Wattenstein kontaktieren, wenn Unklarheiten aufkommen“, schlage ich vor. „Auch wenn er sich nur selten von sich aus meldet, so hat er auf meine Nachrichten eigentlich immer recht schnell reagiert.“
„Nein, nein, das geht über meinen Tisch“, widerspricht er energisch. „Mir ist es lieber, wenn alles seinen offiziellen Weg geht.“
„Ok, dann schaue ich mir alles an und melde mich bei dir, sollte ich Fragen haben.“, gebe ich verwundert nach. Weshalb will er sich diese Mehrarbeit machen?
„Viktoria, du bist eine unsere besten Mitarbeiterinnen. Sei bitte vorsichtig“, überrascht er mich. Sein Blick ist besorgt. „Falls dir etwas komisch vorkommt zögere nicht, mich anzurufen.“
Was soll das jetzt?
Ich muss wohl ein ziemlich ratloses Gesicht machen, denn er fährt fort: „Vielleicht irre ich mich ja, aber ich habe den Verdacht, dass der Typ etwas von dir will. Verlag hin oder her, bitte melde dich dann sofort.“
Frank ist verrückt. Ich wollte, er hätte recht und der Adlige würde sich für mich interessieren.
Stattdessen scheint die Situation ganz anders zu sein. Nicht das erste Mal habe ich den Verdacht, dass Frank ein Auge auf mich geworfen hat.
Dieser Wunsch von Gregor, dass ich ihn begleiten soll, messe ich keine große Bedeutung zu. Zumindest nicht so, wie mein Chef es vermutet. Der Schriftsteller lebt sehr zurückgezogen und da wird er einfach froh sein, jemanden in der Nähe zu haben, den er bereits kennt. Deshalb ist auch alles schon so penibel durchorganisiert – der Mann will einfach keine Überraschungen erleben und geht daher lieber auf Nummer sicher.
Um dem Ganzen jedoch ein wenig Wind aus den Segeln zu nehmen, nicke ich bestätigend und teile Frank meine wahren Gedanken nicht mit.
Schwierig. Ich muss mich mit meinem Chef gut stellen, möchte ihn aber auch nicht ermutigen.
Ein weiterer Grund, weshalb ich das Duzen in meiner Firma nicht mag.
„Gut.“ Frank scheint zufrieden. „Das war auch schon alles, was ich mit dir besprechen wollte.“
Erleichtert nehme ich den Umschlag und erhebe mich von meinem Stuhl. Betont ruhig gehe ich in Richtung Türe, als mich mein Boss nochmal aufhält: „Viktoria?“
Was möchte er noch. „Ja?“, frage ich und zwinge mich, nicht unfreundlich zu reagieren.
„Ich bin für dich da, wenn du Hilfe brauchst. Du kannst mich jederzeit anrufen, egal, wie viel Uhr es ist.“
„Danke, Frank“, reagiere ich mit einem unechten Lächeln. „Ich werde daran denken.“