VIKTORIA
„Viktoria?“
Ja toll. Einmal pünktlich Feierabend machen.
Aber Frank kann ja glücklicherweise meine leicht säuerliche Mine nicht sehen. Unsere Büros sind weit genug auseinander, so dass wir uns nicht ständig über den Weg laufen.
„Was ist los?“, spreche ich betont freundlich in den Hörer.
„Ich habe gerade einen seltsamen Anruf bekommen. Ein Herr Robert Müller, der dich sprechen möchte.“
„Tut mir leid, Frank, das sagt mir nichts.“
„Er erwähnte so etwas in der Art. Dass du ihn nicht kennen würdest. Aber es sei wichtig. Irgendwie geht es wohl um deinen Gregor.“
Jetzt ist das schon „mein Gregor. Irre ich mich oder wirkt mein Chef leicht gehässig?
„So gut kenne ich ihn eigentlich nicht. Was soll mit Gre… Herr von Wattenstein sein?“
„Keine Ahnung. Das wird er dir gleich sagen. Er wollte in ein paar Minuten vorbeikommen.“ Eine kurze Pause, dann fährt er fort: „Ich weiß, du hast eigentlich schon Feierabend. Aber der Typ klang wichtig. Und auch irgendwie seltsam.“
Ich verkneife mir ein Seufzen. Es hilft ja nichts. „Ja, Frank, ich warte. Aber dann komme ich morgen zwei Stunden später, ok? Ich habe eh jede Menge Überstunden.“
„Das geht natürlich klar. Ich bin auch noch da, falls du Hilfe brauchen solltest.“
„Ich glaube, das bekomme ich schon hin, keine Sorge.“ Weshalb kann er das nicht lassen?
„Ich lasse dich mit dem Fremden nicht allein. Ich habe ja eine Verantwortung für meine Mitarbeiter.“
Wie will er das machen? Danebenstehen, wenn der ominöse Besucher nachher kommt? Heimlich lauschen?
Verdammt, weshalb sucht er sich nicht jemand anderen, den er bemuttern kann?
Andererseits könnte es sein, dass ich ihn nur noch mehr anstachle, wenn ich das offen ausspreche. Auch ist und bleibt er nun mal mein Chef.
„In Ordnung.“, lüge ich deshalb. „Du sagtest, er wollte gleich vorbeikommen?“
„Ja. Hoffen wir mal, dass er sein Versprechen einhält. Ich habe eigentlich auch genug von meinem Büro für heute. – Also, ich mach hier mal weiter. Wenn was ist, bitte melden.“
„Ja sicher, Frank.“
Nur im äußersten Notfall.
Ein überraschender Besuch, der gleich hereinschneien soll – was soll ich da jetzt noch arbeiten? Konzentrieren kann ich mich eh nicht mehr. Auch natürlich, da es sich um den Schriftsteller handelt.
Was ist das, was man mir mitteilen möchte?
Schlecht gelaunt rufe ich die Suchmaschine auf. Ich wollte da doch noch einiges recherchieren für meinen neuen Bericht?
Mein Versuch, mich so abzulenken, funktioniert leider nicht. Wie alles, was mit Gregor zu tun hat.
Ich seufze. Eigentlich müsste das doch besser werden, oder? Über zwei Jahre, und meine Sehnsucht nach Gregor wird immer größer. Das ist doch nicht normal, oder?
Dabei ist überhaupt nichts passiert. Außer in meinem verrückten Träumen.
Wenn ich abends zu Hause bin, stelle ich mir oft heiße Dinge vor. Dass er nachts zu mir kommt. Mal ist er ein Mensch, mal trägt er ein Vampirgebiss.
Ich bin echt ein wenig durchgeknallt. Aber das sind alles unerfüllte Sehnsüchte. Zumindest meinte das der Arzt, den ich damals nach meinem Besuch in der Toskana kontaktiert hatte.
Trotzdem verstehe ich nicht, warum mir dieser Mann nicht aus den Kopf geht.
Ich seufze und überfliege die Website. Nicht ganz das, was ich gesucht habe. Aber vielleicht hilft mir ja der zitierte Link weiter?
Etwas lustlos klicke ich darauf.
Eigentlich ganz interessant. Wenn ich denn im Moment einen Kopf dafür hätte.
Widerwillig lese ich die Zeilen durch und kopiere eine wichtige Textpassage in die Zwischenablage, um sie direkt in mein Word Dokument einzufügen. Gleich darunter schreibe ich die Internetadresse.
Ob ich das später tatsächlich verwenden werde, weiß ich noch nicht. Aber alles sammeln und später aussortieren ist sicher nicht das Schlechteste. Vor allem, wenn man gerade nicht ganz bei der Sache ist.
Auf diese Weise fahre ich fort und schaffe es doch tatsächlich, ein wenig abzuschalten.
Ich bin sogar am Überlegen, mir noch einen Kaffee zu holen, als es an meiner Tür klopft. Ehe ich in irgendeiner Weise reagieren kann, wird sie auch schon geöffnet und ein Fremder tritt in mein Büro.
Das muss der angekündigte Besucher sein.
Ganz schon unhöflich, so einfach hereinzuplatzen und nicht mal meine Antwort abzuwarten.
Und warum hat Frank mich nicht informiert? Erst macht er einen solchen Zauber, mich beschützen zu wollen, und nun geht er einfach so in Deckung?
Ich schätze den Mann so um die Mitte Zwanzig ein. Kurzes blondes Haar, grüne Augen, ein etwas längliches, hageres Gesicht. Auch sonst ist er eher dünn und schlaksig – bei einer Körpergröße von gute 1.90 Meter fällt das wohl auch besonders auf.
Trotzdem wirkt er auf eine Weise sehr attraktiv auf mich. Was auch an seinem sonst gepflegten Äußeren liegen mag. Akkurat gestutzter schmaler Oberlippenbart, das restliche Gesicht glattrasiert. Enganliegende Jeans und ein weißes Hemd mit Krawatte.
Geht der noch zu einer Hochzeit?
Etwas irritiert mich an ihm. Und das liegt nicht nur an seinem etwas seltsamen Eindringen in mein Büro. Aber ich habe ein leicht mulmiges Gefühl, als ich ihn anblicke.
„Guten Abend, Frau Helmstett. Entschuldigen Die bitte die Störung. Ich nehme an, Ihr Chef hat mein Kommen angekündigt?“
Was ist das für ein Kerl?
Auch seine Bitte um Verzeihung nehme ich ihm nicht ab. Dazu wirkt er viel zu selbstgefällig.
Trotzdem nicke ich. Normalerweise würde ich ihn ja einen Stuhl anbieten. Aber so unhöflich wie er ist, verzichte ich darauf.
Es scheint ihn aber auch nicht wirklich etwas auszumachen. Sein Lächeln wirkt kalt und erreicht seine Augen nicht, als er meint: „Ich werde Sie nicht lange aufhalten. Sie wissen um was es geht?“
Ist das jetzt eine Frage?
Er mag ein schönes Äußeres haben, aber durch dieses Gebaren verspielt er gerade den letzten Rest meiner Sympathie.
„Ich denke schon. Um Herrn von Wattenstein, sagte man mir.“, antworte ich vorsichtig.
„Richtig. Um den werten Herr von Wattenstein.“ Er betont den Namen so, als sei er etwas Ekliges.
Verdammt! Mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter. Der Mann ist mehr als nur unheimlich.
Nun wäre ich doch froh, Frank wäre hier. Wo ist er? Erst große Töne spucken, und dann ist er nicht da.
Mühsam schlucke ich und versuche nicht zu zeigen, wie er mich einschüchtert. Stattdessen zwinge ich mich, ihn möglichst normal anzusehen und versuche, meiner Stimme einen möglichst gleichmütigen Klang zu geben. „Was ist mit ihm?“
„Ihr auch so berühmter Gregor“, er spuckt den Namen geradezu aus, „ist nicht das, was er zu sein scheint.“
„So?“ Ganz ruhig bleiben. Ich sollte ihn besser nicht provozieren.
Herr Müller – diesen Namen hatte Frank doch genannt, oder? – macht einige Schritte auf mich zu. Unwillkürlich springe ich von meinem Schreibtischstuhl auf und weiche zurück.
„Er hat sie schon korrumpiert, nicht wahr?“, fragt er zischend und sieht mich fast böse an.
Wie bitte?
„Ich… ich... verstehe ni… nicht.“, stottere ich.
Der Kerl macht mir eine scheiß Angst.
Paradoxerweise scheint ihm meine Reaktion etwas zu besänftigen. „Also doch noch nicht vollständig, wie es scheint.“ Er verzieht sein Mund zu einem Lächeln, was aber eher wie eine Grimasse wirkt als eine freundliche Geste. „Ich bin hier, um Sie zu warnen. Dieser Adlige ist nicht so harmlos, wie es scheint. Er ist gefährlich. Und wie es aussieht, hat er es auf Sie abgesehen.“
„Ich weiß nicht, was Sie meinen“, flüstere ich.
Er tritt näher. Ehe ich ausweichen kann, hat er seinen Zeigefinger unter mein Kinn gelegt und drückt mein Gesicht unsanft nach oben, so dass ich Richtung Decke blicken muss.
Seine Hand ist eiskalt und ich wage es nicht, mich zu wehren. Mein Herz pocht laut und rast. „Bitte, ich…“, röchle ich.
„Ein hübscher Hals. Kein Wunder, dass er nicht widerstehen konnte.“ Ein bösartiges Lachen. „Aber er hat sein Werk nicht zu Ende gebracht.“ Abrupt lässt er mich wieder los. „Ein Glück für Sie.“
Ich kann nicht anders, als ihn wortlos anzustarren.
Zu meiner Überraschung wendet er sich jedoch von mir ab und geht bereits wieder Richtung Tür.
Erleichtert atme ich schon auf, als er sich nochmals umdreht. „Wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist – meiden Sie ihn, wo immer es geht. Sonst werden Sie schon sehr bald Bekanntschaft mit einem Sarg machen dürfen.“