GREGOR
Um halb Sieben klingelt mein Telefon.
Ein kurzer Blick auf das Display zeigt ihr, dass SIE es ist. Meine Detektive haben wenigstens hier gute Arbeit geleistet und so kann ich „Viktoria Verlag“ in der LED Anzeige lesen.
In der Mail stand die „Bitte“, mich heute zwischen sechs und sieben anzurufen. Sie hat die goldene Mitte gewählt.
Nachvollziehbar, hätten wohl die meisten Sterblichen so gemacht. Dieser Anruf ist keine Routine für sie und sicher hat sie mit sich gehadert, ihn zu tätigen.
Dann wollen wir also mit dem Spiel beginnen.
Mit einem leichten Lächeln nehme ich das Gespräch an. „Graf Gregorius von Wattenstein!“
Natürlich darf sie nicht ahnen, dass ich bereits weiß, wer am anderen Ende der Leitung sitzt. Die förmliche Anrede soll dies noch unterstreichen.
Nun ja, ehrlich gesagt möchte ich sie vor allem ein wenig ärgern.
Es dauert einen kurzen Moment – zu lange, um nicht auffällig zu sein – bis sie antwortet: „Guten Abend. Hier ist Viktoria Helmstett. Ich habe Ihre Telefonnummer von der Mail.“
Sie hat sich diese Antwort vorher zurechtgelegt, das kann ich deutlich heraushören. Hält sie mich wirklich so dumm, dass ich nicht merke, wenn ein Satz auswendig daher gesagt wird?
Was mir im Augenblick jedoch reichlich egal ist. Es tut unheimlich gut, ihre Stimme zu hören.
Endlich! Es ist einfach zu lange her.
Ich merke, wie der Vampir in mir erwacht. Meine Augen beginnen zu flackern und die Fingernägel beginnen, sich vorzuschieben.
Ich unterdrücke es nicht – schließlich bin ich zu Hause. Dies werde ich in Deutschland eh noch oft genug tun dürfen – mein wahres Wesen verschleiern. Lediglich meine Zähne bleiben, wo sie sind, da sich meine Aussprache mit ausgefahrenen Fangzähnen leicht verändert.
„Viktoria!“ Ich heuchle Überraschung, als hätte ich nicht schon den ganzen Abend darauf gewartet. „Es freut mich, Sie zu hören.“ Das wenigstens ist nicht gelogen. „Dann hat man die Nachricht also an Sie weitergeleitet?“
Natürlich hat man das. Ihr Chef ist ja nicht blöd. Aber das sage ich jetzt nicht laut.
Gleichzeitig lege ich einen lockenden Unterton in meine Stimme. Zu subtil, um von ihr bemerkt zu werden, aber dennoch wirksam.
Auch wenn wir die Sterblichen normalerweise nicht mehr aktiv jagen, so beherrschen wir alle diverse Tricks, um unsere Beute zu uns zu bringen. Ein Erbe unserer Natur sozusagen. Es sind Nuancen, auf die der Mensch reagiert, ohne sich dessen immer bewusst zu sein. Schließlich war es in der Vergangenheit notwendig, unsere Blutspender von den anderen wegzulocken, um unentdeckt zu trinken.
Dies ist jedoch nicht die einzige Möglichkeit, die wir haben. Wir können in den Geist des anderen eindringen und ihn in gewissen Grenzen beeinflussen.
Diese Fähigkeit geht sogar noch weiter. Durch Sichtkontakt, während eines Gesprächs beispielsweise, ist es möglich, ein mentales Band zu knüpfen, welches uns befähigt, intensiver in den Kopf des anderen einzudringen. So entsteht eine zweite Wirklichkeit, die sich für den Sterblichen sehr real anfühlt. Man kann sich auf dieser Ebene unterhalten und ich kann dem Menschen alles fühlen lassen, was er sonst auch wahrnimmt. Die einzige Voraussetzung ist, dass die räumliche Entfernung nicht allzu groß ist.
Dies ist jedoch mental sehr anstrengend und daher auch nicht als Dauerzustand geeignet.
Bei ihrem Besuch in der Toskana hatte ich mich dieser Begabung bedient, um mich ihr als Vampir zu nähern und ihre Reaktionen zu testen, bis ich schließlich entschloss, sie an mich zu binden. Mein Spieltrieb war da natürlich auch beteiligt – wir Vampire sind da ein wenig wie die Katzen und ihre Mäuse.
„Ja, natürlich“, höre ich sie nun auf meine rhetorische Frage antworten und verhindert dadurch, dass ich geistig weiter abschweife.
Obwohl sie es zu verbergen versucht, kann ich ihre Aufgeregtheit heraushören. „Deshalb rufe ich an. Wir müssen uns über den geplanten Ablauf unterhalten, Herr von Wattenstein.“
„Bitte! Nicht so förmlich! Wir hatten doch abgesprochen, uns beim Vornamen anzusprechen“, entgegne ich mit einem leichten Grollen. Ihre Anrede ist mir zu steif und auch dieser Satz klingt wie vorher auswendig gelernt.
„Natürlich! Verzeihen Sie, ich wollte nicht unhöflich sein“, beschwichtet sie sofort.
„Schon gut“, gebe ich mich versöhnlich. Dass sie sich so schnell einschüchtern lässt, gefällt mir nicht wirklich. Weshalb ist sie so unsicher? Fast meine ich sogar, ein leichtes Unbehagen, wenn nicht sogar Angst, rauszuhören. „Es ist schön, nach so langer Zeit wieder Ihre Stimme zu hören“, füge ich deshalb rasch hinzu und spreche meinen vorherigen Gedanken laut aus in der Hoffnung, sie damit zu beruhigen.
„Das geht mir auch so. Gregor…“ Sie spricht nicht weiter.
Ja, das ist eindeutig Furcht. Vor mir? Oder will sie sich aus einem anderen Grund nicht mit mir treffen?
Ich muss das unbedingt herausfinden.
„Viktoria? Sprechen Sie ruhig weiter“
„Ich… es geht nicht!“
„Was geht nicht, meine Liebe?“, hake ich unschuldig nach. Natürlich kann ich mir denken, um was es geht – sie wird gleich versuchen, mir erneut abzusagen.
„Ihr Besuch! Ich kann sie nicht begleiten!“, bestätigt sie auch schon meinen Verdacht.
„Ah ja, Ihr Freund, stimmt“, entgegne ich mich scheinheilig.
„ÄHM... ja. Er ist furchtbar eifersüchtig. Es tut mir leid.“ Wenigstens hat sie den Anstand, kurz zu zögern. Leicht kommt ihr die Lüge nicht immer die Lippen.
„Für Eifersucht besteht kein Grund! Es ist schließlich ausschließlich eine Reise für meine Leser!“, widerspreche ich sanft.
Lügen kann ich besser als sie.
„Sie kennen ihn nicht!“
‚Und du auch nicht, da es ihn nicht gibt‘, füge ich in Gedanken hinzu. Aber dass sie ihn weiter als Grund vorschiebt, kommt mir nicht ungelegen. Ich hatte ja damit gerechnet und mir bereits eine entsprechende Reaktion zurechtgelegt.
„Wissen Sie was? Bringen Sie ihn doch einfach zum ersten Treffen mit. Ich bin sicher, bei einem persönlichen Gespräch lassen sich solche Dinge leicht aus der Welt bringen“, schlage ich nun deshalb mit einschmeichelnder Stimme vor.
Vielleicht nicht ganz nett, auf diese Weise mit ihr zu spielen, aber ich kann nicht widerstehen, wenn sie mir diese Steilvorlage bietet.
Dieses Angebot würde ich nicht machen, gebe es ihn tatsächlich. Oder wenn dann nur in der Absicht, einen unliebsamen Konkurrenten auszuschalten.
Sie antwortet nicht sofort, was mich frech grinsen lässt. Damit hatte sie wohl nicht gerechnet.
Zu blöd aber auch, wenn man vorsätzlich lügt und der Betroffene es herausbekommt, ohne dass man es selbst bemerkt.
„Mein Freund ist zurzeit im Ausland“, kommt endlich eine zögerliche Reaktion.
Diese Frau ist nicht geübt die Unwahrheit zu sagen, das kann man deutlich merken.
Was mir wiederum auf groteske Art gefällt, obwohl ich damit keine Skrupel habe.
Kurz bin ich versucht, sie noch ein wenig weiter zu foppen und mich nach Details zu erkundigen. Aber ich möchte ja auf etwas ganz Bestimmtes hinaus.
„Das ist sehr schade, ich hätte ihn gerne kennengelernt. Aber da er nun mal nicht da ist, hätte ich einen Alternativvorschlag, der Ihnen zusagen dürfte.“
„Und der wäre?“, kommt es zögerlich und auch ein wenig misstrauisch aus dem Telefon.
„Ich werde eh ein paar Tage vor den offiziellen Beginn meiner Lesereise in Deutschland ankommen. Was halten Sie davon, wenn wir uns vorher abends treffen? In einer Kneipe oder Gaststätte, die Wahl überlasse ich Ihnen. Das macht einfach mehr Sinn, statt nur über E-Mail oder Telefon.“
„Gregor, ich weiß nicht...“ Richtig überzeugt habe ich sie noch nicht.
Ich lasse bewusst ein leicht resigniertes Seufzen hören, ehe ich fortfahre: „Viktoria, ich würde die Sache gerne klären. Ich sagte Ihnen ja damals während unseres Interviews schon, dass ich zurückgezogen lebe. Und da Sie eine sehr angenehme Gesprächspartnerin sind, war das eine meiner Bedingungen. Jemand, den ich ein wenig kenne zwischen all den Fremden, denen ich begegnen werde. Ich bin ein wenig betrübt, dass meine Absicht offensichtlich missinterpretiert wurde.“
„Herr Graf, ich… es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht verletzen. Ich weiß, dass Sie ein Gentleman sind und die Situation nie ausnutzen würden.“
Sie schweigt und fühlt sich ein wenig schuldig. Also habe ich sie da, wo ich sie haben wollte.
„Dann spricht auch nichts dagegen uns zwei oder drei Tage vorher zu treffen? Ein Ort mit angenehmer Atmosphäre, maximal fünfzig km von meiner Unterkunft entfernt. Ich überlasse Ihnen die Auswahl, es sollte aber nicht vor sechs Uhr abends sein und ich möchte keinesfalls etwas essen. Bekommen Sie das hin?“
Mein letzter Satz klingt herausfordernd und appelliert an ihren Ehrgeiz. Und da ich ihr das Organisieren überlasse gaukle ihr gleichzeitig vor, die ganze Situation beherrschen zu können.
„Das würde ich schon. Aber meinen Sie, es bringt uns weiter?“
Es wird Zeit, ihr meinen letzten Köder hinzuwerfen – denn wenn wir uns erst mal gegenüberstehen, sieht die Welt ganz anders aus. Meinen Vorschlag kann sie nicht ablehnen – dafür ist er zu attraktiv. Also antworte ich mit sanfter Stimme:
„Viktoria, es ist immer besser, solche Dinge in einem persönlichen Gespräch zu klären. Ich hatte schon geplant, die Lesereise abzusagen, da ich mich schwer tue, mich an jemand Neues zu gewöhnen. Aber das wäre ungerecht denen gegenüber, die fest mit mir rechnen und sich auf mich freuen.“ Ich hole tief Luft, ehe ich zum letzten Schlag aushole. „Sollten Sie mich bei unserm Treffen davon überzeugen, dass Ihre Kollegen ein adäquater Ersatz sind, werde ich darauf eingehen. Nur dies ist eben meine Bedingung dafür – dass wir uns beide vorher persönlich treffen.“
A/N:
Wer „Das Interview“ gelesen hat wird sich vielleicht an eine Szene erinnern, in der sich Gregors Augen zu verändern schienen – dies war der Moment, als der Vampir dieses „mentale Band“ schuf.
Es gibt möglicherweise noch eine weitere Fähigkeit, wie die Blutsauger ihre Beute sichern können. Diese wurde oben nicht weiter ausgeführt, da es dann zu lange und zu sehr vom Gespräch weggeführt hätte. Ob ich es in dieser Geschichte mit einbaue, wird sich zeigen. Die Vampire dürfen ja auch nicht zu mächtig werden.
Dass Gregor auch manipuliert, konnte man in der Vorgeschichte bereits erahnen. In diesem Kapitel konnte man es konkret miterleben. Der Graf sollte auch nicht zu nett werden, sonst wird es (mir) bei allen Widrigkeiten zu einfach, ohne aber in das Bad Boy Klischee zu verfallen. Aber Gregor ist als Vampir auch ein wenig ein Raubtier, das gewohnt ist, seine Beute einzufangen und zu bekommen.
Viktoria wird auch noch eine Charakterentwicklung erfahren. Es erscheint mir notwendig, um gegen Gregor bestehen zu können. Wie das vonstatten gehen wird, bleibt erst mal mein Geheimnis. Oder, um ehrlich zu sein, weiß ich es selbst noch nicht genau.