Gemächlich schreitet er durch die so beengten Gänge und lässt geflissentlich die Blicke außer Acht, die ihn auf Schritt und Tritt verfolgen. All die negativen Gefühle der Umstehenden scheinen wellenartig durch seinen Leib hindurch zu ziehen und doch interessieren sie ihn kaum noch. Warum auch? So lange hat er mit ihrem Gaffen gelebt. Der Hass brodelt sinnlos in ihnen. Wenn sie doch nur wüssten.
Eben jener Hass hat den Jungen nun gänzlich unter Kontrolle, während er seinen Weg durch die Schule fortsetzt. Nur beiläufig bleiben die Augen Andrews an den anderen Schülern hängen, während er doch nur den Einen sucht. Als vollkommen Unbeteiligter sieht der Braunhaarige zu, wie sich all die Menschen um ihn herum bewegen, miteinander interagieren und ihn doch zur gleichen Zeit anstarren. Der Junge badet regelrecht in negativer Aufmerksamkeit. Doch für sein Vorhaben ist all das nicht mehr wichtig.
Und wieder baut sich ein Schatten vor ihm auf. Ein seichtes Lächeln ziert Andrews Lippen. »Guten Tag, Callum. Ich habe mich ehrlich gesagt schon darauf gefreut, dich zu sehen.« Ein hämisches Lachen erklingt. »Du scheinst ja echt auf Schläge zu stehen«, knurrt der Blonde lächelnd und beginnt noch im selben Moment die Fäuste zu ballen.
Der Junge lächelt nur seelenruhig und greift in die Tasche seiner dunkel gehaltenen Jacke. »Gönnst du dir noch einen kleinen Snack bevor ich dich fertig mache?«, setzt sein langjähriger Peiniger wieder zum Spott an. Doch sofort weicht die Häme aus seinem Gesicht, als er den eisigen Tod an seiner Stirn spürt. »Ich denke nicht, dass es heute dazu noch kommen wird.« Der Blonde beginnt zu zittern. Sein sonst so übermächtig wirkendes Selbstbewusstsein scheint wie weggewaschen. Nur mit Mühe kann er den Fluchtimpuls unterdrücken.
Ein metallisches Klicken unterbricht seine rasenden Gedanken und lässt ihn zusammenfahren. Die Waffe ist entsichert worden. Vollkommen hilflos und mit wässrigen Augen starrt er in das vollkommen ausdruckslose Gesicht des sonst so verhassten Außenseiters. »Wir können über alles reden, hörst du? Das, was du tun willst, ist falsch. Du willst dich rächen. Das war doch alles nur Spaß. Es tut mir leid. Aber wir können das anders regeln. Bitte nimm‘ die verdammte Pistole runter.«, bringt Callum, der sonst davon überzeugt ist, die gesamte Schule unter seiner Kontrolle zu wissen, zittrig hervor. Der Jäger zögert und versucht zu ergründen, ob sein Peiniger nur lügt, um sich selbst vor dem Tod bewahren zu können. Dieser Gefühlsumschwung erstaunt Andrew. Wie wechselhaft Menschen doch sind.
Dann verhärten sich seine Züge wieder. »Es ist vorbei, Callum«, flüstert er leer in die so bedrohliche Stille hinein. »Bitte, ich-« Weiter kommt er nicht. Denn schon hat die Kugel sein scheinbar unbrauchbares Hirn durchbohrt und beginnt nun seinem Leib alles Leben zu entziehen.
Immer starrer und wässriger werden die blinden Augen und scheinen geradezu überzuquellen, während aller Glanz schwindet. Die Welt verlangsamt. Wie in Zeitlupe kann der Junge jede Bewegung des Fallenden mitverfolgen. Kein Zucken der versagenden Muskeln entgeht dem Beobachter. Das Blut spritzt ihm entgegen. Er wischt sich über die Augen, denn er will nicht einen Moment des Todesschauspiels, das da direkt vor seinen Füßen abläuft, verpassen. Zu fasziniert ist der Junge von der vollendeten Angst und dem wohltuenden Schmerz in dem so verhassten Gesicht seines Peinigers.
Doch noch lässt der Braunhaarige die Waffe nicht sinken. Immer mehr Schüsse dringen in den bereits leblosen Körper ein. Nie wieder soll Callum aufstehen. Das kann Andrew einfach nicht zulassen. Unüberhörbar hallt jeder einzelne Schuss durch die Gänge. Der Schütze wird von seinem Triumph geblendet. Letzte Zweifel verfliegen. Doch warum sollte nur einer von ihnen sterben? Andrew lädt nach. Sie sind alle Schuld. Sie alle haben ihn ermutigt. Ohne wahrhaftig zu sehen, kann er ihre Blicke erahnen. Voller Schrecken durchbohren sie seinen Körper. Der Braunhaarige lacht nur. Sie hätten einfach fliehen sollen. Wahllos verteilt er Schüsse im gesamten Raum. Sieht seine Mitschüler alle nach und nach zu Boden fallen.
Neue Gedanken erklingen stimmhaft im Kopf des Jungen. Warum tut er das? Wollte er sich ursprünglich nicht nur an dem Einen rächen? Nein. Sie alle haben ihn gedemütigt. Er kennt sie nicht. Und doch weiß er wer sie sind. Menschen, die alles, was anders als sie selbst ist, verachten und mit allen Mitteln zu vernichten versuchen. Mit ihrem Tod kann er eine neue, freiere Welt erschaffen. Der Schmerz wird endlich versiegen.
Das Blut fließt. Immer mehr Alltagsmonster hauchen vor den Füßen des Amokläufers ihr Leben aus. Das Gefühl der Macht beflügelt ihn. Sie sterben. Er rettet diese verkommene Welt. Warum nur sollte all dies falsch sein?
Wie ein eitler Künstler betrachtet er sein Werk. Das kalte Weiß ist nun von dunklem Rot durchsetzt. Überall liegen ihre sterblichen Überreste. Der Geruch des Todes hängt schwer im Raum. Schwach klingeln die Ohren des Jungen. Schüsse scheinen sein Gehör betäubt zu haben. Und so hört er nicht, wie die Sirenen immer lauter werden.