Und nun sitzt er hier, während das Sonnenlicht sich immer mehr dem Ende zuneigt. Die Melodie verklingt. Das Schweigen des Abends hüllt ihn ein. Noch immer kann er die Kinder sehen, wie sie am Straßenrand sitzen und miteinander interagieren. Wie damals. Seine Hand zuckt wieder. Ein alter Reflex.
Wie haben sie ihn nur so verachten können? Das Schicksal zürnt ihm und lässt ihn für jeden Fehler, den er damals begangen hat, büßen. Die Welt traktiert ihn. Warum nur? Er hat versucht diesen Müllhaufen zu einem besseren Ort zu machen. Welches Recht haben sie gehabt, dass sie ihn einfach wegsperrten? Sein Leben ist vergeudet, dabei hätte er noch so viel bewirken können. Haben sie wirklich geglaubt, dass diese dunklen Jahre der Gefangenschaft seiner Besserung dienlich sein könnten? Eher haben sie ihn noch tiefer in den Abgrund seiner Selbst gestürzt. So oft hat er da gelegen, mit schmerzendem Hintern und tränendem Auge, und hat sich gefragt, warum er so bestraft wird. Sie haben ihn verraten und gequält, da er anders als die breite Masse war. Sie entzogen ihm die Freiheit, als er Vergeltung für all diesen Schmerz gefordert hat. Und schließlich straften sie ihn mit Undankbarkeit und Verachtung, als er versucht hat, sein Leben noch einmal von Neuem zu beginnen.
Genug. Die Gedanken werden lauter. Ein Schrei nach Vergeltung dröhnt erneut durch seinen gesamten Leib. Alles verschwimmt. Er ist allein mit seinem dunklen Begleiter, der sich über all die Jahre in seinem Verstand gebildet hat. Er flüstert. Die grausamen Stimmen der Vergangenheit erfüllen seinen Kopf. Zu oft hat er ihre Geister bereits gesehen. Sie verfolgen ihn. Doch eine Qual ist diese Jagd keineswegs, eher eine Last, mit der er notgedrungen leben kann.
So oft haben sie ihm seine Fehler vorgehalten. Doch was wissen sie schon? Glauben sie wirklich, sie könnten ihn verurteilen? Sie verstehen ihn nicht. Wie könnten sie auch? Wahrhaftige Pein ist ihren minderbemittelten Geistern fremd. Nie wissen sie, welche Macht Worte, oder auch Schläge, haben. Sie schlagen, treten und werfen mit widerlichen Worten um sich, und im nächsten Moment wundern sie sich, warum ihre Stirn von einer kalten Kugel durchbohrt wird.
Leer starrt er auf die Menschen vor der Fensterscheibe. Die Geister erwachen zum Leben. Diese Menschen scheinen so weit entfernt hinter dieser gläsernen Mauer. Wieder rückt die Welt von ihm fort. Allein er scheint noch zu denken. Alle anderen sind nur Statisten. Gesteuert vom dumpf schlagenden Herzen dieser trägen und nichtssagenden Gesellschaft. Immer tiefer wird der Abgrund. Und wieder hat er das dringende Bedürfnis sie alle einfach hinein zu stoßen.
Das Fenster öffnet sich. Wieder zuckt seine eine Hand zur Hüfte. Die Pistole ist die Alte. Über all die Jahre hat seine Mutter sie im Wandschrank aufbewahrt. Möge sie in Frieden ruhen.
Starre, verkrampfte Finger umfassen erneut ärmlich das metallisch schimmernde Eisen. Altbekannte Macht durchströmt ihn, als die Geister hämisch auflachen. Sie übertönen die so ohrenbetäubenden Schüsse, welche nun in alle Richtungen strömen. Die Welt wird in dunkles Rot und gräuliches Weiß taucht. Der Blutregen bildet rubinfarbene Pfützen auf dem brüchigen Asphalt der staubigen Straßen. Wieder fallen sie. Nach und nach hauchen sie alle ihr Leben aus. Doch nicht alle bleiben an Ort und Stelle. Vom Lebenstrieb voran gedrängt, versuchen sie zu fliehen. Anders als seine Mitschüler vor zehn Jahren. Doch weit lässt er sie nicht kommen.
Noch bevor sie auch nur drei Schritte tun können, werden sie vom Kugelhagel eingeholt. Wie fragil doch ihre leeren Köpfe sind. Schädeldecken reißen in Sekundenschnelle auf. Offenbaren weißliches Hirn und dunklen Lebenssaft. Kaum kann er sich den tauben Schmerz vorstellen, der kurz vor ihrem viel zu vorzeitigen Ableben eintreten muss. Wieder legt sich ein seichtes, beinahe hämisches Grinsen über sein - mit der Zeit schmaler gewordenes - Gesicht. Wieder fühlt es sich richtig an.
Sie haben wirklich geglaubt, dass er sich geändert hätte. Aber nein. Alles nur Teil des Plans. Sie haben ihn sein Werk nicht vollenden lassen. Und zehn Jahre hat er warten müssen, ehe die Welt erneut auf seine Fassade der Ruhe und Gelassenheit hereingefallen ist. Wenn sie nur wüssten, welche Narben noch immer seine zweite Haut verschandeln. Und welch unbändiger Zorn ob Tag ob Nacht, gleich einem Erdbeben, in seinem Innern rumort. Nichts hat sich geändert. Ebenso wie die Welt, wird er immer derselbe sein. Doch im Gegensatz zu ihr ist er in der Lage vor aller Konsequenz und allem Schmerz zu fliehen.
Die Waffe sinkt. Seine Augen schließen sich. Alle albtraumhaften Erinnerungen wiederholen sich. Das Lenkrad hat freie Hand. Nie wieder ins Gefängnis. Ein seliges Lächeln legt sich über seine Lippen. Und das Letzte, was er hört, ist der endgültige Knall, ehe jegliches Bild in sich zusammenbricht.