"Was machst du, wenn Bacchus nicht mehr da ist?" Nancy, meine Reitlehrerin, versuchte beiläufig zu klingen, aber mir sträubten sich alle Nackenhaare.
"Warum sollte er nicht mehr da sein?" Mein Pflegepferd, ein brauner Hesse mit Vollblutanteil, war zwar mit rund 19 Jahren nicht mehr jung, hatte aber dennoch eine bessere Kondition als die Privatpferde, die meistens nach einer Stunde schon schweißnass waren, und überholte im Gelände locker alle anderen Schulpferde. So what? Außer, dass einige Kinder Angst vor ihm hatten, weil er sich beim Satteln anstellte, als wollte man ihn abstechen. Dass er sich manchmal aufbäumte, wenn er aus seinem Stand geführt werden sollte. Dass er beim Füttern von einem Bein aufs andere trat und man besser schnell die Flucht ergriff, weil er gerne mal nach demjenigen schnappte, sobald der Inhalt des Eimers in seiner Krippe gelandet war. ... Doch wer wollte ihm alle diese Unarten verdenken? Eigentlich hätte er Zeit gebraucht, um seinen Sattelzwang zu heilen. Eigentlich sollte er in einer ordentlichen Box stehen und nicht auf einem schmalen Fleck angebunden sein. Immerhin liebte er Hedwig, die Holsteiner Stute an seiner Seite. So war sie die einzige, die ungestraft sein Futter klauen durfte, wenn ihres in ihrem großen Maul längst verschwunden war.
"Weiß nicht." Nancy holte mich aus meinen Gedanken. "Ich muss mal ..." Mit irgend einer Entschuldigung verdrückte sie sich.
Voller Angst blieb ich zurück. Ging unschlüssig zu meinem Liebling und streichelte ihn. "He, du bleibst. Ist das klar?"
Bacchus schnaubte und tastete meine Hosentaschen nach etwas Essbarem ab. Ich musste lachen. Band ihn los und führte ihn auf den Gang, um ihn gründlich zu striegeln. Schade eigentlich, dass mir mein Huffett geklaut worden ist. Musste einer der Privatpferde-Mädchen gewesen sein. Alle anderen waren beim Unterricht gewesen, vorher war es noch da - anschließend nicht mehr. Während ich mich ans Werk machte, knabberte Bacchus an meiner Rückseite herum. Ich freute mich, dass er sich ohne Gegenwehr von mir führen und putzen ließ. Das war nicht immer so gewesen. Das erste Mal hatte er wild herumgetrampelt und geschrien. Zum Fürchten! Eine andere Reitschülerin hatte die rettende Idee: 'Lass uns doch Hedwig auch rausholen.' Siehe da, als sie neben ihm stand, beruhigte er sich sofort. Zwei oder drei Wochen später gehörte ich zu seiner Routine und ich brauchte seine Freundin nicht mehr zu bemühen. Andere Mädchen durften sich das aber immer noch nicht leisten. Wenn zwei dasselbe tun ...
Ich hatte einfach keine Angst, egal was er machte. Einmal hat er aus Versehen meine Brille zerbrochen - hatte sich nur neugierig an mir zu schaffen gemacht und wir waren zusammen gestoßen. Tja, Pech.
Beim Faschingsreiten waren ihm Musik und flatternde Kostüme zu viel - er ging durch. Raste zwei Ehrenrunden und prallte schließlich in das Pferd am Ende der Abteilung. Heute kann ich darüber grinsen. Damals war es mir peinlich. Wenigstens hatten mir Zuschauer versichert, dass die Showeinlage gewollt aussah. "Super, du mit deinem Beduinenkostüm." Wenigstens das hatte mir einen Preis eingetragen ...
Auch meinen ersten Versuch eines Springparcours haben wir zusammen unternommen. Sobald die Hindernisse aufgebaut wurden, scheute er und war kaum noch zu halten. Aufs erste Hindernis raste er zu - und bremste direkt davor ab auf Null. 'Hilfe, spring!', dachte ich nur. Da hob er auch schon seine Vorhand senkrecht hoch, ich rutschte nach hinten - er übers Hindernis, ich plumps in seinen Rücken, Hinterhand runter. Geschafft. Nur ich hing wie ein Stück Butter auf einer heißen Kartoffel auf seinem Rücken. Dann löste sich der Sattel und rutschte samt meiner Wenigkeit auf die Seite des Pferdes. Pferd scheut, springt ein paar Meter im Galopp, bleibt stehen. Ich lasse mich ganz runterrutschen. Puh. Manche der anderen Mädchen kicherten. Auch die Reitlehrerin musste lachen. Zusammen haben wir den Sattel wieder gerichtet. Und ab auf den schönsten Platz der Erde, Bacchus Rücken, und von vorne... Wieder Vollbremsung, Senkrechtsprung. Dieses Mal bin ich auf die seltsame Technik gefasst und bleibe oben. Na, immerhin.
Gerüchte Weise verlautet, er sei früher Hindernisrennen gelaufen und reagiere deshalb so seltsam. Muss ganz schön ausgebrannt gewesen sein, der Ärmste! Im Gelände ist die größte Schwierigkeit, ihn daran zu hindern, alle anderen zu überholen. Die einzige, der er brav folgt, ist natürlich Hedwig.
Die beiden zusammen sind göttlich - auch auf der Koppel. Das erste Mal, als wir die beiden - ohne Erlaubnis - auf eine Koppel gebracht haben, waren sie die Lebensfreude pur, wie sie zusammen galloppiert sind. Sich gewälzt haben. Um irgendwann friedlich zu grasen. Als wir sie wieder in den Stall bringen wollten, klare Rollenverteilung: Bacchus hält Wache, sobald wir in Greifweite sind, Herumwerfen und ab die Post. Tja, der Pferdepfleger musste hinzugezogen werden. Wäre ich in so einem winzigen Stand, kaum breiter als ich, ich würde mich auch weigern, wieder eingefangen zu werden.
"Was machst du, wenn Bacchus nicht mehr da ist?" Nancy fragt mich wenige Tage später wieder.
"Warum sollte er nicht mehr da sein?"
"Nur so. Ich wollte es nur mal wissen." Abgang Nancy.
Ich habe Angst. Weiß genau, dass meine Eltern kein Geld haben, um mir ein Pferd zu kaufen. Meine Mutter beschwichtigt, meint, es habe wohl nichts zu bedeuten, was die Reitlehrerin sagt.
Was kostet ein Pferd eigentlich? Vielleicht könnte ich es kaufen. Aber wie soll ich seinen Unterhalt bezahlen? Ich habe Angst.
Nancy stellt zum dritten Mal die Frage. Bleibt eine echte Erklärung schuldig.
Ein langes Wochenende komme ich nicht dazu, in den Reitstall zu fahren.
Montagmorgen an der Bushaltestelle. Ein Schüler aus einer niedrigeren Klassenstufe spricht mich an. Ob ich das mit Bacchus wüsste?
Was?
Er wurde abtransportiert. Hat sich gewehrt, wollte nicht in den Anhänger steigen. Drei Männer mussten ihn schieben. Er hat geschrien. Niemand hat auf ihn gehört.
Ich breche in Tränen aus.
Der Junge lacht gefühllos: "Das wurde auch Zeit. Der Gaul, gut dass er weg ist!"
Ich wende mich ab. Den Vormittag bekomme ich nicht viel mit von der Schule. Gewissheit im Reitstall: Zwei Schimmel stehen dort, wo die beiden mir vertrauten Braunen gestanden hatten.
Hedwig hatte Glück: Als Holsteiner Zuchtstute und trächtig hat sie neue Besitzer gefunden.
Bacchus?
Die Reitlehrerin verweist mich an den Stallbesitzer.
Der hat seine Pacht aufgegeben. Muss Platz machen für die Pferde seines Nachfolgers.
"An wen haben Sie Bacchus verkauft?"
"Äh, keine Ahnung. Den hat ein altes Ehepaar gekauft."
"Ich möchte ihn besuchen. Kann ich die Adresse haben?"
"Die habe ich nicht, keine Ahnung."
"Wo wohnen sie denn?"
"Irgendwo bei Hamburg..." Er sieht mich nicht an. Nicht einmal.
Bei Hamburg? Das wäre auch die nächste Schlachterei, in der Pferde getötet werden. Der Stallbesitzer leugnet. Verspricht, die Adresse von Bacchus Käufern rauszusuchen. Ein Versprechen, das nicht gehalten wird. Auch nicht nach mehrfachem Nachfragen. Irgendwann sagt er, er könne den Vertrag nicht finden. Später, es habe nie einen gegeben.
Ich habe keine Lust mehr zu reiten. Mache mir Vorwürfe, dass ich nicht rechtzeitig reagiert habe. Weiß genau, dass meine Eltern nicht genug Geld haben, um ein Pferd zu unterhalten.
Nur Bobby ist noch von den alten Schulpferden übrig, ein Reitpony. Ob ich ihn als Pflegepferd will? Nancy versucht, mich aufzumuntern. Ich habe keine Beziehung zu Bobby, nie gehabt. Er tut mir leid, denn er hatte schon lange keinen eigenen Pfleger mehr. Eine Weile nehme ich ihn deshalb als Pflegepferd. Aber auch Bobby wird verkauft.
Eine Reihe weiterer Pferde wird mir zur Pflege angeboten - keines ist auch nur annähernd so einzigartig, schön, ausdauernd wie Bacchus. Unsere Reitgruppe bröckelt auseinander. Schließlich bleibe ich einfach weg.
Bacchus. Es tut mir leid.