Shakolo hatte schließlich doch landen müssen. Er war einfach zu entkräftet, um sie beide noch weit zu tragen. Ishai konnte ihre Angst nur schlecht verbergen, aber immerhin war es besser, auf dem Boden zu sein, wo sie sich orientieren konnte.
Sie hatten ihre Gabe gerufen. Shakolo sah jetzt aus wie ein Menschenjunge, mit blasser Haut und kurzen, hellblauen Haaren, die sich auf seinem Kopf auftürmten. Er trug nur eine kurze, weiße Hose und darüber ein lockeres Hemd, das sein Rückensegel, eine gespannte Bahn von Häuten über seiner Wirbelsäule, nur ungenügend verbarg. Immer noch hatte er Muschelohren, die sich nach jedem Geräusch drehten.
Ishai folgte ihm, ein kleines Mädchen mit nur einem Auge. Ihre weißen Haare liefen allerdings in die Federn über, deren Spitze blassrot war. Sie klammerte sich an Shakolos große, kräftige Hand. Auf zwei Beinen fühlte sie sich unsicher.
Sie wanderten durch die großen Wälder der Stormy Shore. In einiger Entfernung hörten sie tatsächlich das Meer, das tosend gegen die steilen Klippen anrannte. Die beiden Luftdrachen fühlten sich ungeschützt, obwohl der Tannenwald dicht und unbesiedelt war.
Sollten ihnen dennoch Menschen begegnen, so könnten sie nicht fliehen. Shakolo brauchte Anlauf, um zu fliegen, und genug Platz, um die Flügel aufzuspannen. Schon bei ihrer erzwungenen Landung hatte er sich beinahe die Flughäute aufgerissen. Eine solche Verletzung könnte ihn Jahrelang vom Fliegen abhalten.
Ishai zupfte immer wieder an der unangenehmen Kleidung. Sie trug eine Art Rock, der jedoch zwischen den Knien doch wieder zusammen lief. Darüber hatte sie nur ein Hemd, dazu rosa Schuhe und eine Schleife im Haar.
Wie genau die Gabe funktionierte, wusste keiner der Drachen. Mit der Zeit hatten einige die Fähigkeit entwickelt, wie Menschen auszusehen. Aber Fehler gab es immer, wie Ishais Federn und Shakolos Rückensegel. Und ihre Augen änderten sich nicht. Drachenaugen unterschieden sich sehr von Menschenaugen. Sie leuchteten stärker und besaßen ungewöhnliche Farben. Blau und Rosa im Fall von Shakolo und Ishai.
Während sie ihre Gabe benutzten, passten sich Größe und Gewicht der Drachen an die von Menschen an. Die Kleidung gehörte mit zu der Täuschung. Sie ließ sich abnehmen, aber wenn sie sich zurück verwandelten, so verschwanden die Stoffstücke. Sie waren eben auch nur Teil der Illusion.
Aus der Entfernung waren sie nicht leicht von Menschen zu unterscheiden. Aus der Nähe bestand aber kein Zweifel an ihrer Andersartigkeit.
Und egal, welche Form sie trugen - sie bleiben Drachen, die die Menschensprache nicht verstanden. Ihre Ernährung, ihr Charakter blieb gleich.
Es war, wie Ishai fand, eine ziemlich nutzlose Gabe. Sie war allerdings dazu gut, sich in kleinerer Form zu bewegen und durch Lücken zu schlüpfen, die für einen Drachen zu eng waren.
"Wohin gehen wir?", fragte sie Shakolo leise.
"Ich weiß es nicht", antwortete er. "Ich kenne die Gegend hier nicht."
Sie fanden ein paar Fruchtbäume und Süßwasser, während sie wanderten. Drei Tage irrten sie so durch den Wald, bevor sie auf anderes Leben trafen.
Die Sonne stand im Zenit, verborgen durch dichte Wolken, die erneut Regen bringen wollten, da hielt Shakolo plötzlich an.
"Was?", flüsterte Ishai, als sie spürte, wie sich sein Körper anspannte. Dann hörte auch sie das ferne Brechen von Ästen.
Shakolo zog sie zurück, weg von dem Geräusch, das schnell näher kam. Jemand schnaufte. Ishai strengte ihr Auge an und sah einen dunklen Schemen, der sich zwischen den Baumstämmen bewegte. Die Entfernung war schwer zu schätzen.
Doch sie merkte auch, dass es keine Deckung gab. Kein Gebüsch, keine Gräben. Shakolo schob sie hinter sich. Seine Finger bebten. Ob er sich schnell genug verwandeln konnte, um vielleicht zu fliehen?
Der Fremde bemerkte sie. Die Geräusche brachen ab. Ishai spähte an Shakolo vorbei und sah einen Menschen in dunkler Kleidung, einen Hut tief ins Gesicht gezogen.
Sie zitterte vor Angst. Schreie aus der Vergangenheit erreichten sie. Gellende Todesschreie - ihre Eltern!
Der Mensch zögerte und sah sie an. Es lag genug Abstand zwischen ihnen, als dass ihre Tarnung vielleicht noch hielt. Jedenfalls vermutete Ishai das, anhand der Größe des Menschen, der ihrem einen Auge noch winzig erschien. Sie drückte sich eng an Shakolos Bein.
Der Mensch zog den Hut tiefer ins Gesicht und nickte ihnen zu. Dann machte er, sehr zu Ishais Erleichterung, ein paar Schritte zur Seite. Er drehte sich um, wie um einen anderen Weg einzuschlagen.
Mit großem Auge sah Ishai zu, wie der Mensch sich abwandte.
"Wait!", rief Shakolo. Die Worte der Menschensprache klangen ungelenk. Der Mensch hielt an.
"Was tust du?", flüsterte Ishai.
Der Mensch drehte sich um. Ishai erstarrte. Hatte er mitbekommen, dass sie die Drachensprache gesprochen hatte? Was tat Shakolo denn bloß?
Er zögerte selbst, als sei er sich unsicher. Dann sprach er zögerlich. "Warte ... bitte."
Aus einem Menschenmund klang die Drachensprache hart und feindselig. Der Mensch hob den Kopf. Ishai spürte, wie Shakolo sich wandelte. Kleidung wurde zu Schuppen, der Körper wuchs in die Länge und er kippte nach vorne auf zwei lange Vorderbeine. Ishai trat zurück, als er vor ihr in die Höhe wuchs, ein gewaltiger Himmelsdrache. Er breitete die Schwingen leicht aus und hatte den Hals gebeugt, um den Menschen weiter anzusehen. Jeder Rest der Gabe fiel von ihm ab.
Der Mensch sagte nichts. Dann zog er langsam den Hut ab. Ishai starrte auf rote Haare und dazwischen - schwarze Hörner!
Die Augen des falschen Menschen leuchteten rot wie Rubine. Ishai wollte vor Erleichterung weinen, als sich das Mädchen in einen schwarz-roten Drachen verwandelte, mit gewundenen Hörnern und blutroten Stacheln auf dem Rücken, allerdings ohne Flügel.
"Ein Feuerdrache?", fragte Shakolo. Ishai legte ihre Gabe ebenfalls ab und trat schüchtern zu ihm.
Die Drachin kam auf sie zu. "Ja. Ein Flammendrache. Ich heiße Roxa."
"Ich bin Shakolo, und das hier ist Ishai", stellte er sie vor.
Neugierig kam die Flammendrachin näher und musterte sie. Plötzlich lachte sie. "Ich dachte, alle anderen Drachen wären tot! Seid ihr alleine?"
"Ja", sagte Shakolo, was Roxas Freude dämpfte. Trotzdem streckte sie Ishai eine Pranke entgegen. "Du bist ein Federdrache, was?"
Ishai nickte stumm.
"Und du - ein Winddrache?"
"Ein Himmelsdrache", berichtigte Shakolo.
Roxa umrundete sie aufgeregt. "Es tut so gut, andere Drachen zu finden!"
"Da sagst du was", meinte Shakolo. "Du weißt aber nicht zufälligerweise, wo ein sicherer Ort wäre?"
Roxa blieb stehen und schüttelte den Kopf. "Jedenfalls nicht in der Richtung, in die ihr geht - da liegt Aarth, die Hauptstadt der Menschen!"
Ishai zuckte zusammen.
Shakolo senkte den Kopf. "Wir kommen vom Berg Stormpeak. Auch da waren Menschen."
"Wenn wir nach Norden gehen", schlug Roxa vor, "folgt Wildnis auf Wildnis. Dort werden wir uns sicher verstecken können!"
"Wir?", fragte Shakolo.
Roxa erstarrte. "Wenn ihr nicht wollt, dass ich mitkomme - entschuldigt, ich hatte mich nur so gefreut, andere Drachen zu finden."
"Nein. Nein, komm mit uns", sagte Shakolo schnell. "Es wäre uns eine Ehre, Roxa Flame."
Sie lächelte. Ishai erwiderte die Geste schüchtern. Roxa erschien nett. Und Feuerdrachen waren stark. Sie würde ihnen sicherlich helfen können.
"Also gemeinsam", sagte Roxa und gab die Richtung vor.