Ishai zitterte. Es war so schrecklich, schrecklich kalt, und noch dazu war sie allein. Die weißen Federn gegen die Kälte gesträubt rollte sie sich enger zusammen. Sie wollte nicht allein sein. Sie hatte Angst.
Auf der Spitze des Berges herrschte ein stürmischer, winterlicher Wind. Ishai war immer noch ganz verstört von den schroffen, zerklüfteten Klippen, die sie mit ihrem einen Auge nur als zerrissene und zerstörte Landschaft wahrnehmen konnte.
Es war lange Jahre her, dass Shakolo sie her getragen hatte. Sie beide waren damals jünger gewesen. Ishai spürte immer noch den stechenden Schmerz im Kopf, von dem Schwert, das ihr das eine Auge genommen hatte.
Zitternd rollte sie sich enger zusammen und steckte den runden Kopf unter den breiten, gefiederten Schweif, die kurzen Vorderbeine unter die Brust gezogen und die kräftigeren Hinterbeine an den Seiten. Sie zitterte, während der Wind draußen heulte. Das war gar nicht, kein bisschen, wie zu Hause, egal wie oft Shakolo behauptete, dass Berg gleich Berg wäre. Ishai war unglücklich. Shakolo war schon viel zu lange fort. Sie wollte nicht länger allein sein, denn dann kam die Erinnerung zurück, an ihre Eltern, an die große Brutkolonie, wo alles schön und lustig gewesen war.
Dann kam das Metallschwert und alles wurde ganz furchtbar.
Ishai legte die gefiederten Flügel eng an, um wenigstens einen Rest Wärme bei sich zu halten. Der Geruch nach Schnee fand dennoch seinen Weg in die kleine Höhle. Ishais Magen knurrte.
Sie wollte heim. Sie wollte es so unbedingt, mit jener überwältigenden Sehnsucht, die dem Wissen entsprang, dass es unmöglich war. Sie konnte nur in der Höhle liegen, ein zitterndes Bündel aus Federn, und hoffen, dass Shakolo bald kommen würde.
Ein Geräusch riss sie aus einem kurzen Schlummer, der voll von heulenden Winden und Kälte gewesen war. Ishai riss das Auge auf und sah sich um. Ihr Herz bebte. Etwas war da draußen, vor dem Eingang der Höhle! Wolkenfetzen trieben über den Ausschnitt des Himmels, den sie durch die Öffnung erkennen konnte.
Dann bemerkte sie den Schemen im Eingang, eine graue Form, vor den Wolken für ihren verschwommenen Blick beinahe unsichtbar. Der Himmel selbst flackerte und waberte scheinbar, dann trat die weiß-graue Gestalt in die Höhle, als würde der Höhleneingang sich bewegen.
Alle Angst wich von Ishai. "Ako!", rief sie laut und stürzte zu ihm.
"He, nicht so stürmisch!", lachte der andere Drache und zog sie in eine Umarmung seiner langen Vorderbeine.
Ishai rieb das Gesicht an Akos geschuppter Brust. Shakolo Sky, der Himmelsdrache, der sie gerettet hatte. Sie drückte sich an ihn und spürte, wie ihr die Tränen kommen wollten.
"Du warst so lange weg!", rief sie und klammerte sich mit den kurzen Pfoten, die mit winzigen Federn bedeckt waren, an seinen Arm.
"Alles gut", tröstete Shakolo sie und breitete eine große Schwinge über ihr aus. "Es ist alles gut, Ishai. Ich sagte doch, dass ich Früchte suche. Dazu muss ich ins Tal."
"Aber du warst fünf Tage fort!", Ishai wollte sich nicht beruhigen, noch nicht. Sie hasste die Einsamkeit. Sie fürchtete sich davor.
"Hier", sagte Shakolo, um sie abzulenken. "Sieh mal, was ich gefunden habe!"
Mit einem großen Auge sah Ishai auf die runde, gelbliche Frucht, die Shakolo ihr zu schob. Sofort nahm sie das Ding in die Pfoten, das knapp halb so groß war wie ihr Kopf.
"Eine Hanni!", freute sie sich.
Shakolo nickte zufrieden und schob Ishai gleichzeitig tiefer in ihre kleine Höhle. Draußen regnete es leicht, und es sah ganz so aus, als würde das Himmelswasser bald heftiger werden. Hier oben regnete es viel, immer dann, wenn es nicht schneite. Ishai hasste diesen Ort. Sie wollte zurück in die vertrauten Berge der Heimat. Aber sie wusste, dass das nicht ging.
Sie begnügte sich damit, die Frucht zu essen. Shakolo breitete seine Beute aus: Hannis, Pempel, Marauda und ein paar Pfäpfen. Ishai sah traurig auf die Ausbeute. Das würde nur wenige Tage halten, sie spürte bereits, wie ihr Magen knurrte. Shakolo würde bald wieder aufbrechen müssen.
Sie drückte die weißen Flügel eng an die Seiten. Inzwischen war Shakolo getrocknet und wärmte sich auf. Seine silbrigen Schuppen nahmen eine bläuliche Färbung an, wie ein heller Morgenhimmel. Die Länge des schlanken Drachen war endlich klar zu erkennen, seine kräftigen Beine, die großen Flügel und auch die Flughäute an den Beinen und am Kopf, ein Kragen, bevor der lange Hals begann. Er wedelte leicht mit der Flosse am Ende des Schwanzes und schüttelte die letzten Regentropfen ab.
"Iss ruhig", ermunterte er sie, denn Ishai hatte innegehalten, die weiche Haut der Hanni aufgerissen, aber das Fruchtfleisch noch unberührt.
Sie versenkte ihr Gesicht in der Frucht und trank den süßlichen Saft. Ihr hungriger Magen zog sich zusammen, während sie mit winzigen Zähnen an der Haut zerrte. Es gab in ganz Oyax nichts, das leckerer als eine Hanni war.
Diese Frucht war überreif, weich unter Ishais Lippen und faserig in der Nähe des sauren Kerns. Sie knabberte den Kern sauber ab. Inzwischen war Shakolo tiefblau wie ein Mittagshimmel. Seine große Gestalt und die ausgebreiteten Flügel schirmten die Höhle vor dem kalten Wind ab, während das Sonnenlicht durch die Membranen der Flügel schimmerte. Ishai aß gierig, bis die ganze Frucht fort war. Der größere Shakolo begnügte sich allein mit einem kleinen, roten Pfapfen, den er mit der spitzen Schnauze aufnahm und im Ganzen schluckte.
Ishai musste grinsen. Plötzlich konnte sie sich nichts besseres vorstellen, als auf der windumtosten Bergspitze zu leben, zwar fern ihrer toten Eltern, aber bei Shakolo und ebenfalls fern aller Menschen.
"Jetzt bin ich müde, Schneefeder", sagte Shakolo. Ishai liebte diesen Spitznamen, den er ihr gegeben hatte. Dabei endete jede einzelne ihrer Federn in einer roten Spitze. Blutfeder hatten die anderen Federdrachen dazu gesagt. Ishai mochte den Namen nicht, er klang nach Unglück. Sie hatte die Farbe von ihrem Vater geerbt. Die meisten Federdrachen waren weiß. Bereitwillig rückte sie zur Seite, damit der lange Drache sich auf dem Boden der Höhle ausstrecken konnte.
Sie rollte sich an seiner Seite zusammen, klein genug, dass er mit dem Vorderarm ein behagliches Nest für sie bilden konnte. Shakolo schob noch den Flügel über sie und Ishai summte glücklich.
Schläfrig schloss der Ältere die Augen. Ishai beobachtete die scharfe Linie seines Kinns, die stromlinienförmigen Schuppen und die schmalen Nüstern.
"Ako?", fragte sie leise.
"Ja, Schneefeder?"
"Wir bleiben immer zusammen, ja?" Sie hatte plötzlich furchtbare Angst, dass auch er sie verlassen könnte.
Er regte sich leicht und schob die Tatze vor ihr Gesicht, um ihre kleine Pfote zu umfassen.
"Ich passe immer auf dich auf, Schneefeder. Das weißt du doch."
"Ich wollte es nur wieder hören", sagte sie leise. Er versicherte es ihr wieder und wieder. Aber immer musste sie an den Tag denken, da sie beide aus dem Nest hatten fliehen müssen. Sie hatte auch nie geglaubt, dass sie von ihren Eltern getrennt werden würde.
Zitternd drückte sie sich an Shakolo. Es war so schrecklich kalt auf der Bergspitze.