Das Wetter hatte sich weiter verschlechtert. Der kalte Wind hatte die Regenwolken von dem großen, grauen Berg im Osten hergeweht. Jetzt prasselten große Tropfen auf die Kopfsteine der Straße. Roxa, die es endlich geschafft hatte, die Gabe der Täuschung wieder zu rufen, zog den schwarzen Hut tief ins Gesicht. Ihr Atem stieg als weiße Wolke vor ihr auf. Die Kälte kroch noch unter ihren Mantel, eisig und lähmend, und so zitterte sie furchtbar.
Kein Mensch war auf den Straßen. Die wenigen, die einen Blick durch die Fenster nach draußen warfen, sahen hoffentlich nur ein Mädchen in dunkler Kleidung, bemerkten weder die schlecht verborgenen Hörner noch die glühenden Augen.
Roxa trottete durch die Straßen und Gassen und überlegte. Sie musste fort aus der Stadt. Die Jäger würden sicherlich wiederkommen, wenn sie nicht schon auf ihrer Spur waren. Roxa hasste den Gedanken an die Flucht. Wie alle Feuerdrachen war sie stolz, sie weigerte sich, zu glauben, dass die schwächlichen Menschen ihr gefährlich werden konnten.
Die Kette um ihr Handgelenk erinnerte sie an das Gegenteil. Ihre Gefangenschaft war nur kurz gewesen, trotzdem reichten die Wunden tief.
Roxa fuhr ängstlich zusammen, als sie ein Geräusch hörte. Eilig verschwand sie in einem Hauseingang, der sie vor einem flüchtigen Blick verbergen konnte.
Das Geräusch wurde lauter. Es war das mechanische Stampfen und Quietschen eines Eisenpferdes.
Der Jäger – denn nur Jäger ritten diese seltsamen Wesen – bog um die Ecke. Sein Pferd bestand aus Metallringen, die sich übereinander schoben. Ähnlich, aber nicht ganz gleich wie die Schuppen eines gepanzerten Drachen. Die Ohren aus Metall zuckten hierhin und dorthin, während die Suchorgane der Maschine nach Geräuschen lauschten. Der prasselnde Regen allein verhinderte, dass Roxas Atem und Herzschlag sofort entdeckt wurden. Auf Hufen aus Eisen und Stahl klapperte das Tier über die Straße, jede Unebenheit vorsichtig ausgleichend, sodass der Reiter sie nicht spürte. Dampf stieg aus dem metallenen Nüstern auf. Eine Mähne oder einen Schweif besaß das Tier nicht, dafür ging sein Rücken nahtlos in einen breiten Sattel über und hinter diesem waren Rist und Flanken mit Taschen bedeckt. Mit eckigen, ruckartigen Bewegungen trug das Pferd seinen Reiter vorwärts.
Der Mensch trug den schweren Ledermantel der Jäger, mit den gleichen orangen Nähten. Er besaß keinen Hut und war also unerfahren. Dies war Roxas einziges Glück. Sie ließ den Blick über die Waffen des Menschen gleiten. Eine Armbrust hing ihm über den Rücken, zwei Schwerter an der linken Seite, rechts ein langer, gezackter Dolch. Er besaß einen Riemen von Wurfpfeilen über der Brust und ein Köcher mit kurzen Bolzen hing an dem Hals des Stahlrosses.
Es bestand kein Zweifel daran, dass der Jäger alle Waffen auch einsetzen konnte. Roxa verspürte plötzlich Wut.
Diese Menschen trainierten viele Jahre die Jagd auf Drachen, und das häufig an den Exemplaren, die lebendig gefangen worden waren. Die Jäger kannten die Drachenarten, mehr, als überhaupt noch existierten. Die Augen des Menschen, durch die getönten Gläser einer dicken Brille verborgen, suchten die Gasse ab.
Roxa drückte sich tiefer in den Hauseingang. Vermutlich wussten inzwischen alle Jäger von der Gabe der Täuschung. Ein Geheimnis, das auch die Drachen niemals vollständig ergründet hatten. Roxa zitterte. Das Pferd kam näher.
Plötzlich richteten sich die spitzen Ohren auf sie. Das Tier schnaubte und wieherte dann, ein hohes, metallisches, unnatürliches Geräusch.
Der Reiter fuhr zusammen. "Shit!"
Er sah auf etwas im Nacken des Metallpferds, das ihm wohl verriet, womit er es zu tun hatte.
So weit ließ Roxa ihn nicht gewähren. Der Beruf des Drachenjägers war gefährlich, weil es immer noch Feuerdrachen gab.
Sie erinnerte sich an die Wut zurück, die sie eben noch empfunden hatte. Sie ließ das brennende Feuer alle Angst davon spülen.
Dann streckte sie die menschlichen Hände aus.
Der Regen fiel auf ihre Haut und verdampfte zischend. Der Jäger hob den Blick, als er das hörte, viel zu langsam.
Aus der Handfläche des Mädchens brach ein gewaltiger Flammenstrahl, raste auf Ross und Reiter zu.
Das Stahlpferd bäumte sich auf, ein Schutzmechanismus gegen das Feuer. Aber Roxa war, trotz des kalten Regens, stark. Ihr Feuer traf das Tier aus Stahl und ließ dessen Bauch aufplatzen. Die Gedärme - Zahnräder, Ketten, Öl - rollten und tropften auf das Pflaster. Das Pferd bockte plötzlich. Mechanismen griffen falsch ineinander, zogen den geschaffenen Körper in unmögliche Richtungen. Das Metall verbeulte und verformte sich, bevor das Pferd in Einzelteile zersprang.
Dann brüllte auch der Mensch vor Schmerz, ein kurzer, jäher Laut, der endete, noch bevor er richtig begann.
Roxas Feuer versiegte nach nur wenigen Sekunden. Verschmortes Metall und Asche bedeckten den Boden. Der Schmutz wurde schon vom Regen fort gewaschen.
Ein wenig keuchte sie. Das Feuer kostete Kraft. Und ihr war klar, dass sie jetzt die Stadt verlassen musste. Das sterbende Metallpferd hatte sicher die anderen Jäger alarmiert.
Roxa drehte sich um und floh. Sie folgte den Straßen. Ihre Stiefel dröhnten laut auf dem Pflaster. Sie glaubte, Hufschlag zu hören, doch es musste allein das Echo ihrer Schritte sein. Sie rannte, verzweifelt, in dem Wissen, dass alles nur immer und immer schlimmer wurde, je länger sie kämpfte. Aber aufgeben kam nicht in Frage, nicht für einen Flammendrachen.
Sie erreichte die Stadtmauer. Alle Tore waren verschlossen. Die Wachen riefen hinter ihr her, als sie durch die Straßen hetzte. Nur durch viel Glück blieb der Hut auf ihren Haaren.
Sie fand eine Regentonne, über die sie auf das Dach klettern konnte. Sie lief über die Schindeln weiter. Ihr Atem ging so schwer, dass es wenig Sinn hätte, leise sein zu wollen. Sie wusste, dass sie unklug handelte. Aber sie konnte sich nicht beherrschen. Eilig rutschte sie über Steine und nasses Holz. Dann erreichte sie endlich die Mauer und schwang sich vom Dach aus darüber. Sie landete zwei Stockwerke tiefer im Matsch. Der Regen war unangenehm auf ihrer Haut. Er lief ihr in die Augen und in die Nase. Seine Kälte fühlte sich tödlich an, obwohl sie es natürlich nicht war.
Rutschend und ungeschickt lief Roxa los. Die Luft war so eisig, dass ihre Lungen schmerzten. Sie lief, nicht besonders schnell. Ihre Beine fühlten sich schwer und steif an, aber die Angst trieb sie weiter. Um keinen Preis wollte sie erneut in die Hände der Jäger fallen. Lieber starb sie.