Sesewja konnte nicht länger suchen. Der See war leer und tot, seit die letzten Teichdrachen fort waren. Und je länger sie wartete, desto größer wurde das Risiko, dass die Menschen sie fanden.
Was sie in der letzten Zeit erfahren hatte, erfüllte sie mit Schrecken. Sie hatte gewusst, dass es wenige Drachen gab, dass sie sich an versteckte Orte zurückziehen mussten und dass die Menschen sie trotzdem überall aufspürten.
Dass es so schlimm stand, hatte sie nicht geahnt.
Die Gewässer waren still. Selbst aus den Flüssen und Bächen, die in den See mündeten, hörte Sesewja nur das Murmeln des Wassers. Sie konnte keine Spur von Leben riechen, nur ihren eigenen Geruch und das schwache Echo der Teichdrachen, das sie Tag für Tag mehr verließ.
Das Meer war einsam gewesen, und das Süßwasser war es auch. Wenn es noch Drachen gab, so lebten sie an Land, oder aber fernab der Flüsse und Kanäle, dort, wohin die Ohren eines Wasserdrachen nicht reichen konnten, in unterseeischen Höhlen, in abgeschlossenen Tümpeln.
Es regnete, als Sesewja den Kopf aus dem Wasser hob. Sogar der Regen war leblos, früher hatte er Botschaften und Nachrichten übermittelt.
Sie sandte einen traurigen Hilferuf in den Himmel, doch sie ahnte, dass der Regen keinen Wasserdrachen erreichen könnte. Und wenn doch, würden diese wohl nicht antworten. Sie war allein.
Es gab nur eine schwache Hoffnung. Dass irgendwo noch andere Drachen geblieben waren. Feuerdrachen, Erddrachen, Luftdrachen. Irgendjemand, der Sesewja helfen konnte, die Prophezeiung zu entschlüsseln, die Worte zu enträtseln, die ihnen einen Weg nennen mochten.
Und wenn es nun doch nur ein Gedicht war? Ein Abzählreim für Menschenkinder, oder eines ihrer sinnlosen Lieder? Was sollte dann aus den Drachen werden?
Sesewja musste sich mit ihrem ganzen Willen an diese Hoffnung klammern, dass in den Zeilen ein Geheimnis verborgen war, der Drachenmond, der die Menschen für immer zurückschlagen könnte.
Sie schwamm langsam zum Ufer. Die Menschen hatten sie in den letzten Tagen gesucht. Sesewja hatte sich am Grund des Sees verborgen, aber jedes Mal waren die Sucher der Menschen tiefer gedrungen. Sie konnte nicht mehr bleiben und darauf hoffen, dass einer der unzähligen winzigen Wasserläufe eine Nachricht brachte, einen Geruch, eine Schuppe, durch die unterirdischen Flüsse getragen bis zu Sesewja.
Am Ufer streckte sie die Füße in den weichen Sand. Die Körner strichen rau über ihre Schwimmhäute und Flossen. Sie zog sich mit den Armen vorwärts, bis ihr Leib im seichten Wasser auf dem Sand auflag. Stück für Stück hob sie den Hals aus dem Wasser, spürte, wie ihre Kiemen zusammen klebten und ihre Atmung sich umstellte. Wasser gurgelte in ihren Lungen, bis sie es ausgehustet hatte. Die hinteren Flossen klappte sie an den Körper. Sie waren nutzlos an Land. Sesewja stemmte sich auf die Vorderbeine. Wieder kroch sie. Langsam und ungeschickt. Ein Gigant der Tiefsee, der an Land nichts verloren hatte. Der Wind war kalt an ihrem Schuppen, die an warmes Wasser gewöhnt waren. Sie atmete durch das halb geöffnete Maul.
Die Luft roch fremd. Auch hier konnte sie kein Leben riechen. Der Regen fiel dicht, verwischte alle Spuren, die noch zurück blieben. Er war ein ungenügender Ersatz für Wasser. Feuchtkalt, aber nicht dicht genug, um sie zu tragen - er vereinte die ungünstigsten Eigenschaften in sich.
In ihrem Rücken erhob sich die Menschenstadt, Aarth. Sesewja konnte die Menschen riechen, ihre Feuer, nasses Holz, Metall und Stein. Kein Ort, an dem sich ein Drache verstecken konnte.
Sie wandte sich nach Norden, wo die Wildnis lag. Irgendwo dort. Irgendwo dort musste es noch andere Drachen geben. Dort musste ihre Hoffnung liegen, die Hoffnung der letzten Drachen.
Sesewja hoffte, dass es in der Wildnis Antworten auf ihre Fragen gab. Und vielleicht fand sie den Drachenmond. Was hatte Dojadoja noch erzählt? Vor unzähligen Jahren, so lange her, dass sie kaum noch ein Drache daran erinnerte, hatte es einen zweiten Mond gegeben - angeblich hatten ihn die Königsdrachen in den Himmel getragen, aber eines Tages war er herabgefallen. Und seitdem suchten die Drachen ihren Mond. Denn seit diesem Tag lag ein Fluch auf ihrem Volk, die Menschen kamen, und die Drachen verschwanden einer nach dem anderen.
Weil die Wasserdrachen den Drachenmond versteckt gehalten hatten und sich dann auch noch mit Menschen eingelassen hatten. Wasser- und Erddrachen waren die Ersten gewesen, die den Kontakt zu den Menschen gesucht hatten – und damit das Schicksal aller Drachen besiegelt hatten.
Sesewja ließ den Regen in ihre Augen laufen, um sie zu schärfen. Sie hatte eine lange Reise vor sich. Sie wusste nicht, ob sie überleben würde, und wonach sie genau suchte. Aber sie wusste, ganz deutlich wusste sie, dass sie es versuchen musste. Wenn sie es nicht versuchte, wer war dann noch übrig?
Und so kroch sie in den Regen hinaus, auf der Suche nach einer Spur, die es vielleicht nicht gab.
An diesen Ort würde sie niemals mehr zurückkehren.