Kapitel Vier
Eine folgenschwere Verwechslung
Die drei Tage im Tropfenden Kessel vergingen wie im Flug. Es gab so viel zu sehen und zu entdecken, dass die Zeit nur so raste. Ich war oft mit Harry und Ron zusammen, die mir alles über Hogwarts erzählten. Gesprächsthema Nummer eins bei den beiden war Quidditch – eine Art Fußball, die auf fliegenden Besen ausgeführt wurde.
Doch auch von den vier Häusern, von denen eines mein neues Zuhaue sein würde, erzählten sie mir. Jedes Haus stand für eine andere besondere Tugend – die Charaktereigenschaft, welche überwog entschied darüber, welchem Haus man zugeteilt wurde. So wie ich es verstand, glich das Haus einer Familie – man hatte Unterricht zusammen und verbrachte die meiste Zeit miteinander. Was würden mir diese ersten Kontakte nützen, wenn ich in ein völlig anderes Haus gesteckt wurde? Mit Einsamkeit kannte ich mich aus… aber ich hatte wahrlich genug davon.
„Du kommst sicher auch nach Gryffindor.“, wiederholte Ron zum gefühlt hundertsten Mal an diesem Tag. Gryffindor war das Haus, in welchem Ron und Harry lebten. Es stand für Tapferkeit und Mut. Eigenschaften, mit denen ich mich absolut nicht identifizieren konnte.
„Es ist egal, in welches Haus du kommst. Wir können trotzdem Freunde sein.“, sagte Harry beruhigend. „Wir gehen immerhin zur selben Schule.“
„Ja, solange sie nicht nach Slytherin kommt.“, warf Ron halb scherzend ein.
„Was ist mit Slytherin?“, fragte ich.
„Ron, musste das sein?“, fragte Harry ärgerlich.
„Was denn?“, erwiderte Ron. „Sie muss wissen, womit sie es zu tun bekommt. Slytherins sind finster und gemein. Aber du wirst sowieso nicht aufgenommen, denn der werte Herr Slytherin wollte nur Reinblütige unter seinen Reihen sehen. Sei also froh, dass du es nicht bist. Fast alle Schwarzmagier waren früher in Slytherin. Einfach eine böse Brut.“
Ich schluckte. Na toll. Das waren ja super Aussichten. Aber immerhin gab es noch drei andere Häuser. Wie groß war da die Chance, dass ich gerade Slytherin erwischte?
„Hier ist es, wir sind da.“, riss Harry mich aus meinen Gedanken. Wir befanden uns am Bahnhof Kings Cross und hatten zwischen den Gleisen neun und zehn Halt gemacht.
Ich sah mich um. „Und hier soll ein Zaubererzug stehen?“
„Natürlich nicht. Der steht am Gleis neundreiviertel. Sonst würden wir doch die Preisgabe unserer Welt riskieren. Schon vergessen, was ich dir erzählt habe? Alles streng geheim.“, erwiderte Ron.
Ich nickte. „Richtig, aber es ist ziemlich viel auf einmal, was ich mir da merken muss… Und wo ist dieses Gleis mit dem komischen Namen?“
„Gleich hinter der Absperrung zwischen Gleis neun und zehn.“, erwiderte Harry und zeigte auf die Betonmauer.
Ich sah erst zu der Mauer und dann wieder zurück zu den beiden Jungs. Wollen die mich verkohlen? „Und wie kommen wir dahin?“
„Mach es mir einfach nach!“, sagte Ron. Ohne ein weiteres Wort nahm er Anlauf und rannte schnurstracks auf die Mauer zu. Ich wollte wegsehen, um zu verhindern mit ansehen zu müssen, wie er gegen die Mauer knallte, doch Harry lachte und sagte: „Sieh hin, Kim!“
Und tatsächlich! Ron verschwand hinter der Mauer. „Wie hat er das gemacht?“
„Renn einfach auf die Mauer zu. Ganz locker, dir kann nichts passieren. Denk immer daran, du gehörst in die Welt hinter der Mauer. Wenn du Angst hast, können wir auch zusammen gehen.“, letzteres fügte er beim Anblick meines skeptischen Gesichtsausdruckes hinzu.
Ich sah mich um. Ron war schon weg. Und weiter war auch niemand mehr da, der uns sehen könnte. Die restlichen Weasleys würden in gut zwanzig Minuten nachkommen, da sie noch Besorgungen machten.
„Wenn es dir nichts ausmacht.“, sagte ich verlegen.
„Nein, ich hab es dir doch angeboten.“ Damit nahm er aufmunternd lächelnd meine Hand und mir fiel absurderweise auf, dass dies das erste Mal war, das ein Junge meine Hand ergriff.
Dort endete dieser abstrakte Gedanken über einen Zaubererjungen und mich aber auch schon wieder, denn mir nichts dir nichts befanden wir uns auf der anderen Seite der Mauer. Ungläubig wandte ich mich um und sah auf die massiven Ziegel, durch die wir gerade gerannt waren.
„Ich weiß.“, sagte Harry. „Man denkt, man dreht durch.“
Ja, das traf so ziemlich das, was ich dachte.
Ron erwartete uns schon ungeduldig. Als er auf unsere in einander verschränkten Hände sah, prustete er lachend los: „Was ist denn mit euch los?“
Schnell ließen wir einander los und ich ärgerte mich über mich selbst, dass ich Harrys blödes Angebot überhaupt angenommen hatte. Wütend und verlegen sah ich auf meine Schuhe hinunter, während Harry ärgerlich erwiderte: „Das kannst du nicht verstehen, Ron, aber es ist beängstigend für normale Leute, auf eine Mauer zuzurennen.“
Rons Schatten, den die Sonne auf den Asphalt warf, verriet mit, dass er sich verlegen am Kopf kratzte, ehe er sich entschuldigte: „Sicher, du hast Recht. Das war blöd. Harry, die anderen stehen hinten und wir müssen Mum und Dad noch auf Wiedersehen sagen. Kim, warum gehst du nicht schon mal in den Zug? Seamus Finnigan, ein blonder Junge, hat uns ein großes Abteil reserviert. Setz dich einfach zu ihm und sag ihm, wir kommen gleich. Dann stellen wir dir die anderen vor.“
Das war mir Recht, so musste ich nicht sofort zu der riesigen Meute aus neuen Leuten stoßen und konnte diesen Seamus erst einmal kennen lernen. Die beiden halfen mir noch dabei, meine Koffer in den Zug zu hieven, dann zeigte Ron unbestimmt in eine Richtung, in der sich das besagte Abteil befinden sollte und schon waren sie weg.
Ich genehmigte mir eine Minute, um mich umzusehen. Ein dunkelgrüner Teppich zierte den Boden. Die Wände des Zuges waren aus Mahagoni. Überall hingen Bilder mit verschiedenen Wappen, vier an der Zahl. Das waren sicher die vier Häuser von Hogwarts. Ich sagte mir, dass ich später noch genug Zeit haben würde, mich mit ihnen auseinander zu setzen und setzte meinen Weg fort.
Das war nicht gerade einfach mit dem sperrigen Koffer. Die Gänge waren eng und ich eckte lautstark überall an, sodass einige Köpfe belustigt zu mir herumflogen. Hier und da öffnete sich sogar eine Abteiltür und ein Kopf lugte hervor, um zu sehen, wer hier so einen Lärm machte. Statt langsamer wurde ich nun schneller, um schleunigst in das besagte Abteil zu kommen.
Lange suchen musste ich zum Glück nicht, da fand ich den Jungen schon, auf den Rons Beschreibung passte. Er war der einzige, der allein in einem Abteil saß. Sein blondes Haar leuchtete in der Sonne wie ein Weizenfeld, während er aus dem Fenster sah.
Ich atmete tief durch und schob die Abteiltür auf. Er machte sich nicht einmal die Mühe, seinen Kopf zu mir zu wenden, obwohl ich mir ganz sicher war, dass er mich gehört haben musste. Ich räusperte mich nervös. Als er seinen Kopf zu mir umwandte und sich unsere Augen trafen, mussten wir beide lächeln. Es war der Junge, mit dem ich in der Winkelgasse zusammengeprallt war. Aus einem mir unerklärlichen Grund, stieg unbändige Freude in mir auf und ich fing an, dummes Zeug zu stammeln.
„Du bist das! Was für ein Zufall! Ron sagte, ich solle schon mal vorgehen und du würdest uns ein Abteil frei halten.“ Bei seinem irritierten Blick wurde mir etwas mulmig zu mute und ich fügte schnell hinzu: „Du bist doch Seamus Finnigan, oder?“
Zu meiner Erleichterung nickte er nach einiger Zeit. „Wenn Ron das sagt.“
Ich atmete erleichtert auf und betrat mit meinem Gepäck das Abteil. Unschlüssig sah ich von meinem Koffer zur Gepäckablage und machte mich dann daran, ihn hoch zu hieven. Sofort war Seamus bei mir.
„Jetzt warte doch mal eine Sekunde!“ Verärgert nahm er mir das Gepäckstück ab und verstaute es sicher auf der Ablage, ehe er sich wieder auf seinem Platz fallen ließ.
„Danke.“ Nach einigem Zögern setzte ich mich ihm gegenüber und sah ebenfalls aus dem Fenster.
„Darf ich vielleicht auch noch deinen Namen erfahren?“
Ich sah ihn erschrocken an. Hatte ich das nicht gesagt? Sein durchdringender Blick ließ mir Schauer über die Arme laufen. „Entschuldige, ich bin etwas nervös… wegen der neuen Schule. Ich bin Kimberly Harukaze.“ Mir war es verhasst, das zu antworten. Es fühlte sich nicht richtig an. Das war nicht mein richtiger Name! Ich fragte mich bitter, ob ich ihn denn jemals erfahren würde.
„Neue Schule?“ Er musterte mich skeptisch von Kopf bis Fuß. „Wie eine Erstklässlerin siehst du aber nicht aus.“
„Das ist nicht so einfach zu erklären.“, erwiderte ich ausweichend. „Ich erfahre die ganze Geschichte selbst erst in Hogwarts.“
Er machte einen überraschten Gesichtsausdruck, ehe er wieder zu seinem Gleichmut überging, mit den Schultern zuckte und wieder aus dem Fenster sah. Entweder hatte er meinen Widerwillen bemerkt, mehr von mir preiszugeben oder es war ihm schlichtweg egal. Mir aber nicht! Ich hätte zu gern gewusst, was er hinter diesen kühlen, grauen Augen verbarg.
Ich suchte fieberhaft nach etwas, mit dem ich das Gespräch wieder aufnehmen konnte. „Du bist in Gryffindor wie Ron und Harry, stimmts? Was hältst du von diesen Slytherins? Ron hat mich gewarnt und jetzt habe ich etwas Angst, dass ich dahin muss.“
Das war für mich ein regelrechter Gefühlsausbruch und ich bemerkte voller Unbehagen, wie verletzbar ich mich machte, als er seinen abschätzenden Blick auf mich richtete. Es klang fast widerwillig, als er erwiderte: „So schlimm ist es gar nicht. Jeder hat seine Ansichten… warum und wieso weiß wohl nur jeder selbst. Vielleicht wirken Slytherins von außen betrachtet etwas roh, aber in Wirklichkeit…“ Er wandte ärgerlich den Blick ab, als hätte er bereits zu viel verraten.
„Ja?“, fragte ich begierig und konnte nicht aufhören, ihn anzustarren, um es nicht zu verpassen, wenn er das nächste Mal seinen Blick zu mir wandte.
Er sah mich nur kurz aus dem Augenwinkel an, ehe er den Blick wieder nach draußen richtete, wo sich nun alle von ihren Familien verabschiedeten. Die anderen müssten gleich im Abteil erscheinen, aber ich hätte es viel lieber weiter für uns gehabt. Ich wollte diesen Moment anhalten und diesen Jungen entschlüsseln, der so voller Geheimnisse schien.
„Es gibt nicht nur schwarz oder weiß. Nie nur gut oder nur böse. Jeder Mensch hat zwei Seiten. Vielleicht sind die Slytherins einfach nur ehrlich und verbergen ihre schlechte Seite nicht so sehr wie es die anderen tun. Da ist sie… in jedem von uns. In dir sicher auch, oder Kimberly?“ Und da sah er mich voll an. Voller Herausforderung. Als wolle er, dass ich es unbedingt zugab.
Ich hielt seinem Blick stand, während mein Herz begann zu rasen. „Ja… in mir auch, Seamus.“
Da kam ein kurzer Schmerz in seine Augen und er wandte den Blick schnell wieder ab. Gerade hatte ich geglaubt, die Mauer durchdringen zu können, da hatte er sie blitzschnell wieder hochgezogen.
Ich fragte mich noch, was ich wohl Falsches gesagt haben könnte, da fuhr der Zug mit einem ohrenbetäubenden Quietschen an. Irritiert sah ich auf den leeren Bahnsteig. Wo blieben Ron, Harry und der Rest? „Wo bleiben die anderen?“
„Wahrscheinlich sind sie in ein anderes Abteil. Es ist eine ziemlich große Gruppe um die Weasley-Familie, die hätten hier ohnehin nicht mehr rein gepasst.“, erwiderte er.
So, wie er Rons Nachnamen aussprach, hatte ich sofort das Gefühl, dass er ihn nicht leiden konnte. Aber da musste ich mich irren, schließlich hatte Ron Seamus seinen Freund genannt. Ich gab mich sofort mit seiner Erklärung zufrieden und war froh, dass er mir überhaupt geantwortet hatte.
Doch weiter fiel mir nichts zu sagen ein, sodass ich resigniert ebenfalls aus dem Fenster sah, während grüne Hügel an uns vorbeiflogen. Nach einer Weile bemerkte ich, dass er mich ansah und wieder fing mein Gesicht an zu brennen. Nicht zu fassen! Ich benehme mich wie ein dummes Dorfgör. Sicher bemerkt er das und amüsiert sich köstlich.
Doch als ich mich mit angriffslustigem Blick zu ihm wandte, hatte er kein Grinsen im Gesicht. Im Gegenteil. Er sah mich tief und nachdenklich an. Als wäre ich etwas, das er zum ersten Mal auf dieser Welt zu Gesicht bekommt.
Als er das erste Mal ohne Aufforderung zu mir sprach, entglitten mir meine Lippen zu einem Lächeln. „Mal abgesehen von dem, was du bisher gehört hast, Kimberly. In welches Haus würdest du gern kommen?“
Was ich möchte? Danach hatte mich noch keiner gefragt, sodass ich zuerst überfordert war und selbst dann noch überlegte, als ich schon antwortete: „Hm… ich weiß nicht. Gryffindore wäre sicher das einfachste, denn nun kenne ich hier ja schon Leute. Harry, Ron und jetzt dich.“ Als er auf mein Lächeln nur kühl und abwartend zurück starrte, ärgerte ich mich wieder über mich selbst und nahm mich zusammen. „Ravenclaw ist für Fleiß bekannt und Hufflepuff für Tugend, sagt Ron. Ich kann mich mit keiner dieser Eigenschaften identifizieren. Ich muss zugeben, Slytherin reizt mich. Ich bin listig und kühl, das war schon immer so. Ich tue nicht so, als hätte ich stets das Beste für andere im Sinn… eigentlich denke ich die meiste Zeit nur an mich. Bis jetzt hatte ich keinen einzigen wahren Freund.“
Als ich bemerkte, was ich da alles gesagt hatte, hielt ich stumm inne und sah ihn erschrocken an. Nun verzogen sich seine schmalen, ernsten Lippen zum ersten Mal zu einem Lächeln und es war, als ginge die Sonne auf. Nur für mich. Ich hatte das geschafft. Und zwar, indem ich einfach nur ich selber war.
„Weißt du was? Mir ist es egal, wer du bist oder wo du hinkommst. Ich finde dich… interesstant.“, sagte er langsam.
Das war wie ein Schlag in die Magengrube. So etwas Einfaches und Wahrhaftiges hatte zuvor noch niemand zu mir gesagt. Wahrheit gegen Wahrheit. Langsam erwiderte ich sein Lächeln und den Rest der Fahrt war das Reden mit ihm so einfach wie der nächste Atemzug.