Kapitel Sechs
Die Wand zwischen mir und meinen Wünschen
Es ging viele Korridore entlang, viele Treppen hinunter. Mir war klar, dass ich mir diesen Weg gut merken sollte, um die nächsten Tage nicht in Schwierigkeiten zu geraten, doch meine Wut auf Draco Malfoy vernebelte all meine Sinne. Ich war viel an Gemeinheit gewohnt – ja, ich konnte selber gut gemein und hässlich werden – doch niemals wäre ich darauf gekommen, einen Fremden so in die Irre zu führen. Nur eine Frage brannte in meinem Hirn: Warum, verdammt?
Und warum konnte ich es nicht einfach verächtlich als kindisch abtun? Warum brannte sich dieses Vergehen so sehr in mein Herz? Weil er der erste vermeintliche Anker für mich in einer Welt gewesen ist, die mir noch immer so fern erschien wie der Mond.
Als ich im Gemeinschaftsraum ankam, nahm ich kaum das prasselnde Kaminfeuer und die ausladende Sitzecke aus Ledersesseln wahr, sondern einzigst und allein diesen Jungen, der auf der Lehne der Couch saß, ein Bein baumelte lässig in der Luft, und mich anstarrte, als hätte er auf mich gewartet. Wir waren nicht allein. Im Gegenteil – hinter mir befanden sich gut drei Duzend Erstklässler, die mit mir hoch geführt worden sind und um Draco gruppierten sich einige ältere Schüler, die neugierig zu mir herüber sahen. Anscheinend, weil sie sich fragten, warum eine Erstklässlerin so groß war. Oder meiner blauen Haare wegen. Für mich war es zu diesem Zeitpunkt eine namenlose, unbedeutende Meute, deren Urteil über mich mir gestohlen bleiben konnte.
Vielleicht hatte Draco geglaubt, ich würde ihm hier vor all diesen Leuten keine Szene machen. Doch da hatte er sich geschnitten. Ich ging mit großen Schritten direkt auf ihn zu und schubste ihn so hart gegen die Brust, dass er beinahe von der Couch fiel. Sofort verstummten alle Gespräche und die Köpfe flogen zu uns herum, als ich ihn anbrüllte: „Hat es dir Spaß gemacht? Hat es dir die langweilige Zugfahrt etwas versüßt, mich an der Nase herum zu führen? Und was genau hat dir das gebracht, hm, Seamus? Du bist wirklich lächerlich. Wie wenig Magie muss in dir stecken, dass du so etwas nötig hast? Die wertvolle Zeit, die ich im Zug mit dir verschwendet habe, wird das letzte Mal gewesen sein, dass ich es so lange mit dir auf so engem Raum ausgehalten habe.“
Damit wandte ich mich wütend von ihm ab und wollte in mein Zimmer stürmen, da fiel mir auf, dass ich nicht einmal wusste, wo es sich befand. Von hier konnte ich drei Treppen ausmachen, die nach oben führten. Alle Blicke waren auf mich gerichtet. Wie blamabel wäre es nach dieser Szene, im Jungenschlafsaal zu landen! Doch da stubste mich ein großer Junge an, der genau neben mir stand. Er hatte die Arme verschränkt, doch sein Gesicht zierte ein breites, beifälliges Lächeln. Er nickte mit seinem Kopf stumm zu einer der Treppen und ich betete zu allen Göttern, dass ich nicht schon wieder einen von ihnen auf dem Leim ging, ehe ich dem stillen Wink folgte.
Gott sei Dank hatte er es ehrlich mit mir gemeint. Gleich an der ersten Tür oberhalb der Treppe stand mein Name. Dahinter befand sich ein spärlich eingerichteter kleiner Raum nur für mich allein. Ich schlug schnell die Tür hinter mir zu und riss das große Fenster auf. Vor mir befand sich nichts als Grün – weite Wiese und ein Wald, der vor Bedrohung zu puckern schien, wenn man nur einen Blick darauf warf.
Ich wandte mich ab und schmiss mich auf das alte Holzbett. Nichts hier war mir vertraut. Nichts gehörte zu mir. Was mache ich eigentlich hier? Ich will bei Ma und Pa sein… und ich will nicht wissen, dass sie gar nicht Ma und Pa für mich sind. Ich will Nadine zurück und unsere Sommer. Das Gefühl von einem Hauch von echter Freundschaft.
Da kamen sie, die Tränen. So unerwartet und massenhaft, dass ich einen Schluckauf davon bekam. Super Anfang, wirklich. Wenn ich eins drauf hatte, dann so richtig zu versagen. Ich rief mir wieder Ron, Harry und die anderen Gryffindors in Erinnerung. Die sind okay gewesen. Vielleicht konnten sie mir das Leben hier etwas erträglich machen. Im Moment schaffte es der Gedanke an sie allerdings noch nicht einmal, die Tränenflut zu stoppen, die über mein Gesicht raste.
Es hatte mir gar nichts gebracht, am Abend im Gemeinschaftsraum der Slytherins die Coole zu spielen, um die Tränenflut dann in meinem Zimmer rauslassen zu können. Das Frühstück fand natürlich auch in der Großen Halle statt, was bedeutete, dass ich die Maske der kühlen Kim weiter aufrechterhalten musste, denn dort sah ich sie alle wieder. Die Slytherins von gestern, die mir prüfende Blicke zuwarfen, ob ich noch immer so cool war, wie ich getan hatte. Die Gryffindors, die ihr Mitleid mir gegenüber kaum mehr im Zaum halten konnten, sodass ich froh war, nicht mit an ihrem Tisch sitzen zu müssen.
Und natürlich Draco. Diesen Mistkerl. Reichte es nicht aus, dass der Gedanke an ihn mich die ganze Nacht vom Schlafen abgehalten hatte? Musste er sich nun auch noch genau neben mich setzen? Ich spielte mit dem Gedanken, ihm an den Kopf zu werfen, wie dreist ich sein Verhalten fand, entschied mich dann aber dazu so zu tun, als wäre er gar nicht da. Was sich ziemlich schwer erwies, da er die ganze Zeit versuchte, meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
„Ich kann auch mit dir reden, wenn du mich nicht ansiehst, weißt du!“, sagte er schließlich so laut, dass sämtliche Köpfe am Tisch sofort wieder zu uns herumfuhren. Offenbar war man es nicht gewohnt, dass er überhaupt die Stimme erhob.
Kein Wunder, genauso hatte ich ihn im Zug ja kennengelernt… oder besser gesagt in der Winkelgasse. Als ich an dieses erste Aufeinandertreffen zurückdachte und daran, was es in mir angerichtet hatte, konnte ich nicht anders, als ihn anzusehen. Mein Herz rutschte in die Hose. Wieder diese grauen Augen wie die weite, raue See. Ich verfluchte mich selbst, mein Blick verhärtete sich und ich erwiderte: „Aber nicht, wenn ich gehe!“
Damit stand ich auf. Dass er mir trotz aller Blicke auf den Fuß folgen würde, damit hatte ich irgendwie nicht gerechnet. Ich tat so, als bemerke ich ihn nicht und beschleunigte meine Schritte, um aus der Halle zu kommen. Was für ein Drama gleich am ersten Morgen!
„Magst du es, wenn Jungs dir hinterherrennen?“, rief er mir im Korridor nach. Seiner Stimme war anzuhören, dass er es ganz und gar nicht mochte.
Ich fragte mich, warum er es dann tat. Augenblicklich blieb ich stehen und drehte mich um. Fast wären wir wieder zusammengeprallt. Er funkelte mich angriffslustig an, als wäre ich diejenige, die etwas falsch gemacht hätte. Kurze Zeit später sprach er es zwischen zusammengepressten Zähnen aus. „Du bringst mich dazu, mich vor der kompletten Schule zum Narren zu machen.“
Ich verschränkte die Arme vor der Brust und erwiderte verächtlich: „Das schaffst du ganz gut ohne mich.“
„Ich weiß eigentlich gar nicht, was ich hier noch mache!“, fluchte er, wandte sich zum Gehen, drehte sich mit einem weiteren Fluchen wieder um und schleuderte mir eine Entschuldigung ins Gesicht, die in dem Ton, in welchem er sie sagte, eher wie eine Hasstirade klang. „Ich habe mich bescheuert aufgeführt im Zug! Als ich hörte, wen du suchst, wollte ich dich einfach nur auf den Arm nehmen, schließlich kannte ich dich ja gar nicht. Dann haben wir uns so gut unterhalten und es gab kein Zurück mehr. Ich habe mehrmals versucht, es dir zu sagen. Ich habe es nicht fertiggebracht. Bist du jetzt zufrieden?“
Ich starrte ihn ungläubig an, ehe ich zurückschleuderte: „Hast du mich gerade gefragt, ob ich zufrieden bin?“
„Was soll ich denn jetzt noch sagen?“, rief er aufgebracht. Wie er da so stand, im Sonnenlicht, das durch eines der großen Rundbogenfenster auf den alten Korridor fiel, wirkte er aufrichtig überfordert. Ich wäre gern einen Schritt auf ihn zugegangen und hätte ihm gesagt, dass ich ihn verstand und dass es okay wäre. Doch ich war es nicht gewohnt, auf Menschen zuzugehen… über meinen Schatten zu springen. Deshalb wusste ich genau, was es ihn gekostet haben muss.
Als ich weiter schwieg, fluchte er abermals, drehte sich um und eilte davon. Ich wäre ihm gern nachgerannt, doch meine Beine wollten mir nicht gehorchen. Stattdessen drehte ich mich um und ging in die andere Richtung davon.
Am Nachmittag hing ich mit Ron, Harry und einigen Gryffindors – darunter der echte Seamus Finnigan – auf den Rängen beim Quidditchfeld ab, während sie mir die Regeln des Spiels zu erklären versuchten. Ich hatte es schnell verstanden und wenn ich ehrlich war, wäre ich sofort auf einen Besen gestiegen, um es selbst einmal auszuprobieren, wenn ich denn einen gehabt hätte.
Insgesamt war es seltsam, dass ich als einzige in Slytherin-Uniform zwischen den Gryffindors saß, die mich sofort vorbehaltlos akzeptiert hatten, während ich eine stumme Ahnung hatte, dass sie das sonst nicht so leicht taten. Wahrscheinlich hatte heute Morgen jeder die Szene zwischen Draco und mir vor der Großen Halle mitbekommen. Kaum hatte ich den Gedanken zuende gedacht, sprach Harry das Thema wieder einmal an. „Ich begreife einfach nicht, was Malfoy von dir will. Ihm schien es ja ein richtiges Bedürfnis zu sein, sich zu erklären. Er führt wieder etwas im Schilde.“
„Sei bloß vorsichtig!“, schloss Ron sich unter allgemeiner Zustimmung an.
„Ich habe nichts mehr mit dem Kerl zu schaffen, wie oft denn noch?“, erwiderte ich gereizt.
„Vielleicht hat dir ja im Zug nur der gelogene Name zugesagt.“, sagte Seamus mit einem breiten Grinsen, das –typisch Ire - so hell war wie die Sonne.
Ich hob verächtlich eine Braue, obwohl ich mich über die Aufmerksamkeit freute. „Mir hat überhaupt nichts zugesagt. Ich wollte einfach auf euch warten, weil ich noch keinen Anschluss gefunden hatte.“
Die anderen lachten und ich war froh, dass sie meine Lügen nicht durchschauten. Dass sie nicht die Traurigkeit hinter meinen bissigen Bemerkungen sahen und mir die kalte Maske der Unnahbaren sofort abnahmen.
Der Tag verging schnell. Im Laufe der Zeit wurde das Quidditchfeld von zwei der Hausmannschaften bevölkert. Zum einen den Slytherins und jetzt am Spätnachmittag von den Gryffindors. Harry, Rons Brüder und die zwei älteren Mädchen namens Angelina und Alicia gingen sich umziehen, denn sie waren fester Bestandteil des Teams. Ron erzählte mir begeistert von der nun schon legendären Geschichte, wie Harry in die Hausmannschaft gekommen war. Offenbar hatte er sich unerlaubt ein Wettrennen mit Malfoy auf den Besen geliefert und war dabei gesehen worden. Statt einer Bestrafung, wurde er dank seiner Flugkünste sofort als Sucher in die Quidditchmannschaft aufgenommen – der jüngste Spieler seit Anbeginn der Zeit, wie Ron mehrmals betonte.
Nun betrat die Mannschaft in ihren scharlachroten Umhängen mit Besen bewaffnet das Feld. Angeführt wurden sie von einem großen und muskulösen Jungen, bei dem ich sofort das Gefühl hatte, ihn schon einmal gesehen zu haben. Ich kniff die Augen zusammen und spähte angestrengt zum Feld herunter, aber ich war viel zu weit entfernt. Und überhaupt – woher hätte ich einen Zaubererjungen kennen sollen?
Neville– ein stiller, rundlicher Typ – lenkte mich von dem Jungen ab, als er sagte: „Also für mich wäre das nichts. Die Höhe, die Schnelligkeit und wenn du gegen Slytherins spielst, liegst du schneller im Gras als dir lieb ist. Nichts für ungut, Kim.“
Letzteres fügte er hastig hinzu und wurde rot. Ob es jetzt für immer so sein würde? Ich kassiere Seitenhiebe, die mich daran erinnern, dass ich hier nur halb dazu gehöre, gefolgt von einer Entschuldigung, die die Situation nur noch peinlicher werden ließ? Es musste doch auch Slytherins geben, mit denen es auszuhalten war! Irgendjemand, mit dem ich die Zeit totschlagen konnte, die wir das Slytherinhaus nicht verlassen durften.
„Was ist eigentlich mit dem Wald?“, fragte ich, um mich von meinen eigenen Gedanken abzulenken. „Weiß einer von euch, warum er verboten ist?“
„Na wegen all dem gruseligen Zeugs, was darin umherstreunt.“, erwiderte Neville und schüttelte sich.
„Was denn zum Beispiel?“, fragte ich neugierig und dachte an meine heißgeliebten Horrorfilme zurück, die ich früher gern mit meinem Freund Oliver geschaut hatte.
„Werwölfe und was weiß ich noch für Ungeheuer. Wie gesagt, er ist für uns verboten. Keiner von uns war jemals da drin.“, erwiderte Seamus schulterzuckend. „Und ich bin auch nicht besonders scharf drauf.“
„Da kannst du nur für dich sprechen, Finnigan.“, ertönte da eine Stimme über uns. Das war George, der auf seinem Besen zu uns rüber geflogen war, ehe er sich augenzwinkernd mir zuwandte: „Es gibt keinen Ort in und um Hogwarts, den Fred und ich noch nicht erkundet hätten. Wenn dir je nach einer kleinen Führung zumute sein sollte, kannst du dich jederzeit vertrauensvoll an uns wenden.“
Ich lachte fröhlich auf. Es war das erste mal, dass es nicht gestellt war. „Da komme ich doch gern drauf zurück.“
„Zieht sie nicht in euren Schlamassel mit rein.“, sagte Ron finster zu seinem Bruder. „Wegen euch bekommt sie nur Ärger.“
„Ich kann auf mich allein aufpassen!“, entgegnete ich genervt. Was bildete der sich nur ein!
George nahm es locker. „Wir sind noch nie erwischt worden, Ron. Anders als andere Leute.“ Und er sah ihn bedeutungsvoll an. Ich fragte mich neugierig, was Ron ausgefressen hatte. Wie jemand, der sich von Ärger fern hielt, sah er wirklich nicht aus. Im Grunde taten wir das alle nicht. Na ja, bis auf Neville. Doch wie ich später noch herausfinden sollte, fand der Ärger Neville jederzeit.
„Hör endlich auf, mit der Kleinen zu flirten, Weasley, und beweg deinen Hintern zurück aufs Feld!“, brüllte da der stämmige Junge – anscheinend der Kapitän der Quidditchmannschaft.
George rollte mit den Augen, kam dem Befehl aber nach wenigen Sekunden nach. Nicht jedoch, ohne vorher zurück gebrüllt zu haben. „Ist ja gut, du Sklaventreiber. Du willst sie dir doch nur selbst unter den Nagel reißen.“
Sprechen die über mich?, fragte ich mich halb verärgert, halb verdutzt. Mir war in den letzten beiden Tagen nicht verborgen geblieben, dass ich anscheinend auf die Zaubererjungs eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausübte. Das war neu für mich. Die Jungs aus meiner Klasse haben mich immer für komisch gehalten. Womöglich hatten sie damit nie ganz Unrecht. Das blaue Haar, die kühle Art. Doch hier schien ich etwas Besonderes zu sein. Es fiel schwer, diesen neuen Status nicht zu genießen.
Dennoch erinnerte es mich zeitgleich in jeder Sekunde daran, dass nur ein Junge einen ähnlichen Zauber auf mich ausübte. Dieser Gedanke machte es nicht gerade leichter für mich, Draco aus meinem Kopf zu verbannen. Im Gegenteil – je mehr ich es versuchte, desto mehr biss er sich in mir fest wie ein blutsaugender Vampir.
Die nächsten Tage wurde es auch nicht leichter. Zwar war ich die meiste Zeit mit den Gryffindores zusammen, dennoch konnte man nicht ewig vermeiden, sich über dem Weg zu laufen, wenn man ein und demselben Haus angehörte. Und obwohl Hogwarts und seine Ländereien einfach gigantisch in seiner Größe waren, hatte ich das Gefühl, keinem Schüler so oft zu begegnen wie Draco. Er ging an uns vorbei, wenn wir das große Portal durchquerten und nach draußen gingen. Ich sah ihn auf der anderen Seite, wenn wir am See saßen und dem darin lebenden Riesenkraken zusahen, wie er fröhlich mit einem Tentakel durch die Luft hieb. Vielleicht lag es daran, dass ich unbewusst doch nach ihm Ausschau hielt. Doch vielleicht suchte er auch bewusst meine Nähe.
Doch warum hätte er das tun sollen? Wieder und wieder gingen mir Harrys Sätze durch den Kopf. Hatte er Recht? Hatte Draco etwas vor? Den nächsten fiesen Schachzug gegen mich, vielleicht? War seine Reue nur gespielt gewesen und all diese kleinen Momente im Zug? Oder steckte hinter all dem etwas so Großes, dass ich zu klein war, um es greifen zu können?
Nun war es bereits Sonntag. Morgen begann mein erster Schultag als Hexe. Es war immer noch verrückt, an so etwas zu denken. Selbst, wenn man wie ich in einem Schloss wohnte, indem sämtliche Treppen jederzeit nach Lust und Laune ihre Richtung änderten. So wie jetzt.
Ich befand mich gerade auf dem Weg vom Abendessen zurück zu den Slytherinräumen, da setzte sich die Treppe mit einem Ruck in Bewegung. Ich strauchelte und musste mich am Geländer festklammern, um nicht noch in die Tiefe zu stürzen. Mit rasendem Herzen sah ich nach unten und beobachtete, wie sich die Stockwerke unter mir drehten, bis die Treppe sich endlich für einen Haltepunkt entschied.
Ich fackelte nicht lange und lief in den nächstbesten Korridor – wer weiß, wo ich sonst noch gelandet wäre! Ratlos sah ich mich um. Ich war definitiv nicht einmal in der Nähe der Slytherinräume und es war fast Abendruhe. Die Fackeln in den Fluren loderten wie auf Kommando auf und ich zuckte erschrocken zusammen.
„Na prima.“ Ärger gleich in der ersten Woche. Das war das Letzte, was ich jetzt noch gebrauchen konnte! Jetzt hieß es, Ruhe bewahren und erst einmal irgendeine Richtung einschlagen. Schließlich konnte ich schlecht hier stehen bleiben.
Also bog ich in den Korridor ein und ging mit zügigen Schritten, wobei ich versuchte, mich im Schatten der Wände zu halten, damit man nicht auf die Idee kam, ich hätte irgendetwas im Schilde, wenn man mich um diese Zeit hier entdeckte.
Der Gang mündete in einen breiteren Flur. Von hier gab es zwei Wege. Keiner davon ließ darauf schließen, dass ich mich bald am gewünschten Ziel befinden würde. Seufzend wandte ich mich wahllos nach rechts und setzte meinen Weg fort. Das einzige, was sich änderte war, dass der Gang nach hinten immer dunkler wurde. Ich überlegte ernsthaft umzukehren, als ich hinter mir eilige Schritte vernahm. Einerseits hatte ich Angst, was mir blühte, wenn man mich zu dieser Tageszeit hier erwischte. Andererseits war ich heilfroh, jemanden nach dem Weg fragen zu können. Aber als ich mich umwandte, fuhr mir der Schrecken durch alle Glieder. Jedem anderen wäre ich jetzt lieber begegnet.
„Was machst du denn hier?“, fragte Draco scharf.
Sofort ging ich angesichts dieses Tons in Abwehrhaltung, indem ich die Arme vor der Brust verschränkte und erwiderte: „Dasselbe könnte ich dich fragen, oder?“
Er lüftete eine Braue und nickte zu dem Buch, was er sich unter den rechten Arm geklemmt hatte. „Ich war in der Bibliothek. Du hingegen bis gerade auf dem Weg in den Astronomieturm.“
„Wenn es hier zum Astronomieturm geht, was hast du dann hier zu suchen?“
„Ich habe dich gesehen und bin dir gefolgt, um dich daran zu hindern, weiter zu gehen.“, entgegnete er.
„Oh, ich scheine dir ja plötzlich äußerst wichtig zu sein.“, erwiderte ich abfällig, wobei ich es nicht ganz schaffte, das Zittern aus meiner Stimme zu nehmen.
Natürlich bemerkte er es und ich war mir ganz sicher, dass er gerade etwas ganz anderes sagen wollte, als das kalte Zeug, was er sonst so von sich gab, doch da horchte er auf. Schritte ertönten. Eilige, entschlossene Schritte. Die Schritte von jemandem, der dazu entschlossen war, herumschleichende Schüler zu erwischen.
„Komm schnell!“, zischte Draco, fasste mit seiner freien Hand nach meinem Arm und zerrte mich hinter die Statue einer buckeligen Hexe. Hier war es so dunkel und eng, dass uns unmöglich jemand entdecken konnte, der nicht gezielt nach uns suchte. Dennoch hielten wir den Atem an, als sich die Schritte näherten.
Doch die hochgewachsene Gestalt eines Lehrers eilte an uns vorbei, ohne von uns Kenntnis zu nehmen. Dennoch wagte ich erst wieder zu atmen, als die Schritte verklungen waren. Und erst jetzt bemerkte ich, wie nah wir uns waren. Dass hinter mir die Wand und vor mir er war. Nichts dazwischen, außer der Luft, die wir atmeten. Die mir jetzt schier weg blieb, weil seine Gegenwart mich erdrückte. Mein Herz krümmte sich unter den neuen Empfindungen wie unter einer Zentner schweren Last.
Seine Stimme kam von fern, als er flüsterte: „Wir sollten auf kürzestem Weg zum Gemeinschaftsraum zurück.“
Ich konnte nur noch nicken.
Er führte uns zielsicher durch die Gänge. Oft bog er in Korridore ab, die ich als solche gar nicht wahrgenommen hätte, wie etwa hinter Wandvorhängen. Ich war mir sicher, dass es nicht das erste mal war, dass er des nachts heimlich durch die Gänge schlich. Mir lag die Frage auf den Lippen, warum er sich Sonntagnacht ein Buch aus der Bibliothek holen musste, doch ich ließ sie unausgesprochen. Noch wollte ich diese seltsame Nähe genießen. Diesen heimlichen Moment, der nur uns gehörte.
Als wir im Gemeinschaftsraum angekommen waren, war die Anspannung zwischen uns zurück. Er ließ mir keine Zeit, meine Frage zu stellen. „Du solltest in Zukunft besser aufpassen.“, sagte er nur, ehe er auf der Treppe zum Jungenschlafsaal verschwand.