Zu finden in der Anthologie: Wer anderen eine Grube gräbt.
Hrsg: Gitta Rübsaat Autoren schreiben für die Tierrettung e.v.
Heidrun Böhm
Hörst du mir zu?“ Fragte sie, und ihre blauen Augen hefteten sich an ihm fest. Sie hatte die Mundwinkel nach unten gezogen, wie immer wenn sie sich vernachlässigt fühlte. „Natürlich höre ich dir zu“, antwortete er.
Er spürte, wie die Reifen des Autos in der Kurve leicht abrutschten. Der Regen rieselte beständig vom Himmel und verwandelte sich in Schnee. Die Scheinwerfer flackerten trübe und beleuchteten die nasse Straße. Die Uhr im Auto zeigte 20 Uhr. „Ich bekomme ein Kind“, sagte sie, und in ihrer Stimme war ein leises Zittern.
Es war ein langer Arbeitstag gewesen. Das Motorengeräusch des Gabelstaplers, mit dem er Tag für Tag Päckchen in die bereitstehenden Lastwagen brachte, summte und brummte immer noch in seinen Ohren. Das Brummen setzte sich in seinen Gehörgängen fest und machte ihn taub.
„Ich bekomme ein Kind“, wiederholte sie, während eine Böe heftig gegen die Windschutzscheibe prallte, und die Räder rutschten.
Ich hätte Winterreifen aufziehen sollen, dachte er. Ihre kalte Hand legte sich auf seine. Er zuckte zusammen. „Hörst du mir zu?“ fragte sie noch mal. „Ich höre dir immer zu“, antwortete er automatisch. Morgen muss ich sofort zur Werkstatt, dachte er.
Nebelschwaden stiegen vor der Heckscheibe des Autos auf. Sie versuchte es nochmals. Die blonden Haare fielen ihr bis auf die Schultern, sie hatte ihre kleine Nase hochgezogen und auf ihrer Stirn bildete sich eine steile Falte. Eindringlich sagte sie, „Wir bekommen ein Kind, ich bin schwanger.“ Ihre Stimme klang jetzt heißer, so als ob sie eine Erkältung bekäme. Im Autoradio sang Gary Moore einen Blues. Ein Wagen fuhr auf der Gegenfahrbahn, die hellen Scheinwerfer blendeten seine Augen. Schwarze Schatten huschten an ihnen vorbei. Der Schnee fiel in dichten weißen Flocken vom Himmel. Die Räder rutschten, das Auto schlingerte leicht. Sie zuckte erschreckt zusammen und klammerte sich an seinen Arm.
Patrick hatte nur daran gedacht, sie nach Hause zu bringen. So wie jeden Tag, seit sie sich in der Fabrik kennengelernt hatten, in der er den Gabelstapler fuhr, und sie im Lager Pakete zum Versand fertigmachte. Ihre zierliche Figur, ihre blonden Haare, ihr fein geschnittenes Gesicht hatten ihm gefallen. Sie wohnte im selben Ort wie er, in einem kleinen grauen Haus, allein mit ihrem Vater und einem Schäferhund.
„Warum, bekommst du ein Kind, bist du schwanger?“ Fragte er, ohne nachzudenken. Ein heißeres Lachen stieg aus ihrer Kehle auf. Ihre Fingernägel krallten sich in seinen Arm. „Warum sollte ich wohl sonst ein Kind bekommen“, erwiderte sie.
Er wusste nicht, was er antworten sollte. Eben noch war die Welt in Ordnung gewesen. Er hatte sich darauf konzentriert, sie wie fast jeden Tag an dem kleinen grauen Haus abzusetzen, in dem sie mit ihrem Vater wohnte, ihr zuzuwinken, wenn sie ausgestiegen war, und weiter zu fahren.
Dann und wann hatten sie sich nach Feierabend in der kleinen Bar getroffen. Zusammen waren sie an der langen Theke gesessen, hatten Cocktail oder Bier getrunken, und sich näher kennengelernt. Zu nah, wie er jetzt feststellen musste.
Die Scheinwerfer des Autos blitzten auf. Im dichten Schneetreiben sah er das gelbe Ortsschild. In ein paar Minuten hatten sie das kleine graue Haus erreicht. „Und du denkst, ich bin der Vater?" Fragte er, während er den Fuß vom Gaspedal nahm und langsam weiter fuhr. Die Heizung im Auto war fast defekt. Die Kälte kroch durch die Tür.
Ihr Mund verzog sich zu einem anzüglichen Lächeln. „Ich war nur mit dir zusammen. Setz mich zu Hause ab, ich zieh mich um, und wir treffen uns in der Bar. Wir sollten darüber reden“. Ihre Hand lag noch immer auf seinem Arm. Die Fingernägel hatten leichte Kratzspuren hinterlassen. Er nickte nur. Ihm fehlten die Worte.
Das kleine graue Haus tauchte aus der Dunkelheit auf. Er hielt den Wagen an und ließ sie aussteigen. Wie immer öffnete ihr der Vater die Tür, und der Schäferhund bellte freudig erregt, als er sie sah.
Patrick war noch nie in diesem Haus gewesen. Sie hatte ihn außerdem nie aufgefordert, mit hineinzukommen. Von ihrem Vater wusste er nur, dass er Rentner war, und seine Frau seit langer Zeit tot war. Iris hatte wenig über ihn geredet, und es schien ihm, als ob es ihr nicht wichtig war. Nicht wichtig für unser Verhältnis, korrigierte er sich, als er den Wagen wieder in Gang setzte, um nach Hause zu fahren.
Seine Mutter empfing ihn wie jeden Abend mit der Frage: „Na, wie war es bei der Arbeit?“ „Wie immer, „ antwortete er. Sie lächelte müde, wischte sich die Hände an der karierten Schürze ab, und sagte: „Deinem Vater geht es heute gut.“ Ihr Gesicht war ihm vertraut, er konnte darin wie auf einer Landkarte lesen. Er wusste, sie hatte den ganzen Tag ihren launischen Mann ertragen, der nach einem Schlaganfall hilflos im Bett lag. Sein Vater konnte nur noch krächzen, seine Stimme war weg, und an Laufen war nicht zu denken.
Patrick hängte seinen blauen Mantel an die alte hölzerne Garderobe. „Schläft Vater, oder kann ich zu ihm gehen?“ „Lass, er schläft“, antwortete seine Mutter und fügte hinzu: „Wasch dir die Hände, das Essen ist fertig.“
„Ich gehe nach dem Essen in die Bar“, sagte er, als er seiner Mutter an dem braunen hölzernen Tisch gegenübersaß.
Draußen fiel der Schnee in dichten Flocken vom Himmel und bedeckte die Häuser und Straßen der kleinen Stadt mit einer festen weißen Schicht. Das Licht der Deckenlampe flatterte trübe und warf schwarze Schatten in den Raum. Seine Mutter senkte den Blick auf ihren Teller und sortierte mit der Gabel die roten und weißen Bohnen im Cillieintopf. „Wie heißt sie?“ Fragte sie. Patrick wusste, Mutter hätte gerne mehr über seine Beziehung zu dem Mädchen erfahren, aber er hatte ihr nichts zu erzählen. „Iris“, sagte er knapp. Ihr Name kam ihm nur schwer über die Lippen. Er wusste nicht, wie er mit der Nachricht die er von ihr erhalten hatte, umgehen musste. Mutter sollte nichts wissen, bevor er die Situation geklärt hatte. „Grüße sie von mir“, sagte seine Mutter schlicht und sah ihn an. „Mach ich“, antwortete er schroff, stand vom Tisch auf und ging in sein Zimmer um sich umzuziehen.
Patrick saß in der Bar und trank ein Bier, als Iris hereinkam. Tief in seinem Herzen hatte er gehofft, sie würde nicht kommen, oder das, was sie gesagt hatte, sei nicht wahr.
„Hallo“, sagte sie kurz, hob die Hand zum Gruß, und setzte sich neben ihn. Sie hatte einen grün karierten Schottenkittel an, roch nach Seife, und ihre langen blonden Haare umrahmten ihr Gesicht wie ein Heiligenschein. Patrick wünschte, er könnte die Zeit zurückdrehen, wünschte, er hätte sie nie kennengelernt. Und doch, sie gefiel ihm, als sie ihn unsicher ansah und dabei an den Fingernägeln kaute, wie ein kleines Mädchen das darauf wartet, ausgeschimpft zu werden. Sie bestellte sich eine Cola und begann langsam zu trinken. Noch immer hatten sie kein weiteres Wort gewechselt. Patrick räusperte sich. Aus der schwingenden Membrane über seinem Kopf sang Albert Collins „Blue Monday“. „Blues“, sagte Patrick. „Was ist das?“ Fragte sie. „Blues,“ wiederholte Patrick. „Albert Collins“, sagte er „Verstehe ich nicht“, sagte sie. „Muss man nicht verstehen, muss man fühlen“, erklärte er „Fühle ich nicht“, sagte Iris. Ihre Haltung und ihr Gesichtsausdruck waren apathisch. Patrick versuchte, sich zusammenzureißen. Es nützte nichts, sie auf die Musik aufmerksam zu machen. Er musste das leidige Thema ansprechen. Er musste die Initiative ergreifen.
„Was soll nun geschehen?“ Fragte er. „Ich weiß es nicht“, antwortete sie und senkte den Kopf. Patrick umklammerte sein Bierglas. Wut stieg in ihm hoch. Warum war sie so passiv?
„Ich sehe im Moment zwei Möglichkeiten, entweder ich bezahle für das Kind, oder ich weigere mich und lasse einen Test machen.“ „Test?“ fragte sie und ihre Augen wurden groß. „Hast du nicht gehört, dass man die Vaterschaft testen kann?“ „Nein, davon wusste ich nichts, „ gestand Iris. Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen. Ihr Blick irrte im Raum umher. „Damit hast du nicht gerechnet“, sagte er triumphierend. „Man muss immer mit allem rechnen“, antwortete sie vage.
Draußen kam ein Sturm kam auf. Eine dichte Schneewand trieb durch die Straßen, der Wind rüttelte an der Tür wie ein ungebetener Gast, dem man keinen Einlass gewähren will.
Als der Barbesitzer Iris fragte „Willst du noch eine Cola?“ zuckte sie erschreckt zusammen. „Was ist mit dir?“ erkundigte sich Patrick. Ihr Benehmen war ihm fremd. Er hatte sie als fröhlich plauderndes Mädchen, das immer einen Witz auf den Lippen hatte, kennengelernt. Doch das schien in einer anderen Zeit gewesen zu sein. Iris kaute weiter an den Fingernägeln, ihre Augen waren trübe und aus ihrer Kehle kam ein heißeres Krächzen, als sie sagte: „Ich muss dir etwas anvertrauen, ich nehme an, das Kind ist von meinem Vater.“
„Ah ja, “ antworte Patrick knapp. Er fühlte sich wie ein unbeteiligter Zuschauer bei einem Kriegsfilm. Eine Bombe schlägt ein, Menschen rennen um ihr Leben, verbergen sich in einem Bunker. Ein Mann aber hat keine Chance, der Feuerhagel fällt vom Himmel und trifft nur ihn.
„Du willst mir damit sagen, dass du und dein Vater…“ „Ja, das will ich damit sagen“, erklärte Iris. Sie wirkte, wie ein kleines Mädchen das nur darauf wartet, ausgeschimpft zu werden wegen eines Vergehens, das sie nicht selbst verschuldet hatte. Wegen eines Mannes, der ihr Vater war und sie offensichtlich missbraucht hatte.
„Lass uns gehen“ sagte Patrick, mit einem Blick auf den Barkeeper, der neugierig die Ohren spitzte. „Ich denke, über dieses Thema müssen wir alleine sprechen.“ Iris erhob sich bereitwillig.
Draußen wehte der Wind beständig, der Schnee türmte sich am Weg und auf den Straßen. Ein Schneepflug fuhr ratternd vorbei. Der Fahrer hatte eine rote Pudelmütze auf dem Kopf und trug eine graue Schneejacke. Die kleinen Äuglein in seinem dicken Gesicht beobachteten Patrick und Iris aufmerksam, als sie ins Auto stiegen. Patrick startete den Wagen und fuhr los. Er hatte kein Ziel. Iris saß zusammengekauert neben ihm, sie hatte sich ihrem blauen Wintermantel, der ihr zu groß war, verkrochen. Nur ihre blonden Haare konnte Patrick in der Dunkelheit ausmachen.
Die Räder rutschten auf der glatten Fahrbahn. Das Auto schlenkerte hin und her. Patrick lenkte es in einen Feldweg und hielt an. „Es hat keinen Zweck, weiter zu fahren“, sagte er und schaltete die Standheizung ein.
„Was soll ich nur tun?“ piepste Iris. „Ich weiß es nicht, „ erwiderte Patrick. Er starrte in die Dunkelheit und auf die fallenden Schneeflocken, hörte zu, wie der Wind draußen pfiff, und sah sie an, wie man ein Geschöpf ansieht, bei dem man zum ersten Mal wahrnimmt, dass es etwas Exotisches an sich hat.
„Wie lange geht das schon so?“ Fragte er dann. Iris vergrub sich tiefer in ihren Wintermantel und wärmte sich die Hände an der Heizung. „Er hat es immer wieder versucht, seit ich ein kleines Mädchen war“, sagte sie, und ihre Stimme klang heißer. Patrick umklammerte das Lenkrad mit den Händen, seine Fingerknöchel traten weiß hervor. Ihm war kalt. Aber dieses Kältegefühl kam aus seinem Innern. „Ich verstehe nicht, wie man seiner eigenen Tochter so etwas antun kann“, sagte er dann. Sie lächelte müde in den Abend. „Ich konnte nichts dagegen tun, zuerst war ich zu klein, und später hat er mich bedroht.“
Von ferne hörten sie ein Motorengeräusch. Ein Schneepflug kam durch die Dunkelheit direkt auf sie zu. Patrick versuchte den Wagen zu starten, aber er fuhr nicht an. Der Schneepflug blieb dicht vor dem Wagen stehen. Iris zuckte zusammen. „Das ist mein Vater“, stammelte sie, und deutete auf den Fahrer. Patrick sah diesem Mann ins Gesicht, sah seine scharf geschnittenen Züge, die Falte über der Nasenwurzel mitten auf der Stirn, die so tief war, dass sie seinen Schädel zu spalten schien. Was war er für ein Mensch? Dachte er nur an sein Vergnügen? Hatte er keinen Respekt vor seiner Tochter? Wut kochte in ihm hoch. Er ballte die Fäuste zusammen. Er wäre gerne ausgestiegen und hätte diesem Scheusal seine Faust mitten ins Gesicht geschlagen. Aber er wusste, das hatte keinen Sinn. Er blieb, wo er war, und legte seinen Arm um Iris. Der Motor des Schneepfluges heulte auf. Iris zuckte zusammen. „Er wird uns überfahren“, stammelte sie und klammerte sich Schutz suchend an Patrick. „Dazu ist er zu feige“, Patrick versuchte wieder den Wagen zu starten, aber es nützte nichts. „Er fährt rückwärts, „ stellte Iris fest, die durch den dichten Schleier des Schneetreibens nur schemenhaft etwas erkennen konnte. „Willst du mir damit sagen, dass dieses Schwein türmt?“ fragte Patrick. „Ich weiß nicht, was er vorhat, eigentlich habe ich das noch nie gewusst. Seit Mutter tot ist, hat er sich sehr verändert.“ „Sehr verändert“, lachte Patrick, während das Motorengeräusch des Schneepfluges leiser wurde.
Das Schneetreiben ließ nach. Am Himmel funkelten ein paar Sterne. „Was wird nun?“ Fragte Patrick. „Ich an deiner Stelle würde ihn anzeigen, dafür sorgen, dass ich wegkomme von diesem Scheusal. Er sollte zur Rechenschaft gezogen werden.“
„Ich kann das nicht. Ich habe Angst." Ihre kalten Hände klammerten sich an seiner Jacke fest. Ein Schluchzen kam aus ihrer Kehle. Patrick drückte sie an sich, hielt sie fest im Arm. Eine ihrer blonden Haarsträhnen kitzelte an seinem Kinn. Dann wärmte er sich seine Hände und schaltete das Autoradio ein. Bei Musik konnte er besser nachdenken.
Und Joe Cocker sang „Please Give Peace a Chance“, während das Motorengeräusch des Schneepfluges erneut lauter wurde und das blecherne Ungetüm von hinten auf den Wagen zurollte.