„Alles gute zum Geburtstag, meine Kleine“, flötete meine Tante, die mich gerade mitten aus dem Schlaf geweckt hatte. Ich strich mir meine langen, braunen Haare aus dem Gesicht und blickte sie aus meinen verschlafenen Augen an. „Es ist doch noch mitten in der Nacht“, stöhnte ich, nachdem ich einen Blick auf meinen Wecker geworfen hatte. 6:54 Uhr. Eindeutig zu früh für die Ferien, doch Tante Lissy liebte Geburtstage und war meist noch aufgeregter als die Person selbst. Daher weckte sie mich seit sieben Jahren zu meinem Geburtstag schon sehr früh.
„Können wir nicht einfach später frühstücken? Ich bin so müde“, bettelte ich, in der Hoffnung, dass sie Gnade walten und mich weiter schlafen lies. Doch vergebens. „Auf keinen Fall“, antwortete sie mit gespielter Empörung. „Wir haben heute noch viel vor.“ Murrend zog ich meine Decke hoch bis zum Kinn. Ein Fehler, wie ich im nächsten Augenblick feststellen musste, denn sie zerrte sie mir vom Körper und sofort fing ich an zu frieren. Ich versuchte meine Decke zurück zugewinnen, doch Tante Lissy hielt sie von mir weg, sodass ich sie nicht erreichen konnte. Irgendwann gab ich auf und setze mich auf die Kante meines Doppelbettes. Prüfend sah sie mich aus ihren brauen Augen an, als überlegte sie, die Decke zur Sicherheit mitzunehmen. Doch schließlich warf sie sie zurück auf mein Bett und meinte: „In zehn Minuten gibt es Frühstück, Beatrice. Und wenn du dich wieder hinlegst, komme ich mit einem Eimer voll kaltem Wasser!“
Dann hüpfte sie pfeifend, wie ein kleines Kind, aus meinem Zimmer.
Da ich wusste, dass meine Tante es ernst meinte mit dem kalten Wasser (Ich habe diese Erfahrung schon mal gemacht und war nicht gerade erpicht darauf sie nochmal zu erleben), blieb ich noch einen Moment sitzen. Schließlich stand ich seufzend auf und öffnete meine Vorhänge. Helles Morgenlicht durchflutete mein Zimmer und blendete mich. Als sich meine Augen an das Licht gewöhnt hatten, öffnete ich das Fenster und sog die frische Luft ein. 'Ein herrlicher Morgen', dachte ich und blickte in den wolkenlosen Himmel.
Auf einmal nahm ich eine Bewegung an dem Fenster gegenüber wahr. Als ich dort hin sah, tauchte das Gesicht von Joshua auf. Mein bester Freund seit ich vor sieben Jahren zu meiner Tante gezogen war und der Junge, in den ich schon seit Jahren verliebt bin. Mein Herz schlug schneller, als er mich anlächelte und ebenfalls sein Fenster öffnete. Ich grinste zurück und
fragte: „Warum bist du eigentlich schon so früh wach?“, denn eigentlich stand er selten vor 10 Uhr auf, wenn wir keine Schule hatten. „Meine kleine Schwester hat mich geweckt. Den Grund wollte sie mir nicht verraten, aber sie kam mit lautem Gebrüll in mein Zimmer gestürmt und sprang auf meinem Bett herum“, meinte er lachend und stützte sich mit seinen Ellbogen auf das Fensterbrett. Er schloss seine Augen und wirkte, als würde er gleich einschlafen. In dem Moment rief meine Tante, die sich unbemerkt von hinten angeschlichen hat: „Guten Morgen, Joshua.“ Da sie direkt hinter mir stand und mir quasi in Ohr brüllte, schrie ich vor Schreck auf. Böse funkelte ich sie an, als sie völlig ruhig sagte: „Das Frühstück ist fertig, mein Spatz. Kommst du?“ Mit immer noch wild klopfendem Herzen, nickte ich nur und drehte mich wieder zu Joshua um. „Wann kommst du nachher rüber?“, fragte ich. Joshua richtete sich auf und streckte sich. „Ich dachte, so gegen 17 Uhr, dann kann ich dir und deiner Tante noch helfen alles vorzubereiten.“
„Klasse. Minna kommt wahrscheinlich erst gegen 18:30 Uhr. Sie muss mit ihrem kleinen Bruder noch zum Zahnarzt. Ihre Eltern haben heute keine Zeit dafür, weil sie arbeiten müssen.“
Die meisten Mitschüler meines Jahrgangs schmissen eine Riesen Party zu ihrem 16. Geburtstag. Ich allerdings hatte meine Tante gerade noch so davon überzeugen können, keine große Sache aus diesem Tag zumachen und höchstens eine kleine Party mit meinen Verwanten zu organisieren. Daher hatte ich nur meine zwei besten Freunde, Josh und Minna, zu einem gemütlichen Filme Abend eingeladen.
Außerdem würde ich heute Mittag zur Feier des Tages noch mit Tante Lissy und Onkel Bennet in einem schicken Restaurant essen gehen.
Ich winkte Josh zu, ging zu meinem Kleiderschrank und zerrte meinen Lieblingskuschelpulli aus dem Klamottenhaufen. Nachdem Onkel Bennet mir gestern die frisch gewaschene Wäsche auf mein Bett gelegt hat, war ich zu faul gewesen die Klamotten zusammen zulegen und hatte sie stattdessen einfach nur in den Schrank gestopft.
Ich zog mir den Pulli über und lief die Treppe hinunter. Auf halbem Weg wehte mir der Duft von Spiegelei und gebratenem Speck um die Nase und auf einmal merkte ich, dass mir der Magen knurrte. Als ich das Esszimmer betrat, saßen meine Tante und mein Onkel bereits am Tisch. Onkel Bennet, der gerade in der Zeitung las, sah hoch. „Da ist ja mein kleiner Sonnenschein. Guten Morgen und alles gute zum Geburtstag.“ sagte er mit strahlenden Augen. Ich umarmte ihn, bedankte mich lächelnd und setzte mich auf meinen Platz. Auf einmal streifte etwas mein Bein. Ein Blick nach unten genügte, um meine Vermutung zu bestätigen. Molly, meine Katze, die ich vor zwei Jahren, zu meinem 14. Geburtstag bekommen hatte, strich um meine Beine, setzte sich direkt neben meinen Stuhl und blickte mich erwartungsvoll an.
Ich beugte mich runter, um sie zu streicheln. Als ich mich wieder aufrichtete, nuschelte Tante Lissy mit vollem Mund: „Vergiss nicht, dass wir um neun Uhr einen Friseurtermin haben.“ Ich nickte, während ich mir eine Gabel mit dem köstlichen Rührei in den Mund schob. „Wenn wir fertig sind, wirst du mit Bennet schon mal zum Restaurant fahren. Ich muss noch etwas abholen“, fuhr sie fort. Auf meine Frage hin, was sie denn abholen müsse, erwiderte sie nichts. Nur ein geheimnisvolles Lächeln umspielte ihre Lippen.
Eine halbe Stunde später waren wir mit dem Frühstück fertig und ich half meinem Onkel den Tisch abzuräumen. Die Haushaltsaufgaben, wie Wäsche waschen oder staubsaugen übernahmen meistens Onkel Bennet oder ich, denn bei Tante Lissy endete es oftmals in Katastrophen. Letzten Monat zum Beispiel hatte sie das Geschirr in der Maschine spülen wollen, da weder mein Onkel noch ich zu Hause waren. Blöderweise waren die Spülmaschinenstabs alle und als Ersatz verwendete sie Spülmittel. Nach dem Einschalten der Maschine fuhr sie zu einer Freundin. Kurze Zeit später kamen Onkel Bennet und ich nach Hause, er hatte mich von schwimmen abgeholt, und fanden den Küchenboden voller Schaum wieder.
Nach diesem Vorfall, hatte mein Onkel Tante Lissy das Verbot erteilt, im Haushalt zu helfen. Woran sie sich bis jetzt auch hielt, außer beim Kochen. Denn das konnte sie hervorragend. Jeden Tag aufs neue tischte sie uns die leckersten Mahlzeiten auf, das Saubermachen allerdings, überließ sie uns.
Nach dem Frühstück war Tante Lissy nach oben ins Badezimmer verschwunden, wie ich am Rauschen des Wassers hören konnte.
Glücklicherweise hatten wir noch eine Stunde Zeit, bevor wir zum Friseur mussten, denn meine Tante brauchte immer mindestens eine dreiviertel Stunde um sich fertig zu machen. Ich dagegen nie länger als 15 Minuten. Selbst dann, wenn ich noch duschen musste.
Nachdem Onkel Bennet und ich mit dem Abräumen und Saubermachen des Geschirrs fertig waren, ging ich hoch in mein Zimmer. Dort warf ich mich in meinen Sitzsack, der direkt neben meinem Fenster lag, schnappte mir mein Lieblingsbuch und fing an zu lesen. Ich war gerade an der Stelle angekommen, in der sich die Hauptpersonen zum ersten mal küssen, und ich unweigerlich daran denken musste, wie es wohl wäre Josh zu küssen, als mein Handy klingelte. Als ich den Bildschirm anmachte, sah ich, dass meine beste Freundin Minna mir eine Nachricht geschrieben hatte: 'Hey Bea. Alles Gute zum Geburtstag. Mach dir einen schönen Tag mit deiner Tante und deinem Onkel. Du musst mir nachher unbedingt erzählen, wie das Essen im Restaurant war. Es soll dort echt nobel und sehr lecker sein. Wenn das stimmt, dann ist es zurecht, das teuerste Restaurant der Stadt.'
Bevor ich antworten konnte, traf schon die nächste Nachricht von ihr
ein: 'Ach ja und noch was... Ich habe gestern einen Brief bekommen, der seltsamer Weise an Josh, dich und mich gerichtet ist.'
Ich runzelte die Stirn, als ich meine Antwort tippte: 'Danke dir. Das werde ich machen. Was für ein Brief? Was stand darin?' 'Weiß ich nicht. Auf dem Briefumschlag stand, dass ich ihn nicht öffnen soll, ohne Beisein von euch zwei. Ich bringe ihn nachher mit. Muss jetzt aufhören.'
Gefühlt tausend Fragen schwirrten mir durch den Kopf, als ich mein Handy weglegte. Was war das für ein Brief? Von wem war er? Und vor allem, was stand darin?