Seit ich Luke kenne, lebt er auf der Straße. Er zieht mit seiner Gitarre durch die Straßen, spielt in Einkaufspassagen, und kauft sich davon sein Essen. Sein blondes Haar ist lang und strubbelig. Manchmal schafft Nico es, es ihm zu schneiden und zu kämmen, aber in den meisten Fällen macht sie es damit nur noch schlimmer. Er ist schlaksig, hat ein schmales Gesicht mit einer ebenso schmalen Nase und müden Augen. Ich weiß noch, wie ich das erste Mal in diese wunderschönen traurigen blaugrauen Augen gesehen habe.
Nico hatte ihn damals angeschleppt. Sie hatte selbst eine Zeit lang auf der Straße gelebt, bevor sie Arbeit bei meinem Bruder gefunden hat, und spricht deswegen oft mit Obdachlosen. Luke ist nur ein bisschen jünger als wir, und er tat ihr wohl Leid, deswegen hat sie ihn mit zu uns genommen. Ich war gerade dabei, ein neues Tattoo-Motiv zu entwerfen, als die beiden durch den Vorhang aus klimpernden Perlenketten traten. Nico flatterte herein, so lässig wie immer, sodass ich es mal wieder fast schade fand, dass sie nicht zumindest ein bisschen bi war. Und hinter ihr Luke. Zusammengesunken, mit hochgezogenen Schultern, der Gitarrenkoffer riesig im Vergleich zu seinem schmächtigen Körper. Er sah sich unbeholfen um, bevor er schließlich den Boden anstarrte, und wäre da nicht sein bestialischer Gestank gewesen, hätte ich ihm wahrscheinlich sofort einen Heiratsantrag gemacht. Okay, das ist nicht ganz die gängige Art, aber ich war damals ganz schön auf Droge.
Nico kam zu mir rüber und baute sich breitbeinig vor meinem Schreibtisch auf. "Das ist Luke", erklärte sie. "Er braucht eine Dusche."
"Das rieche ich", antwortete ich, während ich seinen Namen im Kopf wiederholte. Luke. Ungewöhnlich hier, so schlicht und einfach und... Passend? Ich legte den Kopf schief und betrachtete ihn noch einmal. Das fettige strohblonde Haar hing ihm tief in die Stirn. Die Kleidung war ihm viel zu groß, das Oberteil ging glatt als Kleid durch, und das musste es auch, da er keine Hose und keine Schuhe trug. Er konnte noch nicht lange auf der Straße leben, und er war ohne Vorbereitung dorthin gekommen. Unwillkürlich fragte ich mich, ob er wirklich gar nichts unter dem Pulli...
"Simon", holte mich Nicos Stimme zurück. "Dude, ich habe gleich einen Termin. Kannst du dich bitte um ihn kümmern?"
Mir schossen sofort die wildesten Gedanken durch den Kopf. "Gerne", grinste ich.
Etwas musste in meinem Blick gelegen haben, denn sofort bekam ich eine gescheuert. "Nicht so", wieß Nico mich zurecht. "Hör mal, er ist mir echt wichtig, okay? Fass ihn einmal ohne Zustimmung an, und du bist tot. Wenn du es so nötig hast, hol dir meinetwegen einen Stricher, ich geb dir auch mein Geld dazu."
"Ganz so dringend habe ich es auch wieder nicht", brummte ich, eine dreiste Lüge in meinem Zustand. Aber ich kannte Nico gut genug um zu wissen, dass es klüger war, ihrer Bitte folge zu leisten. Ich stand also auf, knipste die Schreibtischlampe aus und winkte dem Jungen zu. "Na komm, Kleiner", sagte ich. "Die Dusche ist hinten."
In dem Moment sah er mich zum ersten Mal an, und ich verstand sofort, warum Nico darauf beharrt hatte, dass ich ihn nicht anfassen soll. Er hob den Kopf ruckartig, seine Pupillen blitzten zwischen den Strähnen hindurch. Er sah mich mit einem Blick an, als würde er mich am liebsten töten, wenn er nur die Kraft dazu hätte. Wenn er die Kraft hätte, doch die hatte er nicht mehr; die blaugrauen Augen sahen tot aus, fast wie die einer Puppe. Ich bekam eine Gänsehaut und erstarrte, während Luke langsam an mir vorbei schlurfte. Ob es der Moment war, in dem ich mich in ihn verliebt habe? Irgendetwas muss er auf jeden Fall in mir bewegt haben, denn kaum war er an mir vorbei geschlüpft, holte ich ihm ein großes Handtuch, und während er unter der Dusche war, suchte ich ihm auch noch ein paar Klamotten von mir raus. Alte Sneaker, ein zu heiß gewaschenes Shirt, und eine Hose mit Gürtel, denn sonst würde sie bestimmt ständig rutschen. Das alles legte ich ihm vor die Dusche hin und kauerte mich unter das Waschbecken. Dort wartete ich, bis das Wasser abgestellt wurde. Luke schob den Vorhang etwas zur Seite und linst hinaus. "Du", sagte er leise und seine Stimme klang wie gebrochener Sand, der unter den Füßen schmerzte, "Kannst du mir mal das Handtuch geben?"
Ich sah ihn an. Mit den frisch gewaschenen Haaren sah er aus wie eine Meerjungfrau und er duftete nach meinem Shampoo...
"Gut, dann hole ich es mir eben selbst", sagte er nach zwei Wimpernschlägen, stieg aus der Dusche und wickelte sich in das Handtuch ein. "Könntest du bitte aufhören, so zu starren?", fragte er, während er sich langsam trocken rieb.
Erst jetzt fiel mir auf, wie dreist ich mich benommen hatte. Hastig stotterte ich eine Entschuldigung und sah auf die Fliesen unter mir. "Ich habe dir da Kleidung hingelegt", fügte ich stammelnd hinzu.
Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie Lukes Blick erst zu dem Stapel Anziehsachen, dann zu mir schweifte. "Das ist nett", meinte er mit einer wesentlich sanfteren Stimme. "Danke, ...?"
Ich erlaubte mir, wieder zu ihm aufzusehen. In dem großen flauschigen Handtuch eingewickelt sah er ein wenig aus wie ein Schneemann. "Ich heiße Simon", stellte ich mich vor.
Luke lächelte. "Danke, Simon. Und jetzt geh bitte raus, damit ich mich anziehen kann."
Ich hätte die erste Begegnung mit diesem furchtbar süßen Jungen eigentlich nicht mehr vermasselt können. Aber eigentlich war es schon gut so, wie es war. Während ich die Tür hinter mir schloss und in die Küche ging versprach ich mir, dass ich nächstes Mal nicht high sein dürfte.