"Ich will aber kuscheln!", jammere ich und klette mich an Nicos Bein. Es ist angenehm warm und schmiegt sich perfekt an meine Wange.
Ja, ich habe wieder Tabletten geschluckt. Aber davon nur ein oder zwei oder... Um ehrlich zu sein, ich habe nicht mitgezählt. Dieser Moment der Schwäche wird mich später noch ärgern, jetzt ist aber mein größtes Problem, dass Nico schon wieder einen Termin hat und deswegen nicht kuscheln will.
"Dein Pech", knurrt Nico genervt und zerrt mich an den Haaren weg, während sie versucht, mich von ihrem Bein abzuschütteln. Irgendwie mag sie es nicht, zu kuscheln.
"Nur kurz, bitte!", jammere ich und schlinge erneut die Arme um sie.
"Wie ein Kleinkind", stöhnt sie. "Hör mal, wenn du keine Ruhe gibst, kette ich dich wieder an die Heizung! Luke wollte später vorbei kommen, du willst bestimmt nicht, dass er dich so sieht."
Kurz weiß ich nicht, wie ich reagieren soll. Natürlich will ich nicht, dass Luke mich schon wieder high erlebt. Andererseits... "Dann kann er ja kuscheln!"
Mit einem kräftigen Tritt befördert Nico mich an die Wand. Den Schmerz im Rücken spüre ich nur, weil ich irgendwie ahne, dass dieses Aufprallen weh tun müsste. "Du lässt die Finger von ihm!", schimpft Nico. "Du tust nichts mit ihm, was er nicht will!"
Fragend lege ich den Kopf schief. "Ich bin doch kein Vergewaltiger. Ich will nur kuscheln."
"Alles klar." Seufzend lässt Nico ihren Hals knacken und reibt ihn sich, während sie in ihr Zimmer verschwindet. Ich weiß, was das bedeutet und lehne mich resigniert an die Wand.
Kennengelernt habe ich Nico, als ich vor bald fünf Jahren kurzzeitig auf der Straße lebte. Mein Bruder Lewis hat mich kurz darauf zu sich geholt, und irgendwie habe ich Nico mitgeschleppt. Wir kannten uns damals zwar noch nicht lange, aber durch die wenigen Gesprächen, die wir geführt hatten, glaubte ich eine Gleichgesinnte in ihr gefunden zu haben. Und ich behielt Recht: Seitdem sind wir verflucht gut befreundet. Zu gut, denke ich manchmal, denn sonst würde ich ihr jetzt nicht erlauben, mich an die Heizung zu fesseln.
"Kein kuscheln? Nicht mal ein bisschen?", versuche ich es ein letztes Mal, was sie mit einem Kopfschütteln beantwortet.
"Komm erst mal wieder von deinem Trip runter."
Vergeblich zerre ich an den Seilen. "Manchmal hasse ich deinen Fetisch."
"Jaja. Das würdest du nicht sagen, wenn ich auch mal mit dir spielen dürfte."
"Nee, lass mal."
"Dein Pech." Sie zaust mir viel zu kurz die Haare, bevor sie aufsteht. Ich sehe ihr zu, wie sie sich eine zerfranste Jeansjacke überwirft, die immer noch einen Hauch zu viel von ihrem tattooviertem Körper preisgibt. Sie schenkt mir ein liebevolles Lächeln, während sie die Wohnung verlässt. "Jetzt schmoll doch nicht so. Ich bin in einer Stunde wieder da."
"Ich schmolle gar nicht", motze ich zurück, doch da ist die Tür bereits ins Schloss gefallen.
Nico erinnert mich immer ein wenig an eine Schlange, allein, weil sie eigentlich immer grünen Lippenstift trägt und ihren gigantischen Sidecut permanent grün färbt. Außerdem hat sie einige Netzteile, was ihre tattoovierte Haut fast schuppig wirken lässt. Zusätzlich bewegt sie sich immer mit einer präzisen Eleganz, die in manchen Momenten sogar mich an meiner sexuellen Orientierung zweifeln lässt.
Man muss ihr aber zugute halten, dass sie keine Giftschlange ist. Zwar fährt sie manchmal ihre Zähne aus, um bedrohlich zu wirken, aber eigentlich ist sie harmlos. Sie ähnelt schon viel eher einer Würgeschlange, denke ich mit einem Grinsen. Nähert sich ihrem Opfer behutsam, umgarnt es, bis es nicht mehr fliehen kann. Und wenn das arme Ding schließlich merkt, in was für einer Situation es sich befindet, ist es bereits zu spät. Dann kann es bereits nicht mehr fliehen, ist fest umschlungen, bis Nico sich dazu entscheidet, es wieder gehen zu lassen. Ihr gefällt diese Macht über eine Person. Allerdings ist es ihr wichtig, dass ihre Liebhaberinnen sich freiwillig auf sie einlassen. Wehren sie sich zu sehr, lässt sie sie von alleine gehen. Immerhin hat sie Prinzipien.
Verglichen mit Nico stolpere ich mehr schlecht als Recht durchs Leben. Die Realschule habe ich verlassen müssen, weil ich einfach zu faul zum Lernen war, die Hauptschule habe ich aus demselben Grund abgebrochen. Meine Familie ist ein Trümmerhaufen; Kontakt habe ich nur noch zu Lewis. Dieser hat mir die Ausbildung angeboten, wozu er mich ebenfalls drängen musste. Mein damaliger Freund hat mich dazu überredet, zu ihm zu ziehen, und als wir uns getrennt haben, war er es, der ausgezogen ist. Ich bin hier geblieben, offensichtlich. Ich habe nichts aus eigenem Antrieb geschafft. Meine Tattoos sind angeberisch und überflächlich, nur dort platziert, wo jeder sie gut sehen kann. Und mein Undercut ist ebenfalls viel zu lang. Wäre Nico nicht, wäre ich wahrscheinlich längst verkommen. Irgendwie schafft sie es, auch mich mit ihrem Durchhaltevermögen über Wasser zu halten. Durch sie habe ich meine Leidenschaft fürs Zeichnen endlich zugelassen, dank ihr traue ich mir zumindest ein bisschen mehr zu.
Die Lampe im Flur flimmert. Ganz langsam merke ich, wie die Wirkung meiner Tabletten nachlässt. Ich beobachte die Schattenspiele einer halbvertrockneten Pflanze. Nur zu gern würde ich dem armen Ding jetzt etwas Wasser geben, aber ich bin ja angekettet. Wahrscheinlich auch besser so, ansonsten würde ich heulend zu Nico rennen. Tatsächlich spüre ich, wie mir gerade Tränen hochkommen. Wahrscheinlich bin ich nur eine Belastung für sie, für meinen Bruder, für alle... Frustriert lasse ich den Kopf auf meine Knie sinken, wodurch sich meine Schultern unangenehm anspannen. Egal. Hauptsache, es sieht mich niemand weinen. Andererseits ist auch niemand da. Ich bin ganz alleine hier im Flur, niemand ist da, um mich zu trösten. Und ich kann nicht anders, als in Selbstmitleid zu versinken.
"Scheiße, das war kein Scherz!?"
Ruckartig fahre ich hoch. Luke steht in der Tür. Er wirkt unschlüssig, ob er lachen darf, schockiert sein soll, die Tür zumachen oder mir helfen soll. Von mir aus alles. Innerlich verfluche ich Nico, dass sie sich nicht selbst hier hoch bequemt und stattdessen den Typen schickt, vor dem ich mich am allerwenigsten blamieren will. Schließlich ist seine Meinung von mir noch nicht komplett im Arsch.
Gefühlte Minuten lang starren wir uns an. Keiner weiß so Recht, was er tun soll. Bis ich schließlich kleinlaut sage: "Hi."
Luke muss leise lachen. "Hallo", erwidert er und kommt rein. "Bequem so?"
"Sieht es so aus?"
"Nein. Überhaupt nicht."
"Kannst du mich dann bitte losbinden?"
Er blinzelt kurz verwirrt. "Eh, ja, sicher." Als wäre das noch überhaupt keine Option für ihn gewesen, kniet er sich neben mich und sieht sich Nicos kreative Knotenkunst an. Ein, zwei mal zieht er an irgendwelchen Enden vom Seil, bis er resigniert seufzt. "Das tut mir jetzt schon ein wenig Leid", sagt er entschuldigend. Ich höre etwas hinter meinem Ohr schnappen.
"Was hast du vor?", frage ich noch panischer, als ich das Blitzen einer Klinge im Augenwinkel wahrnehme. Irgendetwas in meinem Inneren weiß, dass es eine unbegründete Furcht ist, schließlich ist es nur Luke, doch durch das Ecstasy nehme ich alles viel extremer wahr.
"Dich losschneiden. Keine Sorge, ich hatte jetzt nicht vor, dich irgendwie zu verletzen." Ein leises Sägen dringt von meinen Handgelenken zu mir hinauf.
"Nico wird dich umbringen", sage ich wesentlich ruhiger, obgleich mir die Aussicht auf Lukes Tod auch nicht wirklich gefällt.
"Soll sie doch. Selbst Schuld, sie hat mir schließlich nicht gesagt, wie ich den Knoten lösen soll."
Inzwischen kann ich meine Handgelenke wieder bewegen. "Danke", lächele ich und reibe die schmerzenden Stellen.
Luke klappt indes sein Klappmesser wieder zusammen und steckt es in seine viel zu große Hose. "Warum hat sie dich denn hier festgebunden?"
"Ich habe genervt", antworte ich und strecke mich ein wenig. Gosh, tut es gut, sich wieder frei bewegen zu können!
"Aha", antwortet Luke und setzt sich mir gegenüber an die Wand.
Eine Weile lang schweigen wir. Ich würde ihn gerne so einiges fragen, wo er herkommt, warum er auf der Straße lebt, wie lange das schon so ist, wie alt er ist, ob sich seine Eltern nicht sorgen, ob er kuscheln will. Aber fast all diese Fragen würden eine Grenze überschreiten. Sie könnten schmerzvolle Erinnerungen wecken, die besser vergraben bleiben sollten. Gerade ich sollte das wissen. Also frage ich das einzige, was mir von meinen Optionen noch am Neutralsten erscheint: "Kuscheln?"
Für einen Augenblick wirkt Luke wie versteinert. Habe ich jetzt doch etwas Falsches gesagt? Aber wie kann an Kuscheln etwas falsch sein? Es ist warm und liebevoll und weich und warm... Doch meine Sorgen werden Beiseite gefegt, als Luke sich erhebt und neben mich setzt. Unsere Oberarme berühren sich leicht und ein leichtes Kribbeln durchfährt die Stelle. Dann fällt mir ein, dass Nico mir verboten hat, ihm zu Nahe zu kommen. Zählt das schon? Schließlich hat er nicht nein gesagt. Verunsichert bleibe ich so sitzen. Es ist schon schön, wenn ich ihm nur ganz wenig Nahe sein kann.
"Simon?", murmelt Luke irgendwann. Seine Stimme ist so leise, dass ich ihn überhört hätte, wenn es nicht das einzige Geräusch in diesem Flur gewesen wäre.
"Ja?", antworte ich und meine Stimme ist heiser.
Luke setzt sich auf. Es ist deutlich zu spüren, dass er nicht sicher ist, ob er die nächsten Worte wirklich aussprechen soll. "Simon, ich ... brauche deine Hilfe."
"Wobei?", frage ich sofort, wie aus der Pistole geschossen. Wenn es nur irgendeine Möglichkeit gibt, ein wenig echte Freude in die traurigen Augen dieses Jungen zu zaubern, werde ich sie ergreifen.
"Also, das muss wirklich nicht sein, es ist nicht schlimm, wenn du nein sagst." Er verhaspelt sich, wie niedlich. "Ich weiß auch nicht, ob du wirklich die richtige Person bist, oder ob ich nicht lieber jemand anderen fragen soll, aber..."
"Sag es einfach", unterbreche ich ihn. Die Schmerzen im Rücken kommen langsam hoch, aber ich schiebe sie zur Seite. Es gibt wichtigeres.
Luke zögert einen Moment, sammelt seine Kraft, bevor er schließlich mit entschlossener Stimme sagt: "Ich möchte meine Eltern wiederfinden."