"Ich weiß nicht, ob ich dir da wirklich helfen kann", sagte ich, nachdem ich mich endlich ein wenig gesammelt hatte. Es war klar, dass er Probleme in der Familie hatte, ansonsten würde er wohl kaum auf der Straße gelebt haben, aber dass es so schlimm war, dass er nicht einmal wusste, wo seine Eltern gerade steckten, hatte ich nicht gedacht. Ehrlich gesagt, hatte ich überhaupt nicht darüber nachgedacht.
Luke starrte die Fliesen auf dem Boden an. "Ist okay. Vergiss es." Er wirkte verloren. So zusammengesunken, schmächtig in viel zu weiten Klamotten, die ich ihm geliehen hatte, erinnerte er mich fast an ein vernachlässigtes Kind. Wie nennt man solche Kinder noch einmal? Wolfskinder? Ich weiß es nicht.
"Jetzt resignier mal nicht sofort. Es gibt bestimmt einen Weg.", lächelte ich aufmunternd und stand auf. Es fühlte sich gut an, wieder seine Gelenke bewegen zu können. "Weißt du was, ich mache uns einen Tee, während du dir etwas frisches anziehst. Kannst auch duschen gehen, wenn du möchtest. Komm erst mal auf andere Gedanken."
Wie eine Holzpuppe, die gerade wieder zum Spielen aufgenommen wird, klappte er sich beim Aufstehen auseinander. "Ist gut", murmelte er geknickt und schlurfte in mein Zimmer, ohne sich umzudrehen.
Traurig verzog ich den Mund, während ich in die Küche ging. Es war nicht schön zu sehen, wie betrübt er war. Ich kann es ohnehin nicht ausstehen, wenn jemand in meiner Gegenwart traurig ist. Schlecht gelaunt - okay. Damit komme ich klar. Aber mit Traurigkeit bin ich überfordert. Jetzt konnte ich nur hoffen, dass ihn eine warme Dusche und eine dampfende Tasse Tee zumindest ein wenig aufheiterte, ansonsten wäre ich wirklich überfragt und müsste Nico fragen. Zumindest hätte mich das als den Menschen dargestellt, der ich tatsächlich war: Nicht absolut fähig, eine Stütze darzustellen, geschweige denn, Verantwortung zu tragen. Ein totaler Nichtsnutz.
Über das Brodeln des köchelnden Wassers im Topf mischte sich ein leises Rauschen, das aus dem Badezimmer kam. Gut so. So sehr ich Luke auch mag, ich konnte nicht leugnen, dass er gemüffelt hatte. Als ich gerade zwei Teebeutel in das Wasser hängte, hörte ich ein Klacken im Türschloss. Offensichtlich war Nico da. Sollte mir Recht sein, dann konnte sie mir wenigstens mit Luke und seiner wahnwitzigen Idee helfen.
"Hallo, Schnucki", flötete Nico gerade, als sie breit grinsend den Kopf durch die Küchentür steckte.
Ich konnte mir ein leise gehüsteltes Lachen nicht verkneifen. So fröhlich hatte ich sie lange nicht mehr gesehen. "Okay, wen hast du da bei dir?"
"Geheimnis", sang sie laut, formte aber im Nachhinein mit ihren Lippen ein ganz anderes Wort: Jessica.
Ich lächelte ihr zu und reckte befürwortend meinen Daumen in die Luft, hoffte aber gleichzeitig insgeheim, dass Nico mir nicht meine beste Kundin verjagt. Wäre nicht das erste mal.
"Machst du mir nachher auch einen?", fragte sie gerade mit einem Nicken Richtung Topf. "Mit Zitrone aber."
"Klar", antwortete ich. Was auch sonst. "Hab du erst mal deinen Spaß mit wem auch immer." Amüsiert zwinkerte ich ihr zu.
Nico warf mir eine Kusshand zurück und verschwand in ihr Zimmer. Präventiv wünschte ich mir mal wieder, dass die Wände zumindest ein wenig schallisolierender wären. Naja, aber was will man auch von einer Billigwohnung erwarten.
Der Tee hatte inzwischen lang genug ziehen können, so beschloss ich es zumindest aus Ungeduld, also füllte ich ihn vorsichtig in zwei Tassen um und stellte die Flamme des Herdes runter. Wir waren noch immer in Besitz eines alten Gasherdes, wofür ich sehr dankbar war. Auf diese Weise musste ich zumindest in der Wohnung nicht immer mein Feuerzeug aus dem Chaos in meinem Zimmer suchen, wenn ich gerade das Bedürfnis zum Qualmen hatte.
Jetzt, da das ohrenbetäubende Geräusch vom Wasser verklungen und nur noch leises Kichern aus dem Zimmer nebenan zu hören war, fiel mir auf, dass auch die Dusche aus war. "Luke?", rief ich leise. Er war schon eine ganze Weile weg. Wie ich ihn kannte, war er sehr sparsam und würde nicht länger als fünf Minuten brauchen. "Luke?", rief ich nochmal und ging aus der Küche zum Badezimmer. "Alles in Ordnung da drin?", fragte ich und klopfte vorsichtig an, wobei die Tür mit einem leisen Seufzen ein paar Millimeter weit aufschwang. Hatte er nicht abgeschlossen? "Ich komme jetzt rein", warnte ich ihn, wollte ihm zumindest die Chance geben, sich zu bedecken, bevor ich die Tür ganz aufschob. Diesmal mischte sich ihr Seufzen mit dem von einer der Frauen aus dem Nebenzimmer.
Was ich erblickte, ließ mich erstarren. Das Badezimmer war leer. Kein Luke, keine Gitarre; nur die Kleidung, die ich ihm geliehen hatte, lag ordentlich im Waschbecken, weil nirgendwo sonst Platz war. Das Fenster stand sperragelweit offen. Wie aus einer Starre erlöst stürzte ich hin. "Luke!", rief ich. Ist er gesprungen? Die zwei großen Schritte kamen mir wie eine Meile vor und ich fiel fast selbst aus dem Fenster, als ich hart gegen die darunter liegende Heizung prallte. Panisch sah ich mich um. Ist er aus dem Fenster gesprungen? Hatte ich ihm mit meiner Abweisung so sehr zugesetzt? Doch unten auf dem Bürgersteig war alles so wie sonst auch. Kein blonder Wuschelkopf, kein aufgeschlagener Schädel, kein lebloser Körper. Nur der staubige Gehweg mit den herumflatternden Zeitungen und zertretenen Bierdosen. Wie sonst auch. Es war kein Luke mehr hier, in keiner Weise. In der Dusche perlte das Wasser vom Vorhang.
Ich warf mir eine Pille ein, um die Gedanken und Vorwürfe, die in meinem Kopf kreisten, zu ersticken. Doch stattdessen wurde mein Bedürfnis, Luke in meine Arme zu schließen und für immer festzuhalten und zu beschützen nur noch stärker. Zu Nico konnte ich jetzt auch nicht, also kuschelte ich mich an mein Kissen und rollte mich auf meinem Bett zusammen. Selten hatte ich mich so alleine gefühlt wie in diesem Moment.
Das einzige, was mir an diesem Abend Trost spendete, war ironischerweise, dass auch Nico kein Glück gehabt hatte. An irgendeinem Punkt war sie wohl zu weit gegangen, hatte irgendetwas falsches gemacht oder gesagt, woraufhin Jessica fluchend die Wohnung verließ. Ich hörte nur dumpfes Geschrei, Beschimpfungen, Entschuldigungen, Flehen von Nico, dann das Knallen der Tür. Wenige Minuten später kuschelte sie sich zu mir. Ich ließ sie weinen, den Arm tröstend durch ihr Haar streichelnd. Sie hatte Jessica wirklich sehr gern gehabt, doch nach diesem mehr als bloß deprimierenden Abend haben wir sie eine lange Zeit nicht mehr wieder gesehen.