"Was soll das heißen - Er ist einfach abgehauen?", fragte Nico am nächsten Morgen ungläubig. Ihr Makeup an den Augen war verschmiert und hinter ihrem knallgrünen Lippenstift konnte man ihre schmalen, blassen Lippen erkennen. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich irgendwie zu waschen.
Fahles Morgenlicht schien durch das verdreckte Fenster in der Küche. Ich sah hinaus. Unten war es noch ruhig, nur ab und zu huschte eine Gestalt über den kühlen Boden. Es würde ein frischer Tag werden, und ich fragte mich, ob Luke frieren würde. "Jep", antwortete ich knapp. "Er war weg, genau wie seine blöde Gitarre und meine Klamotten." Frustriert trommelte ich auf den freien Centimetern der Küchenablage herum, wo sich nicht das dreckige Geschirr bis zur Decke stapelte. Wir mussten dringend mal aufräumen. Letzte Woche hatte ich eine Ratte in einer alten Chips-Tüte gefunden. Nico hatte darauf bestanden, sie zu behalten, und jetzt bekomme ich im Wohnzimmer Paranoia.
"Tut mir echt leid", sagte Nico und schenkte sich etwas Kaffee nach. Ein starker Kaffee, der fast an Espresso grenzte. Ich musste ihn mir immer mit Milch verdünnen. "Ich hätte nicht gedacht, dass er so ist."
"Ich auch nicht." Unten wurde es allmählich voller. Die ersten Menschen hetzten von den Bahnhöfen und Busstationen die Straße hinunter. Ich fragte mich, wohin sie wohl gingen. Nach ein paar Minuten wandte ich mich gelangweilt ab und sah Nico fragend an. Sie sollte mir helfen, immerhin hatte sie mir das auch eingebrockt. Mehr oder weniger. Doch sie lehnte sich nur auf ihrem Stuhl zurück und starrte die Decke an. Das Ticken der Uhr wurde ohrenbetäubend.
Die nächsten Wochen zogen sich dahin wie ein alter geschmacksloser Kaugummi. Im Laden gab es wenig zu tun, und die Kunden, die gerade da waren, betreute meistens Nico. Sie versuchte, sich mit allem möglichen von Jessica abzulenken. Manchmal fragte sie mich sogar, ein paar Tabletten von mir haben zu können. Der Herbst zog mit rauschenden Stürmen, die getrocknete Blätter durch die erkaltenden Straßen wirbelten, an uns vorbei, und nach einer sehr ermüdenden und frustrierenden Halloweenparty erhielt auch schon der Winter Einzug in unsere Stadt. Er kam schleichend, mit ein paar überraschend warmen Tagen, bevor vereinzelte Schneeflocken fielen und sich Eisblumen an den Autofenstern bildeten. Obwohl es eine sehr stille Zeit war, in der die Worte noch im Hals gefroren und unausgesprochen blieben, schlief Nico sehr oft bei mir und wenn sie es nicht tat, hörte ich sie durch die dünne Wand weinen. Einmal wollte ich zu ihr hinübergehen und sie umarmen, sie irgendwie trösten, doch sie hatte mich nur hinausgeprügelt, an mein Bett gefesselt und mich als "beschissenen Junkie" bezeichnet (obwohl ich an dem Abend nichts genommen hatte), bevor sie wutentbrannt wieder zurück in ihr eigenes Zimmer lief. Sie hatte größeren Liebeskummer, als sie zugeben wollte. Nicht, dass es mir sehr viel anders gehen würde; Ich erwischte mich oft dabei, wie ich aus dem Fenster starrte und mich fragte, wie es Luke wohl ginge, ob ihm kalt wäre; wie ich mir vorstellte, er würde gleich in den Laden kommen mit diesem zusammengesunkenen Rücken und vor Furcht geweiteten Augen. Ich fragte mich noch immer, was sie wohl hatten sehen müssen... Doch er kam nicht.
Am Anfang des Dezembers verschwand mit dem warmen Sonnenschein auch Luke endlich fast aus meinen Gedanken. Auch Nico schien es langsam besser zu gehen; Immer öfter brachte sie irgendwelche Mädchen aus irgendwelchen Bars und Clubs mit nach Hause, die am nächsten Morgen wieder verschwanden. Und ich schluckte wieder mehr Tabletten, sodass ich eigentlich die gesamte Zeit zugedröhnt war. Es war also alles beim alten, im tiefen Dezember, als ein schmächtiger blonder Junge die Tür zum Tattoostudio aufdrückte.
Er trug noch immer die Klamotten, die ich ihm vor fast drei Monaten gegeben hatte und zitterte fürchterlich in ihnen. Sie waren durchnässt vom Schnee und eindeutig abgetragen. Genau genommen konnte man sie bereits wegwerfen, so abgewetzt sahen sie aus. Er war so still, dass ich ihn fast nicht bemerkt hätte, hätte er nicht laut nach Nico gerufen. Ich zuckte bei seiner überraschend lauten Stimme zusammen. Er sah wirklich nicht gut aus. Sein Haar war länger geworden und noch filziger als letztes Mal.
Er sah mich aus seinen weit aufgerissenen Augen an, sah wieder weg, war anscheinend unsicher, ob er mich ansehen dürfe. Letztendlich entschied er sich dazu, beschämt den Boden anzustarren.
Ich konnte nicht anders, als ihn unablässig anzuschauen. All die Gefühle, die ich glaubte im September zurückgelassen zu haben, kamen wieder hoch: Zunächst Enttäuschung, dann Angst und Wut und letztendlich Erleichterung und das alles auf einmal. "Gott, Luke", keuchte ich und stürzte hinter der Theke hervor um die letzten Meter zu ihm zu überwinden, bremste aber wenige Millimeter vor ihm, als mir einfiel, was Nico über ihn gesagt hatte. Verkrampft nestelte ich am Saum meines Tanktops herum. Eine Milliarde Gedanken schossen wie Pfeile durch meinen Kopf, bis sie sich in einem Gedanken bündelten: "Wo warst du?", fragte ich mit erstickter Stimme.
Luke sah zu mir auf. Ich konnte seinen schnellen Atem auf meiner Brust spüren und erst jetzt fiel mir auf, dass seine Augen gerötet waren und seine Unterlippe bebte. Er hatte geweint und jetzt, da er mich ansah, hatte ich das Gefühl, dasselbe tun zu müssen. Er schluckte schwer. "Ha-hallo, Simon", stotterte er, "Darf... Darf ich eine Tasse Kaffee haben?"
Meine Güte, war er süß. Obwohl er mehr als bloß unangehm roch und seine Kleidung feucht von Schweiß und Schnee war, konnte ich mich nicht länger zurückhalten und drückte ihn an mich. Ganz fest, damit er nie wieder einfach so abhauen konnte. Damit ich ihn nie wieder vermissen müsste. Ich hatte nicht vor, ihn jemals loszulassen. Von mir aus hätte ich ihn ewig umarmen können, seinen schmalen Körper an meinen pressen, bis ich tot bin. Ich war einfach nur glücklich in dem Moment, so glücklich, dass ich nicht bemerkte, wie Luke panisch umher blickte und hilflos versuchte, sich aus meinem Griff zu befreien. "Wo ist Nico?", piepste er viel zu früh heiser und startete einen letzten hilflosen Versuch, mich von sich zu drücken. Dieses mal ließ ich ihn auch widerwillig los.
"Sie ist... Beschäftigt", antwortete ich ausweichend. Ich glaubte nicht wirklich, dass die Wahrheit angemessen war für ihn.
Luke sah mich erstaunlich gelassen an. "Sie hat gerade Sex, oder?"
"Exakt."
Unbehagliches Schweigen. "Sie... Kommt bestimmt gleich runter." Obwohl es mir lieber gewesen wäre, wenn Luke mit mir Vorlieb genommen hätte. Worum auch immer es sich handelte.
"Kaffee?", wagte er sich noch einmal vor.
Leicht enttäuscht darüber, dass er Nico anscheinend lieber hatte als mich, antwortete ich: "Dusch erst mal. Kannst dir neue Anziehsachen aus meinem Schrank holen, währenddessen koche ich dir deinen Kaffee."