Ich versteifte mich etwas, unsicher, was ich tun sollte. Alles in mir schrie danach, sich darauf einzulassen, immerhin war es Luke, der gerade die Initiative ergriff. Andererseits wollte ich ihn nicht ausnutzen. Hatte ich ihm das Gefühl gegeben, irgendetwas tun zu müssen? Von mir aus musste Luke gar nichts tun, außer mich vielleicht ab und zu mal anzulächeln. Das reichte mir vollkommen.
Wer‘s glaubt.
Luke lehnte sich an mich, nicht feste, seine Hüfte war mehr wie der zarte erste Sonnenstrahl im Frühling, doch seine Hand schob sich selbstbewusst tiefer. Noch schwebten seine Finger ganz dicht über mir, doch bevor er irgendetwas weiteres tun konnte, schaffte ich es, meine Starre zu lösen und umfasst sein Handgelenk.
„Du musst das nicht tun“, sagte ich leise. Meine Stimme klang erstickt und heiser.
Verwirrt drehte Luke seine Hand um, um die meine zu streicheln. „Aber du hast so viel für mich getan?“
Ich löste meinen Griff und verschränkte meine Finger mit ihm. „Keine Ahnung“, gab ich zu. Natürlich hatte ich ein paar Dinge getan, hatte ihm alte Klamotten gegeben und so, aber das war alles nicht der Rede wert. „Aber selbst wenn, ich erwarte keine Gegenleistung. Erst recht nicht so etwas.“ Ein Teil von mir wollte mich am liebsten ohrfeigen für diese Worte.
Luke drückte meine Hand kurz, aber fest. Er schien überlegen zu müssen, bevor er die nächsten Worte sprach. „Danke“, flüsterte er schließlich erleichtert und ein unfassbar riesiges Glücksgefühl strömte durch mich hindurch. Seltsam, dass ich bisher immer gedacht hatte, dass ich solche Gefühle für Luke nicht zulassen durfte, dabei war es warm und wundervoll. Wie konnte ein solches Gefühl schlecht sein? Ein leises Lachen entfuhr mir. Das war so viel besser als alles, was ich mir hätte vorstellen können.
Einen Arm um ihn legend setzte ich mich auf. Es ging jetzt nicht um mich. „Luke“, sagte ich vorsichtig. Ich wollte ihn auf keinen Fall verschrecken, erst recht nicht jetzt. Ich spürte eine immense Verbindung zwischen uns, die ich unter keinen Umständen zerstören wollte. „Warum bist du ausgerechnet heute wiedergekommen?“
Lukes Lächeln gefror. „Wie meinst du das?“, fiepste er. Seine Stimme klang trocken und seine Augen fixierten einen unbestimmten Punkt auf dem Boden. „Ich habe euch halt vermisst.“ Die Lüge war offensichtlich.
„Du hast geweint, bevor du reingekommen bist“, stellte ich fest. „Was ist passiert?“ Sanft strich ich ihm eine Strähne aus dem Gesicht. Ich wollte am liebsten alle Trauer und allen Schmerz von Lukes Schultern wegnehmen, doch dazu musste ich wissen, was ihn bedrückte.
Luke zuckte zusammen bei der Berührung. Er schwieg. „Nico“, murmelte er irgendwann.
Seufzend nickte ich. „Du willst es ihr erzählen. Verstehe.“ Enttäuscht stand ich auf. Wahrscheinlich hatte ich mir doch nur eingebildet, dass da etwas zwischen Luke und mir lag. Ich war für ihn wirklich nur der Typ, von dem er ein paar Klamotten bekam, wenn die alten verschlissen waren.
Etwas zog an meinem Shirt. „Ich will es euch beiden erzählen.“ Seine Stimme zitterte, so als ob er gleich wieder weinen würde. „Ich weiß nicht, ob ich das zwei Mal hinbekomme.“
Verkniffen presste ich die Lippen zusammen und wuschelte ihm durch die Haare. „Du wirst dich aber erst bei ihr entschuldigen müssen.“
Luke nickte heftig. „Tut mir leid“, wimmerte er. Ich antwortete nichts darauf. Es hätte nichts gebracht.
Um sich die Zeit zu vertreiben, entschied Luke, dass der Flur definitiv noch nicht sauber war. Er saugte also wieder und zwang mich dazu, die alten Pizzakartons, Getränkedosen und Chipstüten aus dem Wohnzimmer zusammen zu räumen. Seltsamerweise fand er immer noch ein paar, als ich glaubte, fertig zu sein. Als wir beinahe mit dem Wohnzimmer fertig waren, drehte sich ein Schlüssel in der Wohnungstür um. „Haben wir Bier da?“, schallte Nicos Stimme durch die Wohnung, noch bevor sie eingetreten war.
Aufmunternd schubste ich Luke in den Flur. „Entschuldige dich“, flüsterte ich ihm zu, „das wird schon.“
Mehr schlecht als recht stolperte Luke auf Nico zu und sagte leise: „Eins ist noch im Kühlschrank in der Tür ganz unten.“
Nico verharrte in ihrer Bewegung. Bis jetzt hatte sie ihren Freund noch gar nicht wahrgenommen. Langsam musterte sie ihn von Kopf bis Fuß und wieder zurück und langsam, ganz langsam, stahl sich ein selbstsicheres Grinsen auf ihren Mund. „Wie bitte?“, grinste sie und ich musste aufpassen, nicht laut loszulachen. Es wirkte einfach nur lächerlich auf mich, wenn sie versuchte, bei einem Mann die Domina raushängen zu lassen. „Wie heißt das richtig?“ Mit der Ferse kickte sie die Tür zu. Schlangenartig – präzise und schnell.
Nervös trat Luke von einem Fuß auf den anderen. „Tut mir leid, was ich vorhin zu dir gesagt habe. Ich meinte es nicht so.“
Augenblicklich schlossen sich Nicos Arme fest um Lukes schmalen Körper. „Vergeben und vergessen“, schluchzte sie, „Aber hau bloß nie mehr einfach so ab!“
Luke erwiderte die Umarmung leicht und lehnte sich an sie. „Können wir reden?“, fragte er leise, nachdem sie sich voneinander gelöst hatten.
Sofort wurde Nicos Gesichtsausdruck ernst. Über Lukes Schulter hinweg sah sie mich an und sagte: „Lässt du uns kurz allein?“
„Nein“, rief Luke, noch bevor ich die Frage registrieren konnte. „Er muss es auch hören.“ Mir wurde ganz warm und kribbelig.
Nico hingegen warf frustriert die Arme in die Luft. „Schön“, rief sie, „ich bin also nicht mehr deine Lieblingsperson hier.“ Lachend ging sie in die Küche und setzte Wasser auf. Luke und ich folgten ihr mehr oder minder verwirrt und während ich mich setzte, zog Luke es vor, sich an die Küchenzeile neben Nico zu lehnen. „Dann erzähl mal, Herzchen“, sagte sie mit der nötigen Ernsthaftigkeit, nachdem sie uns allen einen Tee zubereitet hatte.
Nervös kaute Luke auf seiner Lippe herum, während er sich hinter der viel zu großen Tasse versteckte. Stille breitete sich im Raum aus, drückend und schwer wie der Stein, der in Lukes Kehle sitzen musste. Man sah ihm an, dass er mit jedem Wort zu kämpfen hatte. „Ich habe ihn wiedergesehen“, murmelte Luke.
Nicos Gesicht versteinerte sich. „Wie jetzt, wurde er nicht eingebuchtet?“
Luke schüttelte den Kopf. „Ich glaube, er stand nicht einmal vor Gericht“, flüsterte er erstickt.
„Hat er dich gesehen?“, fragte Nico, die ihre Tasse zur Seite stellte und Luke in den Arm nahm. „Er wird dir nichts tun, keine Angst. Nie mehr.“
Ich war wohl als einziger verwirrt. „Könnt ihr mir mal erklären, was los ist?“, bat ich aggressiver als ich wollte.
Nico ließ Luke los, nur noch eine Hand lag locker auf seiner Schulter. „Willst du es ihm sagen?“
Luke nickte und starrte wieder einen Punkt auf dem Boden an. „Meinen Entführer“, sagte er schließlich mit einer Stimme, die so dünn wie frisches Eis war. „Er hat mich auf dem Heimweg von der Schule mitgenommen, als ich elf war. Er hat…“ -er musste eine Pause machen, in der er sich an die Stirn fasste- „Vor einem Jahr ungefähr konnte ich fliehen. Seitdem lebe ich auf der Straße.“ Schluchzend vergrub er sein Gesicht in Nicos Schulter. „Ich will nicht daran denken müssen, was passiert ist! Ich will ihn nicht sehen! Ich will nicht, will nicht…“ Die letzten Worte waren ein einziges Wimmern.
Nico strich ihm in einer beruhigenden Geste sanft über den Rücken. „Luke und ich haben zwar zusammen Anzeige erstattet, aber wir haben seitdem nichts mehr davon gehört. Irgendwann ist es auch egal geworden.“
„Ich wollte es vergessen“, murrte Luke leise.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Es war klar gewesen, dass Luke nicht ohne Grund obdachlos war, aber ich hatte mir nie wirklich konkrete Gedanken darum gemacht, warum es so war. Umso heftiger war es zu erfahren, was ihm passiert war. Luke sah aus, als wäre er ungefähr achtzehn Jahre alt, also vielleicht drei Jahre jünger als Nico und ich es waren. Sechs Jahre musste er folglich in Gefangenschaft verbracht haben. Sechs Jahre seiner Jugend, die er nicht zurückbekommen würde, in denen er wer-weiß-was ertragen musste, und jetzt versuchte er nur noch, zu überleben. Kein Wunder, dass er heute so komisch war, wenn er seinen Peiniger gesehen hatte. All die Gedanken und verdrängten Gefühle mussten wieder hochgekommen sein. „Du bist hier in Sicherheit“, sagte ich schließlich, obwohl es mir albern vorkam. Nach einem fragenden Blick zu Nico fügte ich hinzu: „Möchtest du vielleicht hier einziehen? Wir können dich beschützen und du müsstest ihn nie wieder sehen.“
Lukes Lachen übertönte Nicos abfälliges Schnauben. „Danke“, hauchte er schließlich, „aber ich bin zufrieden so, wie es ist.“
Nico zuckte mit den Schultern. „Ich habe ihn auch schon gefragt.“
Amüsiert verzog ich meinen Mund. „Soso, du hast ihn also, ohne mir Bescheid zu geben, dazu eingeladen in meiner Wohnung zu leben?“
„Erstens: Das ist genau genommen Lewis Wohnung. Und zweitens hast du ihn gerade selbst gefragt, also wo ist das Problem?“ Nico nahm einen Schluck aus ihrer geblümten Teetasse, während Luke sich auf einen Stuhl setzte. „Aber ich fände es auch gut, wenn du heute hier schlafen würdest, Luke. Du bist aufgewühlt und ich will nicht riskieren, dass du draußen etwas dummes tust.“
„Es macht doch keinen Unterschied, ob ich heute hier schlafe oder nicht!“, beschwerte sich der blonde Junge, nachdem er sich über die Augen gewischt hatte. „Ich könnte auch morgen etwas dummes tun!“
„Dann behalte ich dich eben hier“, knurrte Nico verspielt und kitzelte ihn am Bauch.
Ich wünschte, ich hätte einen so engen Kontakt zu Luke. Im Gegensatz zu Nico würde ich mich niemals trauen, ihn so zu berühren – Oder überhaupt zu berühren. Jede Versuch, Nähe zu ihm zu zeigen, war bisher immer ein kleiner Kampf mit mir selbst. Er war so klein und zerbrechlich und dieser Eindruck verstärkte sich nach den gesagten Worten nur. „Du kannst in meinem Bett schlafen“, schlug ich schließlich vor. „Ich penne dann auf der Couch.“
„Nicht nötig“, wollte Luke sagen, doch bei Nicos strengem Blick unterbrach er sich selbst und korrigierte sich: „Danke.“